In der Bundesregierung herrscht Uneinigkeit darüber, ob Kernkraft auf EU-Ebene als nachhaltige Technologie klassifiziert werden soll. Doch bereits der Vorstoß von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche und die bloße Debatte über eine neue Positionierung Deutschlands sorgt bei Grünen-Politikern für reflexartige Abwehrreaktionen.

Mehrere Meldungen zur Atomkraft haben in den vergangenen Wochen die Nachrichtenlandschaft dominiert: Dänemark, wo seit 1985 ein Verbot für die Nutzung von Kernenergie gilt, peilt jetzt den Einstieg an. Zwar hat das dänische Parlament die von der Opposition geforderte sofortige Aufhebung des Atomkraftverbots vorerst noch abgelehnt, aber die Regierungsmehrheit stimmte einem Antrag zu, der die „Prüfung von Potenzialen, Möglichkeiten und Risiken“ der Atomkraft zum Gegenstand hatte.Die sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen erklärt den Schwenk ihrer Partei so: „Wir sollten das mit offenen Augen angehen. Es ist besser, Atomkraft in Europa zu haben, als von russischem Gas abhängig zu sein.“ Eine ähnlich weitreichende Entscheidung wurde kürzlich auch in Belgien getroffen. Dort hat das nationale Parlament kürzlich den 2003 gesetzlich festgelegten Atomausstieg gekippt und damit den Weg für den Bau neuer Reaktoren geebnet.

Auch aus den USA, schon heute mit 92 Kernkraftwerken das Land mit den meisten Anlagen weltweit, deuten alle Signale in dieselbe Richtung. Erst am Freitag hat Präsident Trump vier Dekrete unterzeichnet, die einen massiven Ausbau der Atomkraft ermöglichen: Bis 2050 soll auf diesem Wege die Stromproduktion mit Kernenergie vervierfacht werden.

In Deutschland wird unterdessen weiter erbittert darum gerungen, ob die Bundesregierung auf EU-Ebene ihren Widerstand gegen die Einstufung der Kernenergie als nachhaltige Technologie aufgeben sollte. Die neue Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) hat in Brüssel kürzlich ein Zeichen gesetzt: Sie sprach sich für eine technologische Offenheit aus und plädierte dafür, auch CO₂-arme Technologien wie Kernenergie im Rahmen der EU-Taxonomie als nachhaltig zu klassifizieren – mit der Folge, dass Investitionen in diese Technologien künftig leichter fließen könnten. Ihr Argument: Jede eingesparte Tonne CO₂ sei ein Gewinn für den Klimaschutz. Einen kurzen Moment lang wurde ihre Äußerung als erster Schritt in Richtung der im Wahlkampf versprochenen energiepolitischen Kehrtwende der CDU-geführten Bundesregierung interpretiert.

Doch der Widerspruch aus dem eigenen Kabinett folgte auf dem Fuß. Bundesumweltminister Carsten Schneider (SPD) degradierte Reiches Äußerungen zur bloßen „Privatmeinung“ und betonte, eine gemeinsame Position der Bundesregierung gebe es nicht – und werde es mit der SPD auch in Zukunft nicht geben. Als Begründung dafür holte Schneider sämtliche Vorurteile aus der Anti-AKW-Mottenkiste: „Die Atomkraft ist deutlich teurer als die erneuerbaren Alternativen, bei deren Ausbau Deutschland bereits weit vorangekommen ist und die auch wirtschaftlich ein erfolgreicher Standortfaktor sind. Atomkraft bringt unkalkulierbare Risiken mit sich – mit Blick auf Unfälle und die Verbreitung radioaktiven Materials. Ich kann eine solche Technologie nicht ernsthaft als nachhaltig bezeichnen.“

Auch die Kritik aus den Reihen der Grünen ließ, bei dem für sie traditionell besonders sensiblen Thema, erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten. Michael Bloss, Abgeordneter im Europaparlament, nannte den Vorstoß von Reiche auf X etwa einen „Skandal“ und schrieb: „Energieministerin Reiche verscherbelt die Interessen der Erneuerbarenwirtschaft! (…) Damit werden die Interessen der erneuerbaren Energien der französischen Atomlobby geopfert. Das dürfen wir nicht zulassen!“

In dankenswerter Offenheit machte er damit immerhin klar, worum es ihm eigentlich geht: Nicht um die Einsparung von Emissionen und Klimaschutz, sondern um die Absicherung der Pfründe grüner Kernklientel. Dass sich die Grünen durch Reiches Eintagsfliegen-Kehrtwende im Kern der eigenen technologiefeindlichen Identität angegriffen sahen, legt auch Britta Haßelmann, Co-Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, nahe, die sich in Reaktion auf Reiche zu einer Selbstvergewisserung grüner Lebenslügen gedrängt sah.

Auf X schrieb sie, dass Atomkraft eine „Hochrisikotechnologie“ sei, dass der Atomausstieg Deutschland „sicherer und unabhängiger“ mache und „wirtschaftlich vernünftig“ sei. Schließlich sei Atomkraft „gefährlich und teuer“, müssten wir noch „jahrtausendelang die Altlasten tragen“ und liege die Zukunft der Energieerzeugung in Europa sowieso bei den Erneuerbaren.

Tatsächlich ist die Kernkraft aber nicht nur eine der sichersten, sondern auch eine der C02-ärmsten Energiequellen überhaupt. Selbst der Weltklimarat IPCC zählt sie mittlerweile zu den zentralen Bausteinen einer emissionsfreien Stromversorgung. Immer mehr Länder steigen aus dem Atomausstieg aus oder forcieren neue Projekte – nicht selten mit Verweis auf Versorgungssicherheit, Klimaziele und die Resilienz gegenüber geopolitischen Abhängigkeiten. Doch in Deutschland, das sich dank der Brandmauer im fortgesetzten Klammergriff rot-grüner Energiewende-Illusionen befindet, wird aus ideologischen Motiven nach wie vor eine der effizientesten Energiequellen verteufelt.

Selbst vorsichtige Vorstöße, zumindest auf europäischer Ebene mit Blick auf die Kernenergie zu einer zeitgemäßen Positionierung zu kommen, lösen bei SPD und Grünen nach wie vor reflexartige Abwehrreaktionen aus. Während Europa auf neue Reaktortypen wie kleine modulare Reaktoren (SMR) setzt, lehnt Deutschland nicht nur ihre Nutzung, sondern gleich ihre Erforschung ab. Durch die zunehmende internationale Isolierung und Dämonisierung der Kerntechnologie, läuft Deutschland Gefahr, sowohl in technologischer und klimapolitischer Hinsicht, als auch als Wirtschafts- und Industriestandort ins Hintertreffen zu geraten.

Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in anderen Ländern lautet die Frage längst nicht mehr, ob Atomkraft in Zukunft eine Rolle spielen wird – sondern nur noch, ob Deutschland bereit ist, diese Realität zur Kenntnis zu nehmen. Solange SPD und Grüne selbst marginale Fortschritte als Angriffe auf ihre Parteiidentität werten und diese damit zunichtemachen, wird es dabei bleiben, dass Deutschland in Sachen Kernenergie auf der Stelle tritt – oder bestenfalls einen Schritt vor und anschließend wieder zwei zurückgeht.





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Von Veritatis

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