Lee Yaron hat für ihr Buch „Israel, 7. Oktober“ mit Überlebenden und Hinterbliebenen des Anschlags gesprochen. Ein Gespräch über das Erinnern an die Toten, den sinnlos fortgesetzten Krieg in Gaza und Freunde, die plötzlich zum Mord aufrufen
Lee Yaron, Journalistin bei Haaretz und Autorin
Foto: Uri Bareket
Für ihr Buch Israel, 7. Oktober hat Lee Yaron mit Überlebenden und Hinterbliebenen des Hamas-Anschlags gesprochen: Bewohnern der überfallenen Kibbuzim, nepalesische Gastarbeiter, arabische Israelis. Entstanden ist ein vielschichtiges Porträt eines verwundeten Landes. Es erschien vergangenen Herbst auf Englisch, Deutsch, Französisch und Niederländisch. Seither stellt sie es auf zahlreichen Buchvorstellungen vor. So auch vorige Woche im Literarischen Colloquium Berlin, wo wir uns zum Gespräch treffen.
der Freitag: Frau Yaron, die englische Fassung ihres Buches trägt den Titel „10/7“, was an 9/11 denken lässt. Würden Sie sagen, dass der 7. Oktober 2023 für Israel eine ähnliche Bedeutung hat wie der 11. September für d
11 denken lässt. Würden Sie sagen, dass der 7. Oktober 2023 für Israel eine ähnliche Bedeutung hat wie der 11. September für die Vereinigten Staaten?Lee Yaron: Die Reaktion auf einen Terroranschlag solchen Ausmaßes war anfangs ähnlich. Israel steht, wie die USA damals, vor den Fragen, die ein Kampf gegen einen nichtstaatlichen Akteur mit sich bringt. Aber ich denke, es ist sehr wichtig, den israelisch-palästinensischen Konflikt als einen einzigartigen Konflikt zu verstehen, der im Nahen Osten angesiedelt ist und eine andere Geschichte und einen anderen Kontext hat. Es ist schädlich, wenn wir versuchen, ihn wie einen Konflikt im Westen zu betrachten.Dann wird Ihnen meine nächste Analogie wahrscheinlich nicht gefallen, aber wenn der 7. Oktober Israels 9/11 ist, ist Gaza dann sein Afghanistan? Der Afghanistan-Krieg dauerte 20 Jahre und endete mit einer Niederlage.Wenn Netanjahu an der Macht bleibt, wird er diesen Krieg wahrscheinlich so lange wie möglich fortsetzen, um sein politisches Überleben zu sichern. Es liegt im Interesse der israelischen und natürlich auch der palästinensischen Bevölkerung, diesen Krieg zu beenden, das hätte schon vor Monaten passieren müssen. Israel musste sich verteidigen und reagieren, aber unsere Ziele hätten schon vor Monaten erreicht werden können. Der Preis, den normale, unschuldige Palästinenser jetzt zahlen, ist unvorstellbar. Das sollte nicht so weitergehen.In Ihrem Buch geht es um Tod, Leid und Überleben. Wie haben Sie es geschafft, sich all dem zu stellen?Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas tun muss. Ich wollte diesen Menschen Gerechtigkeit verschaffen. Diese Menschen sind Friedensaktivisten. Menschen wie Vivian Silver, die drei Tage vor dem 7.10. einen Friedensmarsch von palästinensischen und israelischen Müttern anführte. Diese Menschen wurden in ihren Häusern auf grausame Weise abgeschlachtet. Ich konnte diesen Gedanken einfach nicht ertragen. Ich wollte ihnen auch die Würde geben, dass man sich an sie als Menschen erinnert, nicht als politische Symbole und Opfer.Es ist Heuchelei, wenn Leute die Israelis als Weiße sehen. Mehr als die Hälfte der Israelis sind Juden, die aus arabischen Ländern geflohen sindKibbuz-Bewohner, arabische Israelis, nepalesische Gastarbeiter – die Geschichten von Opfern und Überlebenden ergeben ein breites Bild.Ich denke, dass zu viele Menschen Israel als eine Stimme, eine homogene Gruppe von Menschen betrachten. Jeder, der dort war und Israelis kennt, weiß, dass unsere Gesellschaft sehr vielfältig ist. Das wollte ich zeigen. Man vergisst zum Beispiel, dass 22 Prozent der Israelis Palästinenser sind, arabische Israelis. Auch diese Gruppe von Menschen wurde Opfer der Gräueltaten der Hamas. Ich habe ihre Geschichte erzählt, und das war mir wichtig. Oder die Geschichten der Ukrainer, die vor Putin flohen und dachten, in Israel in Sicherheit zu sein. Und dann, ein Jahr später, sind sie wieder auf der Flucht vor den Raketen der Hamas.Das Buch hat ein Nachwort, das von Ihrem Mann, dem Schriftsteller Joshua Cohen, geschrieben wurde und das es in den Kontext des jüdischen Gedenkens stellt. Glauben Sie, dass das Schreiben dieses Buches Teil einer spezifischen Form jüdischen Erinnerns war?Ja, das habe ich beim Schreiben bemerkt. Bei so vielen der Geschichten wurde mir klar: Der 7. Oktober war der Tag, an dem Israelis wieder zu Juden wurden. Es war der Tag, an dem diese alte Wunde eines generationenübergreifenden Traumas wieder aufgerissen wurde und der Traum von Sicherheit in Israel zerplatzte. So viele Familien erzählten, was ihre Eltern und Großeltern durchgemacht haben, und stellten eine Verbindung zu dieser Vergangenheit her. Die meisten Menschen kamen nach Israel auf der Flucht vor Verfolgung. In fast allen dieser Familien war es nicht das erste Mal, dass jemand getötet wurde, weil er Jude war.Können Sie ein Beispiel erzählen?Ich denke immer wieder an die Geschichte von Shachar Tzemach, ein Friedensaktivist und aus dem Kibbuz Be’eri. Er war öffentlich gegen die Erlaubnis für Zivilisten, Waffen zu tragen, eingetreten. Aber am 7. Oktober verteidigten er und ein paar andere Freiwillige mit der Waffe in der Hand eine Klinik. Immer wieder rief er die IDF an und bat um Hilfe. Niemand kam. Acht volle Stunden lang. Irgendwann gingen ihm einfach die Kugeln aus. Die Überlebenden aus der Klinik haben seine letzten Worte gehört. Als die Terroristen kamen, hörten sie Shachar schreien: „Bitte, ich bin nicht euer Feind. Bitte erschießt mich nicht.“ Sie haben ihn ermordet. Als ich dann seinen Vater, Doron Tzemach, interviewte, sagte dieser: „Ich möchte, dass die Menschen die Geschichte meines Sohnes kennen. Aber ich möchte auch, dass die Menschen die Geschichte meiner Mutter kennen.“ Seine Mutter, eine Frau namens Carmela, hatte als Jugendliche 1941 den Farhud, ein Pogrom in Bagdad, überlebt. Sie sah, wie ihre arabischen Nachbarn ihre jüdischen Nachbarn angriffen und schließlich 180 Juden massakrierten. Einige Jahre später floh sie aus ihrer Heimat und kam nach Israel. Sie war eine der Gründerinnen dieses Kibbuz, in der Hoffnung, einen sicheren Ort für ihre Kinder und Enkelkinder zu schaffen. Es ist also Heuchelei, wenn Leute die Israelis als Weiße sehen. Mehr als die Hälfte der Israelis sind Juden, die aus arabischen Ländern geflohen sind. Als Israel gegründet wurde, verloren auch sie ihre Heimat durch Vertreibung und vermissten ihre Kulturen.Netanjahu ist sehr gut darin, den Israelis die Illusion zu verkaufen, dass, wenn er nicht wäre, es noch schlimmer kämeSie sagten, Netanjahu führt den Krieg nur noch aus persönlichem Interesse. Glaubt er wirklich, dass er durch die Fortsetzung dieses Krieges seine Popularität steigern kann?Je länger der Krieg andauert, desto besser für Netanjahu, denn die Menschen leben in Angst. In Israel hat man das Gefühl, dass die Zeit stehen geblieben ist. Es fühlt sich an, als würden wir diesen 7. Oktober seit fast 600 Tagen immer wieder erleben, weil die Geiseln nicht nach Hause zurückgekehrt sind. In einer solchen Situation, in der es um das Überleben geht, denkt man nicht an Korruption. Man denkt nicht an die Verfahren gegen Netanjahu vor Gericht. Momentan zeigen die Umfragen, dass die Opposition mehr Stimmen hat, aber es ist unglaublich, dass Netanjahu immer noch so viel Unterstützung genießt, selbst nachdem er und seine Regierung für den größten Misserfolg und die größte Tragödie in der Geschichte Israels verantwortlich sind.Trotzdem sehen viele in ihm die Verkörperung der Sicherheit. Wie schafft er das?Diese Frage stelle ich mir auch. Es ist erstaunlich. Netanjahu ist sehr gut darin, den Israelis die Illusion zu verkaufen, dass, wenn er nicht wäre, es noch schlimmer käme. Und nun kann er sagen: Seht her, ihr wollt Frieden? Schaut euch an, was mit den „Peacenikim“, den Friedensaktivisten, passiert ist. Sie waren naiv, sie waren dumm, den Palästinensern zu vertrauen, deshalb wurden sie ermordet. Die Angst ist sehr real, und es ist nicht leicht, als Linker im heutigen Israel über beide Seiten zu sprechen und sich weiterhin Frieden zu wünschen. Wer das tut, wird von dieser Regierung bestenfalls als naiv, schlimmstenfalls als Verräter bezeichnet.Placeholder image-1Die Angst ist nicht neu, Israel ist seit seiner Gründung bedroht. Was macht es mit einer Gesellschaft, dauerhaft im Krieg zu leben?Das verändert die Menschen und macht sie defensiv. Ich denke, dass viele Menschen in anderen Regionen der Welt, die das Privileg haben, nicht in einem ständigen Krieg zu leben, das nicht verstehen. Letztendlich ist es so, dass die Israelis die Palästinenser als Gefahr sehen, als eine Bedrohung. Und sie haben eine Menge Gründe, so zu denken. Israelis haben schon so viele Terroranschläge erlebt, der 7. Oktober ist nur einer davon. Und die Palästinenser sehen die Israelis als Bedrohung, als Gefahr. Auch sie haben viele Gründe, das zu denken. Jeden Tag haben sie einen neuen. Unsere Kinder wachsen mit der Vorstellung auf, dass die anderen sie umbringen wollen. Wir sind taub für das Leid der anderen Seite und verstehen nicht, dass Leid und Kummer das ist, was uns verbindet.Menschen, die ich für meine Freunde hielt, riefen ‚Intifada‘, was ein Aufruf zu meiner Ermordung istVor Kurzem haben Israel und Deutschland 60 Jahre diplomatische Beziehungen gefeiert. In Deutschland ist die Debatte zum Umgang mit Israel aus historischen Gründen sehr kompliziert. Was denken Sie, wie sollte Deutschland seine Beziehung zu Israel handhaben?Die Antwort darauf ist kompliziert, denn einerseits schätze ich es, dass die Deutschen sich an die Geschichte erinnern und daran, dass es Israel braucht. Andererseits müssen wir unterscheiden zwischen der Unterstützung des Staates Israel und dem Bedürfnis der Juden, wie jedes andere Volk auch, ein eigenes Land zu haben und sich daran zu erinnern, was ihnen widerfahren ist – und der Unterstützung dieser rechtsextremen Regierung, die viele Israelis selbst ablehnen und die versucht, die israelische Demokratie zu ruinieren. Meiner Meinung nach ist es gefährlich, wenn Deutschland sogar Juden zum Schweigen bringt, die gegen Israel protestieren, und versucht, pro-palästinensische Demonstranten abzuschieben. Aber es ist ebenso gefährlich, wenn wir in anderen Kreisen sehen, dass Menschen die Stimmen von Israelis zum Schweigen bringen, weil sie Israelis sind. Ich denke, dass der kulturelle Boykott gegen Israelis nicht nur nicht das Ziel einer palästinensischen Staatlichkeit erreicht, sondern sogar das Gegenteil, indem er die radikalsten Stimmen in der israelischen Gesellschaft stärkt. Die, die den Israelis immer gesagt haben, dass uns alle hassen und wir unser Leben nur mit Waffen verteidigen werden.Andererseits gibt es sehr rabiaten Antisemitismus bei pro-palästinensischen Protesten. In Deutschland lebende Juden sind bedroht und unsicher. Was sollte eine Reaktion sein, die auch den hier lebenden Juden Sicherheit bieten kann?Verstehen Sie mich nicht falsch, ich denke, dass Menschen, die „Intifada“ und „From the River to the Sea“ skandieren und Hamas und Hisbollah unterstützen, Terror und Mord unterstützen. Ich habe selbst an der Columbia University studiert, als der 7.10. geschah, und fühlte mich von so vielen meiner Kollegen verraten. Von Leuten, mit denen ich im Kampf für das Klima, für Black Lives Matter, für die Gleichberechtigung der Geschlechter zusammengearbeitet habe. Ich musste feststellen, dass mein Leben nichts zählt, weil ich Israeli bin. Und Menschen, die ich für meine Freunde hielt, riefen „Intifada“, was ein Aufruf zu meiner Ermordung ist. Ich frage mich nur, ob es der richtige Weg ist, diese Stimmen zum Schweigen zu bringen, indem man sie ausweist und verbietet. Wir müssen Komplexität aushalten und den Dialog suchen. Ich verstehe die Menschen, die Gerechtigkeit für die Palästinenser wollen. Ich will auch Gerechtigkeit für die Palästinenser. Aber als jemand, der im Nahen Osten aufgewachsen ist, der ständig Krieg erlebt hat, als Tochter von Einwanderern und Enkelin von Holocaust-Überlebenden und Flüchtlingen weiß ich, dass Gerechtigkeit ein Kompromiss ist. Mein Weg ist es, darüber zu schreiben, darüber zu sprechen und nicht aufzugeben, die Menschen daran zu erinnern, dass ein Dialog möglich ist, dass Lösungen möglich sind und dass Hoffnung eine Handlung ist.