Die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm ist eine der fünf „Wirtschaftsweisen“, wie die Mitglieder des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ gemeinhin genannt werden. Durch den gesamten Wahlkampf hindurch und auch seit der Regierungsbildung hat Grimm in Gastbeiträgen, Interviews, Pressekonferenzen und wissenschaftlichen Gutachten mit Nachdruck und Beharrlichkeit regelmäßig versucht, ein Bewusstsein für den umfassenden Reformbedarf in Deutschland zu schaffen.
Mit ihren klassisch liberalen, marktwirtschaftlichen Vorschlägen in den Bereichen Wohnungs- und Arbeitsmarkt, ihren Forderungen nach einer umfassenden Reform der sozialen Sicherungssysteme, nach einem wirksamen Bürokratieabbau oder Steuersenkungen und ihrer kritischen Haltung gegenüber den Verschuldungsplänen der schwarz-roten Koalition hat sie in der öffentlichen Debatte wiederholt wichtige Impulse gesetzt und den Finger in die Wunden gelegt. Gleichzeitig hat sie sich mit ihrer zurückhaltend formulierten Kritik und eigenständigen Positionierung in dem traditionell etatistisch geprägten wirtschaftspolitischen Diskurs in Deutschland immer wieder exponiert und ist für gewisse Kreise zum Feindbild geworden.
Auch einigen ihrer Kollegen im Sachverständigenrat scheint Grimm mittlerweile ein Dorn im Auge zu sein. Dass sie dort mit ihrer fachlichen Auffassung häufig alleine dasteht, ist freilich keine Neuheit – mittlerweile ist es zur Regel geworden, dass der Rat in „vier gegen Grimm“ aufgeteilt ist. Neu ist hingegen die Art und Weise, wie Journalisten und Kollegen mit ihren Ansichten umgehen. Weil ihre in aller Regel sachlich vorgetragene Fachexpertise wenig Angriffsfläche bietet, sind ihre Kritiker nun dazu übergegangen, ihre persönliche und wissenschaftliche Integrität anzugreifen und ihr finstere Motive zu unterstellen. Neben dem Podcaster Tilo Jung führt insbesondere ihr gewerkschaftsnaher Wirtschaftsweisen-Kollege Achim Truger einen regelrechten Privatkrieg gegen Grimm, der sich vor allem dadurch erklären lässt, dass Grimm als einzige der Wirtschaftsweisen nicht mit in den einträchtigen Chor der Schulden-, Energiewende- und Deindustrialisierungsapologeten einstimmt.
So hatte Grimm im Rahmen des Frühjahrsgutachtens 2025, das der Sachverständigenrat Mitte Mai auf der Bundespressekonferenz vorgestellt hat, in drei von vier Kapiteln Minderheitsvoten verfasst, in denen sie ihre, vom gemeinsamen Gutachten abweichenden, Positionen zum Ausdruck gebracht und begründet hat.
Statt Grimm auf der Pressekonferenz nach dem inhaltlichen Grund für diese Abweichung zu fragen, stellte Tilo Jung mit seiner Fragestellung die Unabhängigkeit Grimms in Frage und insinuierte, dass ihre Minderheitsvoten letztlich Gefälligkeitsgutachten für die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) seien. Doch damit nicht genug: Bereits wenige Tage zuvor hatte Grimm angesichts der erwarteten geringeren Steuereinnahmen die Bundesregierung im Deutschlandfunk zur Lösung struktureller Probleme in Deutschland aufgefordert.
Auf X teilte sie den entsprechenden Beitrag mit den zusammenfassenden Worten: „Schulden sind dauerhaft keine Lösung, man muss an die Ursachen ran. Wirksame Reformen bei Grundsicherung und Rente. Abbau von Regulierung. Steuersenkungen, Maßnahmen zur Stärkung des Arbeitsvolumens. Man könnte auch einen Feiertag streichen.“
Diese Forderungen der ökonomischen Vernunft riefen prompt Jung und Truger auf den Plan. Ersterer kommentierte den Tweet auf X und schrieb: „Du hast die Ursachen für den Aufstieg des Faschismus erkannt und sagst: da geht noch mehr, Leute!“ Grimms Kollege Truger retweetete Jungs Kommentar und machte sich damit dessen Faschismus-Vorwurf zu eigen.
Zwar hat er seinen Retweet mittlerweile gelöscht, doch der Fortsetzung seines privaten Feldzugs gegen die Häretikerin Grimm tat das keinen Abbruch. In klarer Anspielung auf Grimms Vorschlag nach einer Erhöhung des Renteneintrittsalters äußerte sich Truger in einem Interview im Handelsblatt vor wenigen Tagen wie folgt: „Das [Renteneintrittsalter] steigt doch gerade erst ziemlich rasant auf 67 Jahre. Man kann den Leuten doch nicht im Hauruckverfahren sagen, ihr müsst jetzt noch länger arbeiten, Pech gehabt. Dann können wir die AfD auch direkt in die Regierung einladen.“
Und mit Blick auf Grimms abweichende Gutachten entgegnete er: „In den Minderheitsvoten findet sich allerhand ordnungspolitisches Raunen, das inhaltlich wenig mit den eigentlichen Themen der Kapitel zu tun hat.“ Grimm kommentierte die wenig kollegialen Einlassungen auf X gewohnt nüchtern: „Es ist schon verwunderlich, wofür man vorgeworfen bekommt, den Faschismus zu befördern. Wird verwendet als Synonym für ‚Deine Argumente passen mir nicht‘. Verrückte Diskussionskultur“.
Fachliche Uneinigkeit im Sachverständigenrat ist gleichwohl nicht ungewöhnlich, jedoch kommt es selten vor, dass ein Mitglied so viele Minderheitsvoten abgibt. Bereits im Jahresgutachten 2024/25 hatte Grimm in drei Kapiteln eine Gegenposition eingenommen. Ungewöhnlicher ist hingegen, auf welchem Niveau sich mittlerweile die Auseinandersetzung mit Grimms Minderheitspositionen bewegt. Dem schon länger angespannten Arbeitsklima im Sachverständigenrat dürften die jüngsten Ereignisse nicht gerade zuträglich sein.
Schon im vergangenen Jahr kam es innerhalb des Gremiums immer wieder zu Konflikten, die sogar dazu führten, dass Veronika Grimm gegen ihre Kollegen Klage einreichte. Auslöser der damaligen Kontroversen war die Berufung Grimms in den Aufsichtsrat von Siemens Energy. Die vier anderen Mitglieder des Gremiums sahen darin ein Problem. Grimm war deswegen von ihren Kollegen im Sachverständigenrat aufgefordert worden, entweder auf das Mandat bei Siemens Energy oder auf ihren Posten im Expertengremium zu verzichten.
Grimm hatte die Kritik an ihrer vermeintlich fehlenden Unabhängigkeit zurückgewiesen. Gegen einen in der Folge eingeführten Verhaltenskodex, der sämtliche Mitglieder zur ratsinternen Offenlegung etwaiger Interessenskonflikte verpflichten sollte, hat Grimm im vergangenen Herbst Klage eingereicht.