Die Art, in der Angela Merkel ihre „Erinnerungen 1954 – 2021“ aufgeschrieben hat, verrät viel über die Methode, mit der die CDU-Frau 16 Jahre lang Bundeskanzlerin blieb
Angela Merkel war von November 2005 bis Dezember 2021 Bundeskanzlerin
Foto: Urban Zintel
So klingt es, wenn Angela Merkel von der historischen Nacht des Mauerfalls vom 9. auf den 10. November 1989 erzählt: „Ein Westberliner lud uns in seine Wohnung ein, ich ging einfach mit. Er bot uns ein Bier an (…). Nach etwa einer halben Stunde verabschiedeten wir uns. Die meisten zogen weiter zum Kurfürstendamm, der Prachtstraße Westberlins. Ich dagegen kehrte um und ging nach Hause, gegen 23 Uhr, denn ich dachte daran, dass ich sehr früh aufstehen musste.“
Das Zitat stammt aus Merkels Buch Freiheit, das gerade unter heftigem Werbegetrommel erschien. Die Erzählung klingt nicht gerade nach überschäumender Emotionalität und wäre für die Bilanz eines politischen Lebens nur von begrenzter Aussagekraft – wenn in der staub
; wenn in der staubtrockenen Beschreibung nicht ein Kernelement ihrer Selbstdarstellung stecken würde: Die Altkanzlerin (unterstützt von ihrer Wegbegleiterin Beate Baumann) schreibt genau so, wie sie regiert hat. Persönliches wie Welthistorisches präsentiert sie, als sorgten ein bisschen Ruhe, Umsicht und Vernunft dafür, dass selbst grundstürzende Ereignisse auf die handhabbare Größe eines wohldosierten Nachtschlafes schrumpfen.Wer fragt da schon nach Vermögensverteilung oder Wohnungsnot?Es ist nicht so, dass Merkel, seit vergangenem Juli 70 Jahre alt, die Dimension historischer Momente unterschlagen würde. Aber der öffentliche Umgang damit hat im Buch wie seinerzeit in der Bundesregierung etwas Sedierendes. Die Botschaft: Wer die Wirklichkeit, wie sie ist, als Grundlage des eigenen Tuns und Lassens akzeptiert und ihr ein einigermaßen unverdorbenes Leben und Arbeiten abtrotzt, kann im Großen und Ganzen zufrieden sein. Wer fragt da schon nach Vermögensverteilung oder Wohnungsnot?Das hat in Merkels Regierungszeit sicher dem Bedürfnis vieler Menschen entsprochen. Es wirkt fast so, als hätte sie der gesamtdeutschen Gesellschaft so etwas wie den „Schutzraum“ bieten wollen, den sie nach eigenem Bekunden zu DDR-Zeiten in ihrer Familie gefunden hat. Im Spiegel-Interview hat sie über diese Zeit gerade gesagt: „Bei mir ging es einfach darum, da durchzukommen, ohne zu verbittern.“Die Ideologie des angeblich anti-ideologischen PragmatismusDiese begrenzt widerständige, um das eigene Leben Schutzzäune ziehende Haltung bezieht sich zwar auf die SED-Diktatur, und niemand verlangt im Nachhinein, dass eine Bürgerin dieser Diktatur gefälligst zur Widerstandskämpferin hätte werden müssen. Aber das Denken in fundamentalen, womöglich utopischen Alternativen wird unter solchen Bedingungen sicher nicht gerade gefördert. Womöglich ist gerade hier eine Ursache zu finden für das größte Manko von Merkels Kanzlerinnenschaft: jene Ideologie des angeblich anti-ideologischen Pragmatismus, die dazu führte, dass die CDU-Politikerin in ihren rund 16 Amtsjahren viel zu viele finanzielle wie gedankliche Investitionen in eine lebenswerte Zukunft unterlassen hat – während sie den Eindruck zu erwecken verstand, alle relevanten politischen Denkrichtungen gleichzeitig abzudecken.Nur an wenigen Stellen – Atomkraft, Schuldenbremse, Digitalisierung – deutet sich im Buch vorsichtiges Umdenken an. Wer aber liest, wie sie im Spiegel jetzt vor der Beschränkung staatlichen Handelns durch einen Elon Musk warnt, sollte daran denken, wie diese Bundeskanzlerin jahrelang den Widerstand deutscher Autokonzerne gegen klimapolitische Regulierungen unterstützt hat.Migration und NATO-Mitgliedschaft der UkraineDas Strickmuster zeigt sich am Beispiel Migration: Da ist einerseits die erstaunliche Erkenntnis zu finden, dass das Dublin-Abkommen und damit die faktische Alleinverantwortung der Staaten an den EU-Außengrenzen „ein nicht mehr haltbarer Zustand“ gewesen sei (was sich weder unter Merkel noch nach ihr geändert hat). Andererseits zieht sich durch die vor Selbstlob strotzende Schilderung der „Grenzöffnung“ (genauer: Nicht-Schließung) 2015 und ihrer Folgen das Motiv der Abschottung an den EU-Außengrenzen, die nicht wie eine politische Entscheidung, sondern wie ein Naturgesetz beschrieben wird. Das „Einerseits-andererseits“ als rundum anschlussfähige Kaschierung für eine im Kern rigide Politik.Bleibt zu erwähnen, was schon vorab für Debatten sorgte: Merkels Bemerkungen zu einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Dem Vorwurf, mit der Verweigerung einer Aufnahmezusage 2008 Wladimir Putin sträflich unterschätzt zu haben, begegnet sie mit einem schlagenden Beweis für ihre argumentative Intelligenz: Gerade weil sie Putin richtig eingeschätzt habe, sei zu befürchten gewesen, dass er die Zeit zwischen Zusage und NATO-Aufnahme für einen Angriff auf die Ukraine genutzt hätte.Seht ihr, so die Botschaft an die Kritiker, ich habe zwar anders gehandelt, als ihr es im Nachhinein gerne hättet, aber den Putin sehe ich doch genauso wie ihr, eure Vorwürfe gehen ins Leere. Unabhängig davon, wie man zu dem Vorgang aus dem Jahr 2008 steht, lässt sich sagen: Die Andersdenkenden umarmen – auch das ist Teil des Systems Merkel, jetzt sogar in Buchform.