„Mark Stone“ war der erste Partner, mit dem die Umweltaktivisten Kate Wilson zusammenzog. Erst viele Jahre später erfuhr sie, dass sie eine Beziehung mit einem verdeckten Ermittler geführt hatte


Sie war Umweltschützerin. Heute beschränkt sich Kate Wilsons (o. und u. 2. v. li.) Aktivismus auf andere Opfer spitzelnder Polizisten

Foto: David Mirzoeff/Imago Images


Im Februar 2004 beschloss die damals 25-jährige Kate Wilson, die von ihren Freunden Katja genannt wurde, eine Valentinskarte für ihren Partner Mark zu basteln. Er war ein liebevoller Mensch, schrieb ihr Gedichte, machte ihr Geschenke und schickte ihr Liebesbotschaften. Sie wollte sich auf irgendeine Weise bei ihm revanchieren. „Er war sehr direkt und ich nicht. Das war mir ein bisschen peinlich“, sagt sie und fügt hinzu: „Die Geste, eine Karte zum Valentinstag zu basteln, war für mein anarchistisches Ich rührselig und kommerziell.“

Mehr als ein Jahrzehnt später las Wilson von dem in einem Polizeiprotokoll festgehaltenen Vorfall. „Sonntag, 15. Februar. 19:37 Uhr: Anruf der Quelle, die eine Valentinskarte von Katja erhalten hat. Das

Übersetzung: Sebastian Bähr

hat. Das hat die Quelle beruhigt.“ Während der gesamten 16-monatigen Beziehung zwischen Wilson und „Mark Stone“, von dem sie heute weiß, dass es sich um den verdeckten Ermittler Mark Kennedy handelt, wurden ihre Gespräche, Wochenendausflüge, Geschenke, Mittag- und Abendessen sowie Familienereignisse von ihm, der „Quelle“, an einen Polizeisprecher gemeldet und ordnungsgemäß aufgezeichnet.Ein Ausflug zu IKEA mit ihren Eltern: „Anruf von der Quelle, die IKEA mit einem Fahrzeug voller Möbel und Matratzen auf dem Dach verlassen hat. Die Familie Wilson befindet sich in ihrem Fahrzeug vor der Quelle.“ Sein Geschenk, ein Mountainbike, kurz vor einer Reise nach Irland: „Grund: Einfacher Transport innerhalb Dublins. Es bietet die Möglichkeit, Zeit miteinander zu verbringen und die Bindung/Beziehung zu stärken. Gemeinsame Interessen fördern.“Geschult in ManipulationKennedy war sieben Jahre lang als verdeckter Polizeibeamter tätig, infiltrierte eine Gruppe von Umweltaktivisten und schlief laut Wilson gleichzeitig mit mindestens elf Frauen, die ihn als „Mark Stone“ kannten. Er ist vielleicht der bekannteste der „Polizeispitzel“, die durch die Berichterstattung des Guardian ans Licht kamen – und nun Gegenstand einer seit Langem laufenden Untersuchung über verdeckte Ermittlungen sind.Die geheime Polizeitaktik der Infiltrierung von Protestgruppen reicht Jahrzehnte zurück und hatte vielfältige Ziele. Ins Visier der Polizei gerieten mehr als 1.000 Gruppen, darunter Gewerkschaften, Greenpeace und eine Kampagne, die nach einem Mord aus rassistischen Motiven an einem Teenager Aufklärung forderte. Die Einsätze dauerten in der Regel mehrere Jahre. Die ausgewählten Beamten waren dazu oft verheiratet. Mindestens 25 von ihnen gingen intime Beziehungen ein und vier von ihnen sollen Kinder mit Frauen gezeugt haben, die nichts von ihrer wahren Identität wussten.Mehrere dieser Frauen leiteten rechtliche Schritte ein. Wegen der hohen Prozesskosten waren sie jedoch gezwungen, einen Vergleich zu schließen, ohne Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Nur Wilson war in der Lage, ihre Klage bis zum Schluss zu verfolgen. Aus diesem Grund ist sie die einzige Frau, die irgendeine Art von weitergehenden Informationen erhalten hat. Die Polizei war gezwungen, Akten auszuhändigen. Diese dokumentieren einen Großteil von Kennedys Spitzel-Karriere. Dazu gehörten auch seine Beziehung zu Wilson und ihre „Freundschaft“, die bis zur Aufdeckung seiner wahren Identität fortgesetzt wurde. Wilson hat nun ein Buch mit dem Titel Disclosure (Offenlegung) geschrieben.„Ich hatte immer geglaubt, dass ich im Mittelpunkt meiner eigenen Lebensgeschichte stehe. Das hier wirft alles über den Haufen“, sagt sie und fügt hinzu: „Das hat mich einige Jahre lang jeden wachen Moment beschäftigt – und in gewissem Maße tut es das immer noch.“Wilson lernte Kennedy im Herbst 2003 kennen. Sie machte damals eine Ausbildung zur Übersetzerin und war aktives Mitglied der Umweltschutzorganisation Earth First!. Kennedy war bei der „Operation Pinguin“ eingesetzt, die damals von der Polizei von Nottinghamshire geleitet wurde. Er saß neben Wilson bei einem Treffen, das im Sumac-Zentrum, einem Gemeinschaftsraum in Nottingham, stattfand. Ironischerweise weiß Wilson heute, dass eines der Gründungsmitglieder des Sumac ebenfalls ein verdeckter Ermittler war.„Sobald ich herausfand, dass Mark ein Polizist gewesen war, begannen die Fragen“, sagt Wilson. „War ich das Ziel des Einsatzes, ein Werkzeug des Einsatzes oder ein Nebeneffekt des Einsatzes? Wollte er nur mit einer beliebten, zehn Jahre jüngeren blonden Frau schlafen? Das kann man unmöglich wissen.“Von Anfang an schienen die beiden viele Gemeinsamkeiten zu haben. Sie wuchsen beide in London auf. Sie liebten Wohnwagen und Country-Musik. Doch in Wahrheit war Kennedy in Kent aufgewachsen und interessierte sich, als er zu seiner nächsten Undercover-Beziehung überging, plötzlich mehr für Whisky-Verkostungen und Drum’n’Bass. „Sie waren in emotionaler Manipulation geschult“, sagt Wilson.Kennedy gab vor, ein Arbeiterjunge aus einem zerrütteten Elternhaus zu sein, der sich von einer dunklen Phase des Drogenhandels erholt hatte und nun als Lieferfahrer arbeitete. Er war von allem begeistert, charmant, aufmerksam und neugierig. „Wir sind uns sehr schnell sehr nahe gekommen“, sagt Wilson. Innerhalb weniger Monate zog Wilson in das Haus ein, in dem Kennedy bereits mit Freunden lebte. „Er war der erste Partner, mit dem ich zusammenzog, also war das eine ziemlich große Entscheidung.“Placeholder image-1Die Beziehung dauerte bis Februar 2005, als Wilson nach Spanien zog (Polizeiprotokoll: „Katja zieht aus Dover weg“). „Ich bin sehr froh, dass ich ihn verlassen habe“, sagt sie. „Er machte eine große Sache daraus, dass ich ihm das Herz gebrochen hätte, obwohl es offensichtlich nicht so war. Ich lebte dann in Barcelona und später in Berlin, und er besuchte mich überall. Er war einer meiner engsten Freunde.“Im Oktober 2010 erfuhr Wilson von Kennedys wahrer Identität. Er war aufgeflogen, als seine Freundin „Lisa“ einen auf seinen richtigen Namen ausgestellten Reisepass und ein Telefon mit Nachrichten seiner Kinder fand. Er war nicht nur Polizist, sondern auch verheiratet und zweifacher Vater. Als jemand Wilson anrief, um ihr davon zu erzählen, hatte sie gerade ein Medizinstudium an der Universität Barcelona begonnen. „Das hat mich völlig aus der Bahn geworfen.“Als erfahrene Aktivistin hatte Wilson von der Möglichkeit polizeilicher Unterwanderung gehört. „Das war nichts, worüber ich nie nachgedacht hatte“, sagt sie, „aber Mark war jemand, den ich schon seit langer Zeit liebte. Erst zwei Monate zuvor hatte ich mit ihm zu Abend gegessen. Keine meiner politischen Gruppen bereitete mich darauf vor, dass das stärkste Gefühl in so einem Moment Trauer sein würde.“Nach seiner Enttarnung heuerte Kennedy einen PR-Agenten an und trat in Fernsehsendungen auf. „Das war so schräg“, sagt sie. „Ich hatte den Eindruck, dass er sich nicht mehr sicher über seine Identität war. Bei den ersten Auftritten hatte er sich die Haare abgeschnitten. Aber mit der Zeit ließ er sie wieder wachsen und sah punkig aus. In einem Dokumentarfilm erschien er in einem ‚All Cops Are Bastards‘-T-Shirt.“ Eine der ersten Reaktionen von Wilson war eine E-Mail an ihn. „Man hat all diese Fragen“, sagt sie.Ein Teil ihres E-Mail-Verkehrs ist in ihrem Buch enthalten, doch Kennedy bleibt dabei vage und unehrlich. Eine seiner Antworten lautet: „Sie und andere wurden von mir nie erwähnt. (…) Es gibt kein Schwarz und Weiß, nur eine große Grauzone, in der ich gefangen war.“ Kate Wilson sagt: „Ich glaube, er ist ein sehr verwirrter Mann.“Mark machte mitDie Auswirkungen auf ihr Leben waren verheerend. „Medizin ist ein sehr anspruchsvolles Studium. Ich konnte mich nicht fokussieren und konzentrieren.“ Am Ende des ersten Semesters fiel sie in den Prüfungen durch. „Das Tragische daran ist, dass ich mich wahrscheinlich an die Universität hätte wenden können, um Unterstützung und eine Auszeit zu bekommen. Aber wie soll man so was erklären?“Stattdessen verließ Wilson den Studiengang – und konnte so ihren Rechtsanspruch bis zum Schluss durchkämpfen. Zunächst schloss sie sich mit sieben anderen Frauen einer Zivilklage an. In diese waren fünf Beamte verwickelt. Mit Ausnahme von Wilson haben sich alle mit einer Entschädigung und einer öffentlichen Entschuldigung seitens der Polizei abgefunden. Zugleich weigerte sich die Behörde, Antworten und Informationen zu geben.Wilson verfügte über die Mittel, um mit einer Menschenrechtsklage weiterzukämpfen. Es dauerte Jahre, aber schließlich war die Polizei gezwungen, die Akten herauszugeben. Sie kamen wahllos in Kisten an, die Seiten standen auf dem Kopf, Passagen waren geschwärzt, alles war durcheinander und nicht chronologisch geordnet. Ein Team aus Freunden und Familienangehörigen musste ihr dabei helfen, sie zu sortieren und einen Sinn darin zu finden.Der vielleicht auffälligste Aspekt von Kennedys Berichten, wie er in Wilsons Buch dargelegt wird, ist, wie trivial sie sind. An einer Stelle erwähnt Kennedy die Pläne der Aktivisten für einen „Wasserangriff auf Schiffe“. Dabei handelte es sich jedoch lediglich um ein Dutzend Menschen, die auf aufblasbaren Drachen reitend ein Schiff stoppen wollten, das für eine Waffenmesse anlegte. „Das war absolut unverhältnismäßig“, sagt Wilson.In der Rolle von „Mark Stone“ hatte Kennedy nicht nur passiv überwacht, sondern auch die Ergebnisse beeinflusst. „Er gehörte zur Kerngruppe, die die Aktionen vorschlug, organisierte und dafür rekrutierte – Aktionen, die dann zur Rechtfertigung seines Einsatzes herangezogen wurden“, sagt Wilson. Das Argument, dass verdeckte Ermittlungen unter bestimmten Bedingungen ein wichtiges Instrument zur Aufklärung seien, überzeugt sie nicht.Wilsons Rechtsstreit dauerte mehr als ein Jahrzehnt. Im Jahr 2021 entschied ein Gericht, dass die zuständige Polizeiabteilung für eine „beeindruckende Liste“ von Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war. Im folgenden Jahr wurde eine Entschädigung gezahlt. Wilson machte nebenbei eine Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitet jetzt im Ausland.Ihr Leben hat sich grundlegend verändert. „Eines der destruktivsten Dinge ist der Verlust von Vertrauen“, sagt sie. „Es ist in Ordnung, Fremden nicht zu vertrauen, aber es ist etwas ganz anderes, wenn man Menschen, die einem nahestehen, nicht vertrauen kann. Das hat mein Leben in gewisser Weise ruiniert.“ Auch ihr politischer Aktivismus hat sich verändert. „Der beschränkt sich mehr oder weniger auf die Arbeit mit Opfern von spitzelnden Polizisten.“Aktuell konzentriert sie sich auf die Untersuchung der verdeckten Polizeiarbeit, die seit 2014 läuft. Obwohl der ursprüngliche Ermittlungsvorsitzende gesagt hatte, dass Frauen, die in Beziehungen getäuscht wurden, so umfassend wie möglich informiert werden würden – inklusive der echten Namen der Männer – ist dies bisher nicht geschehen. Anfang des Jahres wurde einem Beamten, bekannt als HN1, gestattet, seine Aussagen anonym zu machen.Kennedy wird voraussichtlich erst nächstes Jahr vor Gericht erscheinen. „Ich hoffe, er wird ehrlich sein und einigen der anderen Menschen, die er geschädigt hat, dabei helfen, den Grund zu verstehen“, sagt Wilson. „Aber ich mache mir keine großen Hoffnungen. Ich weiß nicht, ob er mir etwas Nützliches zu sagen hätte. Der Zug ist schon vor langer Zeit abgefahren.“



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Von Veritatis

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