Der Chef des israelischen linken Oppositionsbündnisses, Jair Golan, übte kürzlich scharfe Kritik an der Netanjahu-Regierung wegen der vielen palästinensischen Todesopfer im Gazastreifen. Im Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Radiosender Reschet Bet sagte Golan, Israel sei auf dem Weg, ein Staat zu werden „wie einst Südafrika, wenn er sich nicht ändert und sich wie ein vernünftiger Staat verhält“. Golan, Generalmajor der Miliz, der sich nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 auf eigene Faust in das Grenzgebiet zu Gaza durchgeschlagen und mehrere Menschen gerettet hatte, verdammte die Weiterführung und Ausweitung des Krieges durch die israelische Regierung. Ein Bericht von Ramon Schack.
Der Regierung fehlen „Verstand und Moral“
Golan ließ verlautbaren, „ein vernünftiger Staat kämpft nicht gegen Zivilisten, tötet nicht Kinder als Hobby und macht es sich nicht zum Ziel, die Bevölkerung zu vertreiben“. Er unterstellte der Regierung außerdem, diese sei „voll rachsüchtiger Typen, denen Verstand und Moral fehlen und die nicht fähig sind, einen Staat in einer Krise zu führen“. Ferner plädierte er dafür, die Regierung so schnell wie möglich auszuwechseln, damit der Krieg beendet werden kann.
Von der Regierungskoalition kam umgehend scharfe Kritik. Golans Aussagen seien „Benzin für den globalen Antisemitismus“.
Die politische Vereinigung der Regierungskritiker
Golans politisches Bündnis „Die Demokraten”, bestehend aus der Arbeiterpartei und der – mittlerweile aus der Knesset ausgeschiedenen – Merez, ist ein Sammelbecken für Regierungskritiker und setzt sich aus den Konfetti-Resten der politischen Linken im Lande zusammen. Die Arbeiterpartei – sie war jahrzehntelang die führende Partei des Landes – hat selbst innerhalb der weitgehend gelähmten Opposition nur noch wenig politisches Gewicht.
Golan ist mittlerweile zum Sprachrohr vieler regierungskritischer Israelis geworden, welche der Regierung vorwerfen, den Gaza-Krieg absichtlich in die Länge zu ziehen.
Die Feindschaft zwischen der einst dominierenden Linken und der heute unschlagbar starken Rechten Israels ist schon älter als die Staatsgründung.
Avnerys Äußerungen
Kurz vor seinem Tod äußerte der legendäre israelische Friedensaktivist Ury Avnery: „Wir haben eine ekelhafte Regierung, die gar nicht daran denkt, Frieden zu schließen. Ein palästinensischer Staat neben unserem Territorium ist für Benjamin Netanjahu total undenkbar. Frieden ist nicht erwünscht. Die Linke ist nur eine kleine Minderheit.“ Avnerys persönliche politische Sozialisation verlief entgegengesetzt zu der Israels. Während er sich vom Rechtsaußen-Aktivisten seiner Jugend zu einem linken Friedenskämpfer entwickelte, rückte Israel – ursprünglich nach eigener Definition ein sozialistischer Staat – immer weiter nach rechts.
Wie kam es dazu, dass die einst dominante Arbeiterpartei heute nur noch eine untergeordnete politische Rolle spielt und das einst von Ben Gurion verfemte Rechtsaußen-Lager heute die politische Landschaft dominiert?
Staatsgründer David Ben Gurion war sowohl Vorsitzender der Arbeiterpartei Mapai sowie der Jewish Agency, welche die jüdische Gemeinschaft in Palästina vor der Staatsgründung vertrat. Diese Amtsfülle führte dazu, dass nach den dramatischen Tagen der Staatsgründung, dem Unabhängigkeitskrieg die Arbeiterpartei nicht nur die kulturelle Hegemonie über die Stammtische beherrschte, wie es Gramsci in einem anderen Zusammenhang eins formuliert hatte, sondern auch die Macht in den Händen hielt. Der Grund hierfür lag in der historischen Tatsache begründet, dass die politischen Führer der Gründerjahre, hauptsächlich in den osteuropäischen Arbeiterbewegungen und da vorwiegend in der polnischen, in den ersten Jahren und Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts sozialisiert wurden. Diese Machtstrukturen wurden schon vor der Staatsgründung gelegt, beispielsweise durch die Gründung der Gewerkschaft Histadrut, welche schon 1920 erfolgte, und eben der Arbeiterpartei Mapai zehn Jahre später. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung verfassten also Partei und Gewerkschaft – die sich beide als sozialistisch definierten – jene zionistische Staatsform, die für Israel Gültigkeit besitzen sollte.
Ben Gurions Abneigung gegen die Rechte
Bei aller Dynamik, mit der Ben Gurion einen säkular-sozialistischen Staat aus der Taufe hob, war er sich tief im Inneren des unglaublichen Unterfangens wohl bewusst, an der Küste des Nahen Ostens aus dem Nichts einen neuen Staat zu schaffen, der die zweitausendjährige Diaspora der Juden negierte – modern, aber gleichzeitig an die Zeit Christi anknüpfend, besser ausgedrückt an jene prähistorischen Königreiche Davids und Salomons, welche schon vor Jahrtausenden in der Nacht der biblischen Geschichte verdämmert waren.
Aber wahrscheinlich ging es Ben Gurion wie vielen Juden aus Mittel-Osteuropa, für die der Zionismus schon vor der Shoa nicht nur eine Perspektive ermöglichte, sondern auch das Überleben. Der weltbekannte Schriftsteller Amos Oz, dessen Eltern aus gleicher Herkunft und einem ähnlichen Milieu stammten wie die von Ben Gurion, äußerte diesbezüglich in einem Gespräch mit dem Verfasser dieses Beitrags: „Meine Eltern und auch meine Großeltern waren so etwas wie enttäuschte und verschmähte Liebhaber Europas. Sie haben sich bis zu ihrer Übersiedlung nach Palästina weder als Litauer, Polen oder Russen definiert, sondern immer als Europäer und Kosmopoliten – und das zu einer Zeit, als dieses sehr gefährlich war. Mein Vater sprach bis zu elf, meine Mutter vier bis fünf Fremdsprachen; mir haben sie einzig und allein Hebräisch beigebracht. Sie wussten von der Ausstrahlungskraft und Verführungskunst der europäischen Kultur und wollten mich vor den Enttäuschungen ihres Lebens und vor den von diesem Kontinent ausgehenden Gefahren für Juden der 30er- und 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts bewahren.“
Gleich zu Beginn legte Ben Gurion fest, mit wem seine Arbeiterpartei niemals koalieren würde: zum einen nicht mit der Kommunistischen Partei und zum anderen nicht mit den Revisionisten, den rechten Parteien, den Vorläufern der heutigen Likud-Partei.
In den ersten 30 Jahren regierte die Arbeiterpartei, wahlweise in Koalition mit kleinen linken Gruppierungen oder religiösen Parteien, nahezu uneingeschränkt. Damals war die Demokratie in Israel, wie auch in anderen westlichen Staaten, enger gefasst als heute. Natürlich gab es freie Wahlen und prinzipiell Meinungs- und Pressefreiheit. Doch die Mapai dominierte die Gesellschaft weit über ihre parlamentarische Arbeit hinaus. Arbeitsplätze wurden über politische Klientelwirtschaft vergeben, den zahlreichen Neueinwanderern wurde gesagt, wen sie zu wählen haben.
Die Zäsuren von 1967 und 1977
Es waren zwei historische Ereignisse, welche dieses Phänomen beendeten.
Zum einen der grandiose Sieg Israels im Sechs-Tage-Krieg 1967. Parallel zur Entwicklung in der arabischen Welt, wo die vernichtende Niederlage zu einer Abkehr der brodelnden Volksmassen von den westlichen Politikmodellen wie Nationalismus und Sozialismus hin zum politischen Islam begann, fand auch in Israel eine rasante Rückkehr der Religion in das politische System statt. Ein israelischer Soziologe drückte dieses Phänomen wie folgt aus: „In den Stunden der Prüfung und des Triumphes verstärkte sich bei uns der religiöse Flügel. Als wir 1967 den wunderbaren Sieg errungen hatten über unsere versammelten Feinde, spürte ich bei mir selbst – und ich bin ein recht ungläubiger Jude – die mystische Erschütterung und den Finger Gottes. Jetzt ist es wieder so weit. Die Existenzkrise, die sich unerbittlich abzeichnet, kommt den Religiösen zugute.”
Unmittelbar nach dem Ende dieses Krieges wurde die Bewegung Ganz Israel (Eretz Israel Ha’schlemah) gegründet, die mit Blick auf die besetzten Gebiete eine Art Blut-und-Boden-Ideologie vertrat, aber auch darüber hinaus. Der Gründer dieser Bewegung, der schon 1940, also lange vor der Staatsgründung verstorbene Schriftsteller Se’ev Jabotinsky, hatte einst folgende Territorialansprüche für Israel skizziert: Nach seinen Vorstellungen hätte Israel nicht nur das gesamte Westjordanland umfasst, sondern auch Transjordanien – nicht nur den jetzigen Staat und alle palästinensischen Gebiete, sondern auch das heutige Königreich Jordanien.
Zum anderen führten die demographischen Veränderungen, überwiegend durch die Masseneinwanderung hervorgerufen, zu einer Veränderung der politischen Präferenzen der Wähler. Nach der Staatsgründung sagte man den Einwanderern, wen oder was sie zu wählen haben. Das funktionierte eine Zeit lang, doch die zahlreichen jüdischen Einwanderer aus den orientalischen islamischen Staaten begriffen schnell, dass sie nicht die regierenden Linken wählen konnten, um ihren Protest auszudrücken angesichts der Diskriminierung im öffentlichen Leben, welches von europäischen Einwanderern geprägt wurde. Aschkenasi und Misrachim – der erste Begriff steht für Juden aus Europa, im weitesten Sinne aus der westlichen Welt, der zweite für Juden aus den asiatisch islamischen Staaten – standen sich verständnislos gegenüber. Die Arbeiterpartei dachte nicht daran, ihre sozialistischen Prinzipien in die Tat umzusetzen. Das aschkenasische Establishment dachte nicht daran, die Neueinwanderer in ihren Reihen zu dulden. 1977, zehn Jahre nach dem Sieg im Sechs-Tage-Krieg, war es dann so weit: Der Likud errang die Macht und stellte mit Menachem Begin den ersten Premierminister aus den eigenen Reihen. Der Likud galt einst als Partei der polnischen Krawattenträger, als Anspielung darauf, dass deren Wähler ursprünglich Einwanderer aus Polen und Deutschland waren, die lieber in die Städte zogen und ihren Geschäften nachgingen, statt sich der streng sozialistischen Kibbuz-Ausrichtung unterzuordnen. Nun wählten die orientalischen Juden, die äußerlich kaum von Arabern zu unterscheiden waren und damals aufgrund höherer Geburtenraten die Bevölkerungsmehrheit erlangten, Likud – aus Protest gegen die Dominanz der politischen linken Elite, die überwiegend aschkenasisch (also europäischen Ursprungs) war und ist.
Menachem Begin war an der Macht, und nun konnten sich die Schüler Jabotinskys auf das religiöse Sentiment ihrer Wählerschaft verlassen, während sie die Interessen der Siedlerbewegung vorantrieben. Diese Tendenz ist bis heute erkennbar, obwohl es seitdem erneute gravierende Veränderungen gab. Die Frage, ob der Krieg in Gaza der Linken zu einer Renaissance in der politischen Landschaft Israels verhelfen wird, ist zur Stunde noch fraglich, aber laut Aussage eines politischen Kommentators der Zeitung Haaretz (Das Land) nicht ausgeschlossen.
Titelbild: Oren Ben Hakoon/Flash90