Stellen Sie sich vor, Sie beobachten durch ein Mikroskop winzige Kügelchen, die sich teilen, wachsen und vermehren – ganz wie lebende Zellen. Doch diese Strukturen bestehen aus keinem einzigen biologischen Molekül. Kein DNA-Strang, kein Protein, keine der komplexen Bausteine des Lebens. Nur pure Chemie, die dennoch eines der fundamentalsten Geheimnisse des Lebens nachahmt: die Selbstvermehrung.

Forschern der Harvard University ist ein bemerkenswerter Durchbruch gelungen, der unser Verständnis des Lebens und seiner Ursprünge revolutionieren könnte. Zum ersten Mal haben sie gezeigt, dass sich zellähnliche Strukturen vollständig ohne biologische Moleküle selbst bilden und vermehren können. Die Studie, veröffentlicht unter dem Titel “Self-reproduction as an autonomous process of growth and reorganization in fully abiotic, artificial and synthetic cells” in den renommierten Proceedings of the National Academy of Sciences, beschreibt ein System, das durch pure synthetische Chemie zur Selbstreproduktion fähig ist.

Das Experiment basierte auf einer eleganten chemischen Reaktion namens Polymerisation-induzierte Selbstanordnung (PISA). Die Forscher verwendeten ausschließlich nicht-biologische Substanzen: ein wasserlösliches Polymer, ein hydrophobes Kettenübertragungsmolekül, ein Monomer und einen lichtaktivierbaren Katalysator. Diese scheinbar einfachen Zutaten wurden in einem geschlossenen Behälter unter Stickstoffatmosphäre 90 Minuten lang bei 33 °C mit grünem LED-Licht bestrahlt.

Wenn Licht Leben erschafft

Was dann geschah, grenzte an Magie der Chemie. Ausgelöst durch das grüne Licht verbanden sich die molekularen Bausteine zu langen Ketten – ein kontrollierter Prozess, der als RAFT-Photopolymerisation bekannt ist. Die entstehenden Moleküle besaßen zwei völlig unterschiedliche Eigenschaften: Ein Ende liebte Wasser, das andere stieß es ab. Diese amphiphilen Strukturen, wie Chemiker sie nennen, verhielten sich wie winzige Magnete mit zwei Polen.

Schaubild künstliches Leben aus dem Labor. Bild (C) Report24/Heinz Steiner

Die Natur solcher Moleküle führt zu einem faszinierenden Phänomen der Selbstorganisation. Wie Öltropfen in Wasser suchten die wasserabweisenden Teile einander und bildeten spontan kleine, hohle Kügelchen – chemische Bläschen, die funktional biologischen Zellhüllen ähneln. Doch das war nur der Anfang einer noch erstaunlicheren Geschichte.

Sporen ohne Biologie

Die künstlich erzeugten Bläschen entwickelten eine Fähigkeit, die bisher als Privileg des Lebens galt: Sie begannen sich zu reproduzieren. Wie biologische Zellen warfen sie kleine polymerartige Sporen ab, die sich wiederum zu neuen Bläschen entwickelten. Die Vermehrung folgte dabei nicht einem linearen Muster, sondern beschleunigte sich von Generation zu Generation – ein exponentielles Wachstum, das an die Zellteilung von Bakterien oder anderen Mikroorganismen erinnert.

“Dieser Prozess ahmt zentrale Eigenschaften lebender Systeme nach und eröffnet neue Möglichkeiten für die Entwicklung einer ganzen Klasse lebensähnlicher, aber nicht biologischer Systeme”, erklärt Sai Krishna Katla vom Harvard-Forschungsteam. Die Beobachtung war revolutionär: Hier vermehrte sich ein vollständig synthetisches System autonom, ohne jede biologische Hilfe.

Rätsel des Lebensursprungs

Die Bedeutung dieser Entdeckung reicht weit über das Labor hinaus. Frühere Versuche, selbstorganisierende Systeme zu erschaffen, stützten sich meist auf biochemische Komponenten oder zeigten keine echte Selbstvermehrung. Diese Studie beschreibt erstmals ein autonomes, biochemiefreies System mit reproduktiven Eigenschaften.

Die Nachbildung fundamentaler Lebensfunktionen durch einfache Chemie könnte entscheidende Hinweise auf die Entstehung des Lebens liefern. Möglicherweise begannen die ersten Lebensformen nicht mit komplexen Molekülen wie DNA oder Proteinen, sondern mit viel einfacheren chemischen Systemen, die sich selbst organisieren und vermehren konnten. Diese Hypothese würde das berühmte Henne-Ei-Problem der Biologie lösen: Was war zuerst da – die Information oder die Struktur?

Ausblick in eine synthetische Zukunft

Die Erkenntnisse eröffnen faszinierende Perspektiven für die Materialwissenschaft und Biotechnologie. Synthetische Materialien, die sich selbst organisieren, reparieren und weiterentwickeln können, könnten revolutionäre Anwendungen finden – von selbstheilenden Werkstoffen bis hin zu adaptiven Systemen, die auf Umweltveränderungen reagieren.

Vielleicht stehen wir am Beginn einer neuen Ära, in der die Grenze zwischen lebend und nicht-lebend verschwimmt. Die Harvard-Forscher haben gezeigt, dass Leben nicht zwingend Biologie voraussetzt – manchmal reicht pure Chemie, ein wenig Licht und die richtigen Bedingungen, um die Geheimnisse des Lebens zu entschlüsseln.



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Von Veritatis

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