Zum ersten Mal habe ich vor zwei Jahren Betablocker genommen. Man hatte mich gebeten, eine Trauerrede zu halten. Schon an guten Tagen fällt es mir schwer, in der Öffentlichkeit zu sprechen, geschweige denn bei einer Beerdigung. Daher war meine erste instinktive Reaktion, die Bitte abzulehnen.

15 Jahre vorher hatte ich bei der Hochzeit von Freunden eine Rede gehalten. Meine Beine zitterten währenddessen so stark, dass ich dachte, ich würde zusammenbrechen. Ich bin dabei nicht überkritisch oder dramatisch: Es ist einfach so, dass ich es fast als unmöglich empfinde, vor einer Menschenmenge zu stehen und zu sprechen. Es ist eine Tortur für alle Beteiligten – oder war es, bevor ich Betablocker nahm.

Betablocker sind verschreibungspflichtige Medikamente, die Adrenalin blockieren und so die Reaktion des Körpers auf Stress vorübergehend verringern. Sie werden routinemäßig Patient:innen mit Herz- und Kreislauferkrankungen wie Angina Pectoris, Vorhofflimmern und Bluthochdruck sowie zur Vorbeugung von Migräne verschrieben, aber auch bei einigen Arten von Angstzuständen. Manche Ärzte raten dazu, sie regelmäßig zu bestimmten Tageszeiten zu nehmen. Andere empfehlen die Einnahme einer bestimmten Dosis, wenn man das Gefühl hat, sie zu brauchen.

„Sie verringern die Wirkung von Adrenalin auf das Herz, sodass man kein Gefühl von Herzrasen hat, nicht kurzatmig wird oder ins Schwitzen kommt“, beschreibt der Arzt und TV-Moderator Amir Khan, der seit 16 Jahren in der britischen Stadt Bradford als Hausarzt praktiziert. „Betablocker können auch die Symptome einer ausgewachsenen Panikattacke reduzieren.“

Auch Khloé Kardashian nimmt es

Die Verschreibungen von Medikamenten gegen Ängste sind in den vergangenen Jahren stark nach oben gegangen – angetrieben vor allem durch den Anstieg der Verschreibungen für Frauen und junge Leute. Laut einer Studie aus dem Jahr 2022 des Medizinfachbereichs der University of Bristol, die Verschreibungen gegen Angstzustände zwischen 2003 und 2018 untersuchte, kamen auf jeden Mann, dem Betablocker verschrieben wurden, 2,33 Frauen.

Die Gründe für den Anstieg der Verschreibungen sind komplex – aber die für die Studie befragten Hausärzte wiesen darauf hin, dass Frauen und junge Leute tendenziell offener mit Ängsten umgehen. Zudem gelten Betablocker generell als weniger riskant und schneller wirksam als andere Medikamente gegen Angst wie Benzodiazepine, die süchtig machen, und Antidepressiva, die mit Nebenwirkungen verbunden sein können. Die Studie ergab auch, dass viele Patient:innen Betablockers nicht als „Psychopharmaka“ einstuften und sie daher als „weniger stigmatisierend“ empfanden.

Auch kulturell hat sich etwas verändert: Prominente wie die amerikanische Schauspielerin Kristen Bell, Influencerin Khloé Kardashian und TV-Köchin Prue Leith haben alle darüber gesprochen, dass sie Betablocker nehmen. Als Schauspieler Robert Downey Jr. seinen Golden Globe für den Film Oppenheimer entgegennahm, erzählte er dem Publikum: „Ich habe einen Betablocker genommen, damit das hier ein Kinderspiel wird.“

Die Schriftstellerin und Schauspielerin Sharon Horgan sagte Louis Theroux kürzlich in seinem Podcast über Betablocker: „Sie tun etwas sehr Praktisches, physisch gesehen. Aber das Mentale, das damit zusammenhängt … hat eine wirklich beruhigende Wirkung auf mich, und das in Situationen, die mir normalerweise Angst einjagen würden.“

Privatsache? Meine Freundinnen nehmen sie auch

Betablocker sollen schneller wirksam sein als andere Angst-Medikamente. Es war eine Freundin, die mir vorschlug, für die Rede bei der Beerdigung Betablocker auszuprobieren. Sie hatte sie seit Jahren immer wieder mal eine Zeit lang genommen, auch wenn es das erste Mal war, dass ich davon hörte. „Ich schäme mich nicht, dass ich sie nehme, aber ich muss es ja auch nicht an die große Glocke hängen“, erklärte sie. „Ich war vermutlich besorgt, dass die Leute denken würden, dass ich nicht mit meinem Leben klarkomme. Ich weiß auch nicht. Aber die meisten Leute behalten die Medikamente, die sie nehmen, zum Großteil für sich, oder? Ist ja Privatsache.“

Nun gut, aber sobald ich ein paar Freunden und Bekannten davon erzählte, dass ich darüber nachdenke, Betablocker zu nehme, war es wie ein Domino-Effekt. Immer mehr erzählten mir, dass sie auch schon welche genommen haben, entweder gezielt für bestimmte Ereignisse oder einfach ab und zu.

„Ich verlasse das Haus nie ohne“, erzählt mir eine andere Freundin. „Und ich wette, ich bin nicht die einzige gestresste Mutter am Schuleingang, die welche hat.“ Eine andere Bekannte nimmt sie gegen Angstzustände in der Perimenopause, anstatt die Dosierung ihrer Hormontherapie zu erhöhen. Das wäre ein anderer Weg, gegen die Symptome anzugehen. „Ich versuche es auch mit Schwimmen in der Natur, Yoga und Meditation“, erzählt sie. „Ich bin wirklich proaktiv und greife nicht einfach so nach Medikamenten. Aber Betablocker funktionieren bei mir gut.“

Die Ursachen der Angst

Trotz der anekdotischen Hinweise gibt es laut der Studie der University of Bristol „keine abschließenden Beweise“ für die Wirksamkeit von Betablockern bei Angstzuständen. Das zum britischen Gesundheitsministerium gehörende National Institute for Health and Care Excellence (Nice) erwähnt sie in seinen Leitlinien zur Behandlung von Angstzuständen nicht. Warum also verschreiben Ärzte sie?

„Obwohl Betablocker einige der körperlichen Symptome von Angst lindern können, behandeln sie nicht die biologischen Ursachen der Angst“, erklärt Khan. Stattdessen empfiehlt Nice eine Art von Antidepressivum, die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), die den Serotoninspiegel – das so genannte „Glückshormon“ – im Gehirn erhöhen, neben einer Gesprächstherapie, insbesondere bei Patienten mit einer allgemeinen Angststörung. „Das dahingestellt verschreiben viele Hausärzte Betablocker für situationsgebundene Angstzustände – also wenn man weiß, dass man in eine Situation kommen wird, die wahrscheinlich Ängste auslöst“, erklärt Khan. „Also eher ‚falls und wenn‘ als langfristig.“

Als ich mit meiner Hausärztin sprach, sagte sie, sie verschreibe relativ oft Betablocker: an Leute, die große Präsentationen bei der Arbeit halten müssen oder Rechtsanwälte, die sich auf die Abschlussrede in einem Gerichtsprozess vorbereiten. Sie riet mir, sie nicht zum ersten Mal am Tag der Beerdigung zu nehmen, sondern vorher auszuprobieren. Innerhalb von zehn Minuten nach der Einnahme fühlte ich mich wie ich selbst, aber ruhig. Als ich die Trauerrede hielt, fühlte ich mich so gut, wie irgendjemand sich fühlen kann, unter diesen Umständen.

Müdigkeit, Schwindel, Schlafstörungen

Wie die meisten Medikamente sind Betablocker nicht für alle das Richtige. Der medizinische Leiter der Klinikpolitik am Royal College of General Practitioners Adrian Hayter erklärt: „Hausärzte verfolgen bei der Beurteilung ihrer Patienten einen ganzheitlichen Ansatz. Sie schlagen im Gespräch mit ihnen Behandlungsmöglichkeiten vor. Dabei sollten sie die einzigartigen Umstände eines Patienten miteinbeziehen, die Schwere der Symptome und die medizinische Geschichte ebenso wie die möglichen Nebenwirkungen und andere Medikamente, die möglicherweise eingenommen werden.“

Zu den Nebenwirkungen von Betablockern gehören Müdigkeit, Schwindel und Schlafstörungen. Für Menschen mit Asthma sind sie nicht geeignet. Die Einnahme einer höheren als der verschriebenen Dosis kann gefährlich sein und dazu führen, dass Patienten dringend in der Notaufnahme behandelt werden müssen. „Betablocker machen nicht abhängig, aber wenn man sie langfristig nimmt, kann man sie nicht plötzlich absetzen“, erklärt Khan weiter. Man muss sie ausschleichen. „Interessanterweise werden sie in Verbindung mit einem stärkeren Vorkommen von Depressionen gebracht“, fügt er hinzu. „Daher würde ich sie niemandem verschreiben, der neben Angstzuständen an Depressionen leidet.“

Kein Job, keine Abfindung, Panik

Khan beobachtet, dass sich unter der wachsenden Zahl an Patient:innen, die sich an psychosoziale Dienste wenden, immer mehr über Angstzustände klagen, insbesondere mit arbeitsbedingten Ängsten. „Ich glaube nicht, dass ich speziell mehr Betablocker verschreibe, aber ich behandle auf jeden Fall mehr Menschen wegen Angstzuständen … Ich glaube, das Leben wird für sehr viele Menschen immer härter, was sich in einem Anstieg von Angstzuständen manifestiert.“

Vergangenen November habe ich wegen Budget-Kürzungen die Arbeit verloren, die ich zwanzig Jahre lang gemacht hatte. Da ich Freelancerin war, gab es keine Abfindungszahlung; nichts als Dankeschön und frohe Weihnachten. Von dem Moment an, als die Bombe fiel, fühlte ich mich ständig am Rande einer Panikattacke, so als wenn statt Blut der reine blinde Terror durch meine Adern fließen würde.

Als jemand, der zu Ängsten neigt, verbesserte ein völlig unvorbereiteter Anruf, der von einer Minute auf die andere die finanzielle Sicherheit meiner Familie zerstörte, nicht gerade meine mentale Lage. Nach einem Gespräch mit meinem Arzt nehme ich jetzt dreimal täglich Betablocker. Sie helfen mir, mein Leben zu bewältigen, während ich mich in meiner neuen Normalität zurechtfinde.

Nicht für immer

Als Alternative erwogen wir Antidepressiva, die ich in der Vergangenheit eingenommen habe. Aber diesmal schienen sie mir nicht der richtige Weg. Die Angst, die ich verspürte, war eine Reaktion auf meine akute Lage, auf Umstände, die ich nicht in der Hand hatte, und kein langfristigeres Problem.

Derzeit funktionieren die Betablocker gut für mich, aber ich hoffe, dass ich sie nicht für immer brauche. „Wenn irgend möglich wollen Hausärzte nicht, dass Patienten langfristig auf ein Medikament angewiesen sind, und die meisten Patienten wollen das auch nicht“, sagt Hayter. „Die beste Praxis ist eine regelmäßige Überprüfung der Medikation, bei der Hausärzte und Patienten besprechen, ob es Möglichkeiten gibt, die Dosierung zu verringern oder die Medikamente ganz abzusetzen.“

Ich bin sicher, dass ich mich irgendwann in der Lage fühlen werde, nicht mehr regelmäßig Betablocker zu nehmen. Aber wenn dann wieder einmal eine stressige Rede in der Öffentlichkeit ansteht, wäre ich vermutlich schnell wieder auf dem Weg zu meinem Arzt.

Polly Hudson ist Kolumnistin beim Guardian



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Von Veritatis

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