Russland muss die Auswirkungen von Israels Kriegen beobachten – vor allem in seinem Hinterhof

Von Timofey Bordachev, Programmdirektor des Valdai Clubs

Der Krieg im Nahen Osten stellt eine wachsende Bedrohung für Zentralasien dar. Wenn der Iran sein politisches System radikal verändert oder in innere Unruhen gerät, könnte sein Territorium zu einem Einfallstor für ausländische Infiltrationen in eine Region werden, die seit Langem als Teil von Russlands strategischer Umlaufbahn gilt.

Jeder, der sich mit internationalen Angelegenheiten auskennt, weiß, dass Russlands wesentliches geopolitisches Merkmal das Fehlen natürlicher Grenzen ist. Selbst dort, wo es physische Barrieren gibt – etwa im Kaukasus –, lehrt die historische Erfahrung die Russen, sie als illusorisch zu betrachten. In diesem Zusammenhang wird Zentralasien traditionell als Teil von Russlands erweitertem strategischen Raum gesehen. Bedrohungen für die Stabilität der Region gelten in Moskau nicht als weit entfernte Störungen, sondern als unmittelbare nationale Sicherheitsbedenken. Eine der zentralen außenpolitischen Herausforderungen für Russland in den kommenden Jahren wird daher darin bestehen, zu bestimmen, wie weit es gehen muss, um die Verwirklichung solcher Bedrohungen zu verhindern.

Zum ersten Mal seit dem Zerfall der Sowjetunion könnte Zentralasien nun ernsthaft für destabilisierende Kräfte anfällig sein. Geografisch weit entfernt von den Konfliktzonen der Türkei, Syriens, des Irak und Israels, hat die Region bislang eine Phase relativer Ruhe genossen. Nur die Mongolei, die an das befreundete Russland und China grenzt, steht vielleicht noch besser da. Bislang war Zentralasien weitgehend isoliert – doch diese Isolierung ist nun bedroht.

Seit dem späten 19. Jahrhundert war Afghanistan das Hauptproblem. Die Gefahr ging jedoch selten vom afghanischen Staat aus, sondern vielmehr davon, dass das Land als Rückzugsraum für Extremisten diente, die es auf benachbarte postsowjetische Republiken abgesehen hatten. Russland und China hatten stets ein persönliches Interesse daran, ein Übergreifen zu verhindern – vor allem aus innenpolitischen Gründen. Beide Länder haben große muslimische Bevölkerungsgruppen und starke Anreize, islamistischen Radikalismus im Zaum zu halten. Genau dieses Eigeninteresse bildet die Grundlage für effektive Zusammenarbeit und Zurückhaltung in den internationalen Beziehungen.

Doch dieses relativ stabile Bild beginnt zu bröckeln. Die gegenwärtige Politik Israels – getragen von einer Elite, die ihre Macht über ständige militärische Konfrontation sichert – hat Auswirkungen weit über den Nahen Osten hinaus. Die Eskalation seit Oktober 2023 hat einen offenen Konflikt zwischen Israel und dem Iran entfacht. In manchen israelischen Kreisen wird sogar bereits darüber diskutiert, die Türkei als Nächstes ins Visier zu nehmen, da sie zunehmend regionale Ambitionen entwickelt. Während viele arabische Nachbarn Israels lieber neutral bleiben möchten, wird diese Neutralität durch die Zuspitzung der Lage zunehmend unhaltbar.

Diese Dynamik wirkt sich nicht nur auf den Nahen Osten aus, sondern betrifft den gesamten eurasischen Raum. Die Möglichkeit, dass der Iran destabilisiert wird – sei es durch äußeren Druck oder durch inneren Zerfall –, sollte allen Sorgen bereiten, denen die Stabilität Eurasiens am Herzen liegt. Der Iran ist ein zentraler Akteur im geopolitischen Gleichgewicht der Region. Sein Absturz ins Chaos würde ihn zur Startrampe für ausländische Einmischungen machen, die sich über Zentralasien hinweg gegen Russland und China richten könnten.

Russland muss sich daher auf alle Szenarien vorbereiten. Bisher hat sich der Iran als widerstandsfähig erwiesen. Die Führung bleibt stabil, die Bevölkerung weitgehend patriotisch. Doch tiefgreifende Veränderungen lassen sich nicht ausschließen. Sollte der Iran kollabieren, entstünde ein Sicherheitsvakuum, das Zentralasien Akteuren aussetzt, die die Region nicht als Ziel, sondern als Hebel gegen Moskau und Peking betrachten.

Es muss betont werden: Zentralasien ist für den Westen bei Weitem nicht so bedeutsam wie für Russland oder China. Mit weniger als 90 Millionen Einwohnern ist die Region im Vergleich zu Ländern wie Iran oder Pakistan ein Zwerg. Auch wirtschaftlich bleibt sie hinter südostasiatischen Staaten wie Vietnam oder Indonesien zurück. Der Westen betrachtet die Region nicht als Partner, sondern als Ressourcengebiet, das insofern nützlich ist, als es Russland und China schwächen kann.

Falls der Iran ins Chaos stürzt, könnten ausländische Akteure sein Territorium nutzen, um dort Einfluss zu nehmen oder Zentralasien zu destabilisieren – ohne dabei selbst mit realen Konsequenzen rechnen zu müssen. Für Washington, Brüssel oder London sind Entwicklungen in der Region eher abstrakt – ein diplomatisches Spiel, nicht etwas, das man verteidigen müsste.

Neben diesen externen Gefahren gibt es auch interne Risiken. Israels aggressive Außenpolitik provoziert, wenn sie weltweit ausgestrahlt wird, Ressentiments unter muslimischen Bevölkerungsgruppen. In Zentralasien, wo die Bindung an Russland und die sowjetische Vergangenheit stark ist, existiert ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Die Menschen sind keine passiven Zuschauer. Die wahrgenommene Ungerechtigkeit im Nahen Osten kann zur Radikalisierung führen und Teile der Bevölkerung für extremistische Botschaften empfänglich machen.

Die Regierungen Zentralasiens haben viel getan, um nicht zum Spielball globaler Machtpolitik zu werden. Die Gründung der „Zentralasiatischen Fünf“ – einer Plattform für regionalen Dialog und Koordination – war ein bedeutender Schritt. Russland unterstützt diese Initiative, weil es die Rolle lokaler Akteure und regionaler Zusammenarbeit anerkennt.

Diese Staaten bauen mit Bedacht engere Beziehungen zu ihren Nachbarn auf, insbesondere zu China und Russland, während sie den neo-osmanischen Ambitionen der Türkei mit Vorsicht begegnen. Ankaras Streben nach einem „Großen Turan“ wird höflich, aber skeptisch betrachtet. Die wirtschaftlichen und militärischen Mittel der Türkei sind weiterhin begrenzt, und die führenden Politiker Zentralasiens wissen das.

Insgesamt ist die Außenpolitik der Region pragmatisch. Sie strebt nach Flexibilität, ohne zentrale Verpflichtungen gegenüber strategischen Partnern wie Russland zu gefährden. Moskau hat keinen Grund, daran Anstoß zu nehmen. Doch selbst die beste Diplomatie kann diese Staaten nicht vor dem Chaos jenseits ihrer Grenzen schützen.

Russland muss realistisch sein. Es kann – und sollte – nicht allein die Verantwortung für die Verteidigung Zentralasiens übernehmen. Die Geschichte mahnt zur Vorsicht. Der Erste Weltkrieg ist ein warnendes Beispiel dafür, wie Russland sich in kostspielige Bündnisse verstrickte und schließlich Instabilität und Zusammenbruch erntete. Moskau muss nun unmissverständlich klarmachen: Die Wahrung der Souveränität in Zentralasien ist Aufgabe der dortigen Regierungen. Russland bleibt ein Freund, Nachbar und verantwortungsvoller Partner – aber es wird seine Zukunft nicht für vage Versprechen oder unklare Verpflichtungen aufs Spiel setzen.

Im Zeitalter bröckelnder internationaler Normen und zunehmender roher Gewalt ist dieser nüchterne, ausgewogene Ansatz der einzige, der langfristig sowohl den regionalen Frieden als auch Russlands eigene Sicherheit gewährleisten kann.



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Von Veritatis

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