Es beginnt in Omas Wohnung – Charly Hübner beweist in Magdeburg mit seinem Regiedebüt und mit einem exzellenten Ensemble, wie gut man Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ auf die Bühne bringen kann
Iris Albrecht und Marie-Joelle Blazejewski in „Krieg und Frieden“ in Magdeburg
Foto: Kerstin Schomburg
Nein, dieser niedrigschwellige Einstieg kann unmöglich von Leo Tolstoi selbst stammen oder von Roland Schimmelpfennig – der dem Neu-Regisseur Charly Hübner für seine Bühnenfassung freie Hand gab – so angedacht gewesen sein: Per Dietrich schleicht sich nämlich ein verdächtiges Trio in eine biedermeierlich wirkende Wohnung ein. Die ist schief und schräg gestaltet, vermeidet wie bei einem anthroposophischen Bau jeglichen rechten Winkel. Zur metaphorischen Ausdeutung freigegeben, denn hier stimmt über den friedlichen Anlass einer geplanten Überraschung zum 80. Geburtstag von Oma Marianne gar nichts.
Angeblich linksextreme Staatsanwältin und „Nazi-Schlampe“
Das gesamte zehnköpfige Personarium sickert ein und versucht s
ltin und „Nazi-Schlampe“Das gesamte zehnköpfige Personarium sickert ein und versucht sich an Gratulationsritualen und gereimten Ungereimtheiten. Das Familienidyll schleicht sich mit heimtückischen Analogien sowohl an Tolstois Konflikte der Petersburger Adelsfamilien als auch an das Großthema Krieg und Frieden heran. Nicht einmal der ehrliche Überraschungswunsch für Oma hält diesen in sich verfeindeten Haufen zusammen. Die angeblich linksextreme Staatsanwältin und die „Nazi-Schlampe“ gehen aufeinander los, die meisten bleiben nach einer Massenschlägerei liegen. Der unbeholfene Trottel und Enkel Timo, der doch nur seinen Vaterlandsdienst bei der Bundeswehr in Litauen leisten will, ist überfordert.Oma Marianne erweist sich schon anfangs als gar nicht biedermeierlich, sondern als flexibel und aufgeschlossen. Pathetisch könnte man sie als Figur des gesellschaftlichen Zusammenhalts bezeichnen. „Warum Männer anscheinend nicht ohne Krieg leben können“, sinniert sie einmal. Iris Albrecht erscheint als die Grande Dame des Abends, und das am wenigsten altersbedingt. Sie bleibt es auch als spätere Lisa, wenn sie in ihrem bisherigen Hosenanzug nach einer halben Stunde in Tolstois erstes Buch hineindriftet.Die leichte Regiehand des „Debütanten“ Charly HübnerDie Bühnenfassung folgt chronologisch der gewaltigen Buchvorlage, unterstützt sogar durch übertitelte Jahreszahlen zwischen 1805 und 1812. Bei seinem Regiedebüt versucht sich Charly Hübner also nicht an akrobatischen Montagen und seitlichen Arabesken. Die Petersburger Szene startet mit einem der gehobenen Gesellschaftsabende der Hofdame Anna Pawlowna Scherer. Die Bühne von Alexandre Corazzola ist nun bis auf einen Kletterturm weitgehend leer. Gelegentlich wird ein fahrbares Podium hereingefahren. Mit seinen drei aufragenden Gitterstümpfen assoziiert es eine Ruinenlandschaft, und den beiden nachdrücklichsten Antikriegsszenen dient es als Demonstrationsbühne des Fürchterlichen.Sonst lässt die Bühne viel Raum für tänzerische Bewegung, für häufigen Kreisverkehr. Dieses Petersburger Milieu des Amüsements, des Klatsches, der Fehden, aber auch der hereinbrechenden Kriegsdebatten riecht nicht muffig nach Dekadenz. Es hat eher etwas Hermetisches, Ignorantes angesichts eines aus dem Westen heranziehenden Bonaparte.Erstaunlich leicht lassen sich im verwirrenden Geflecht des Weltromans Personen identifizieren und verfolgen. Die leichte Regiehand des „Debütanten“ Charly Hübner tut ein Übriges. Latente Komik ist allgegenwärtig, im Programmheft-Interview spricht er gar von Volkstheater. Diese Petersburger nehmen sich selber in ihrer Epoche nicht so ernst. Das für die Handlung zentrale Pistolenduell zwischen Pierre Besuchow und Dolochow wird als Posse parodiert. Dass der junge, suchende Pierre in Magdeburg mit einer Hosenrolle besetzt wird, erheitert hingegen nicht durchgehend. Die zweifellos engagierte Nora Buzalka wirkt zu bezaubernd weiblich, um eine androgyne Ausstrahlung zu entfalten.Einfach nur albern: Helmut Kohl als Oma für DeutschlandBei den Kostümen von Clemens Leander herrscht hingegen Klarheit. Die Männer sind anfangs in Knallrot, Frauen in Weiß gekleidet. Immer mehr verspielte Opulenz driftet in Richtung Ausstattungsrevue – bis zwei brutale Kontrastszenen in grausame kriegerische Uniformität umschlagen. Die unerwartete Niederlage von Austerlitz 1806 spiegelt sich in verheerendem Rot. Borodino 1812 gerät bei Klängen von Guiseppe Verdis Reqiuem Dies Irae zu einer Anklage in schwarzen Ledermänteln und zu einer Vorlage für Zitate wie „Wer am meisten Menschen tötet, wird befördert“. An der richtigen Stelle inszeniert hier ein spaßfreier Charly Hübner. Einfach nur albern hingegen: ein karnevalistischer Auftritt des Einheitskanzlers Helmut Kohl als Halbpuppe, als „so was wie die Oma für Deutschland“, bemüht um Aussöhnung mit Frankreich.Über einige Andeutungen hinaus umgeht der Jungregisseur einen Deutungsversuch russischer Geschichte und russischen Wesens. Der Überfall auf die Ukraine ist assoziativ präsent, aber es bleibt bei einem „als barbarisch geltenden Russland“. Eine allegorische Figur, die es so bei Tolstoi nicht gibt, belebt aber auf magische Weise in Folklorekleid und mit der Kokoschnik-Kopfhaube den ersten Teil. „Duscha“ ließe sich auch mit „russische Seele“ übersetzen.Klugerweise überfrachtet Hübner den zweiten Teil auch nicht mit einer Nachverfolgung der Sozialromantik Tolstois, wie sie gegen Ende des zweiten Buches anklingt. Er landet insgesamt beim nicht gerade zu Szenenapplaus, doch umso mehr zu einem begeisterten Finale aufgelegten Magdeburger Publikum einen Volltreffer. Und das hier nur in toto zu lobende motivierte Ensemble bestätigt einmal mehr den hohen Ruf, den sich das Magdeburger Schauspiel in den vergangenen beiden Jahren speziell durch Festivalnominierungen erworben hat.