Sie bedrohen Wahlkämpfer, treten Journalist*innen und jagen queere Menschen: Eine neue Generation von jungen Neonazis verbreitet Angst und Schrecken. Ihre Gewalt ist für alle sichtbar, das kennen wir aus den 1990ern. Haben wir gelernt?
Neonazis marschieren gegen CSD in Magdeburg (Archivbild, August 2024)
Foto: Mark Mühlhaus/Attenzione/Agentur Focus
Es sind immer kurze Momente, in denen es Aufmerksamkeit gibt: Der Generalbundesanwalt hat vor wenigen Tagen Mitglieder der mutmaßlichen rechtsextremistischen Terrorgruppe „Letzte Verteidigungswelle“ festnehmen lassen. Sie sind zum Teil noch Jugendliche, der jüngste ist 14 Jahre alt. Oder, Meldung aus Cottbus: Das linke Hausprojekt Zelle79 wurde von jungen Neonazis angegriffen, mit Pyro beworfen – ein Brandanschlag. Die Hausbewohnerinnen sprechen von Tätern, die teils erst 12 Jahre alt sein sollen, manche kämen nach der Schule vorbei.
Der Schock über solche Meldungen sollte nicht über das Wesentliche hinwegtäuschen: Rassistische und rechtsextreme Straftaten sind Alltag in diesem Land.
Ihr Spektrum reicht von rassistischen Beleidigungen bis
ei.Der Schock über solche Meldungen sollte nicht über das Wesentliche hinwegtäuschen: Rassistische und rechtsextreme Straftaten sind Alltag in diesem Land.Ihr Spektrum reicht von rassistischen Beleidigungen bis hin zu schwerer Körperverletzung und versuchten Tötungsdelikten. Brandanschläge, Prügelattacken und Methoden der psychischen Einschüchterung gehören ebenso zum Tatspektrum. Die Beratungsstellen für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt haben alle Hände voll zu tun, wie ihre jährlich veröffentlichten Berichte belegen. Für 2024 haben sie rund 3.500 rechte Angriffe erfasst – ein Anstieg um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und ein Höchststand.Die Zahlen der Beratungsstellen weichen nach wie vor von den Zahlen der Sicherheitsbehörden abDie Zahlen der Beratungsstellen weichen nach wie vor von den Zahlen der Sicherheitsbehörden ab, da längst nicht alle Taten auch zur Anzeige kommen. Doch selbst die Sicherheitsbehörden konstatieren für rechts- und rassistisch motivierte Straftaten – Gewalttaten und Propagandadelikte – Fakten, die aufmerken lassen sollten. Das Bundesinnenministerium hatte für 2024 fast 43.000 rechtsextrem motivierte Straftaten registriert – ein Anstieg von 48 Prozent. Wieso ist die Öffentlichkeit gegenüber rechtsextremen Gewalttaten so abgestumpft?Doch die mediale und politische Öffentlichkeit nimmt rechte und rassistische Gewalttaten derzeit nur noch als Randnotiz zur Kenntnis. Gegenüber diesen Angriffen gibt es schon seit Jahren eine erschreckende Abstumpfung.Einerseits ist dies wohl auf die schiere Zahl und die rasche Folge der Meldungen zurückzuführen. Andererseits aber auch auf die inzwischen sehr weitgehende Normalisierung rechtsextremer und rassistischer Einstellungen sowie der entsprechenden Politikangebote: etwa in Gestalt der AfD.In deren politischem Windschatten wurden in den letzten Jahren politische Aussagen normalisiert, die vor Jahren noch als Tabubruch sanktioniert worden wären. Die undifferenzierte und rassistisch aufgeladene Debatte um Flucht, Asyl und „Messer“-Kriminalität verfestigt rassistische Diskurse. In der Folge wird wiederum auch rassistische Gewalt „normal“ – und unsichtbar.CSD-Paraden benötigen Sicherheitskonzepte gegen Angriffe von NeonazisEs ist diese feindliche Atmosphäre gegenüber den potenziell Betroffenen rechter Gewalt, in der sich die Täter legitimiert sehen, zuzuschlagen. Etwa nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt im Dezember vergangenen Jahres. Keine vierundzwanzig Stunden nach dem Anschlag gab es einen rassistisch motivierten Angriff auf eine Krankenschwester, die sich auf dem Rückweg von ihrer Arbeit in einer Klinik befand. Dort hatte sie Verletzte des Anschlags medizinisch versorgt.Es blieb nicht der letzte rassistisch motivierte Angriff nach dem Anschlag. Zu viele weitere sollten folgen.Wenn es Aufmerksamkeit für rechte und rassistische Gewalttaten gibt, so gilt diese oft den Tätern. Im vergangenen Jahr waren es junge Neonazis und ihr gewalttätiges Auftreten im Umfeld von CSD-Paraden, die ein kurzes öffentliches Schlaglicht auf das Gefahrenpotenzial rechter Gewaltakteure warfen. Vor allem in Ostdeutschland gab es in den mittelgroßen Städten Sachsens kaum einen CSD, der nicht von Neonazis begleitet wurde, die eine ernstzunehmende Drohkulisse für die Teilnehmenden der Paraden etablierten, CSD-Teilnehmende angriffen oder beschimpften.Die aktuelle CSD-Saison hat gerade erst begonnen. Doch ohne ein umfangreiches Sicherheitskonzept sind die Paraden in einigen ostdeutschen Städten schlicht nicht mehr durchführbar. Es ist spürbar, dass die gesamte extreme Rechte mit dem Themenkomplex „Gender“ Emotionen und Vorurteile mobilisiert und diese mit ihren rechten Normvorstellungen verknüpft.Ohne ein umfangreiches Sicherheitskonzept sind die CSD-Paraden in einigen ostdeutschen Städten schlicht nicht mehr durchführbarIm vergangenen Bundestagswahlkampf wurden nicht nur Wahlplakate zerstört. Es gab auch zahlreiche Angriffe auf die zumeist ehrenamtlichen Wahlkampfhelfer, die in ihrer Freizeit Plakate kleben, am Infostand stehen oder Faltblätter in Briefkästen stecken. In einigen Regionen bedürfen Wahlkampfhelfer Schutz, um nicht im wahrsten Sinne des Wortes von der Leiter gestoßen zu werden.In sozialen Medien wie TikTok und Instagram hält eine neue Generation junger Neonazis mit ihren Gewaltfantasien nicht hinter dem Berg. Im Gegenteil. Im Internet boomen Videoformate, in denen ganz offen kommuniziert wird, worum es den Protagonisten geht: ihre Gegner einzuschüchtern. Besonders im Fokus stehen kritische Journalisten und Fotografen, die auf rechten Demonstrationen regelrecht Jagd gemacht wird.Manche rechtsextreme Accessoires sind zurück: Springerstiefel und RechtsrockDas selbstbewusste Auftreten gerade Jugendlicher und junger Erwachsener mit den Insignien des Neonazismus erinnert an die 1990er und 2000er Jahre, als es eine rechte Jugendkultur gab, die über Musik und Lifestyle eine ganze Generation an sich zu binden wusste. Manche dieser Formen und Accessoires sind offenbar zurück: die Springerstiefel etwa, die Rechtsrock-Musik. Nur eben nun multipliziert durch das Internet. Neue Neonazi-Gruppen mit sprechenden Namen wie „Jung&Stark“ machen seit Monaten von sich reden – und wurden wohl auch von den Behörden in ihrer Dynamik unterschätzt.Das Auftreten gerade Jugendlicher und junger Erwachsener mit den Insignien des Neonazismus erinnert an die 1990er und 2000er JahreKehren also die „Baseballschlägerjahre“, wie die Zeiten exzessiver rechter Gewalt inzwischen historisierend genannt werden, zurück? Darüber gibt es inzwischen eine breite soziologische Fachdebatte. Auch über die neue Gewaltbereitschaft junger Neonazis.Doch für die Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt ist dies eine scholastische Frage. Sie erleben, dass die Bedrohung für sie spürbar ist – und steigt. Sie leben im Schatten der nächsten Attacke.