Versagen, Korruption und Kriegstreiberei: Ursula von der Leyen wird mit dem Internationalen Karlspreis von Aachen für ihre Rolle in der EU ausgezeichnet – denn in Europa wird dramatisches Scheitern nicht nur geduldet, sondern gefeiert
Yanis Varoufakis lenkt den Blick unter anderem auf die Rolle von EU-Kommissionspräsidentin und Karlspreisträgerin Ursula von der Leyen für Israels völkerrechtswidriges Vorgehen in Gaza
Fotos: Frederick Florin/AFP/Getty Images, Rafail Georgiadis/Eurokinissi/Imago (rechts)
Es gehört zu den kleinen, dunklen Freuden des Lebens, zu erleben, wie die eigenen zynischen Vorurteile vollauf bestätigt werden. Ein solcher Moment, in dem ich mir ein langes, bitteres Lachen gönnte, war die Nachricht, dass Ursula von der Leyen mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen ausgezeichnet worden ist, für „ihre Verdienste um die Einheit der Mitgliedstaaten, die Eindämmung der Pandemie, die Geschlossenheit des Verteidigungswillens gegen Russland und die Impulse zum Green Deal“. Nun ist es amtlich: In Brüssel scheint nichts so erfolgreich zu sein wie grobes Versagen – und noch schlimmer, nichts wird großzügiger honoriert als Korruption.
Beginnen wir mit dem harmlosesten Teil der Begründung, den „Impulsen zum Gre
ls Korruption.Beginnen wir mit dem harmlosesten Teil der Begründung, den „Impulsen zum Green Deal“. Meinen die das ernst? Künftige Historiker werden den Green Deal wohl als ein Lehrstück darüber betrachten, was in der Europäischen Union schiefläuft: ein politisches Schauspiel, nur Illusion, keine Substanz. Als der Green Deal angekündigt wurde, habe ich im Guardian einen Artikel veröffentlicht, der davor warnte – aus zwei Gründen: Erstens war das versprochene Geld, das in den grünen Wandel investiert werden sollte, einfach nicht vorhanden, und zweitens war der angekündigte Deal eher … braun – denn er zielte mehr auf Greenwashing als auf ein grüneres Europa ab.Vier Jahre später wurde der Green Deal für gescheitert erklärt und kurzerhand zugunsten von Ursula von der Leyens nächstem Prestigeprojekt beiseitegelegt: dem fragwürdigen Aufbau eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes unter dem klangvollen Codenamen „Re-Arm Europe“ oder „SAFE“.Rüstungsdeals als deutsche Verteidigungsministerin, Impfstoffdeals als KommissionspräsidentinWarum ist es töricht zu glauben, dass die Kommission von der Leyen die Speerspitze eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes sein wird? Aus drei Gründen, wie ich im Freitag erläutert habe. Erstens fehlt – wie schon beim Green Deal – das Geld, und die EU ist nicht in der Lage, eine echte Fiskalunion zu schaffen, um die nötigen Mittel zu mobilisieren. Zweitens fehlen die föderalen Strukturen, um aus der Vielzahl nationalstaatlich geprägter Unternehmen eine wirkliche, paneuropäische Einheit zu formen; stattdessen bleibt es beim Flickenteppich konkurrierender nationaler Interessen. Drittens schließlich: Selbst wenn Geld und Institutionen vorhanden wären, wird Europa (hoffentlich) nicht die amerikanische Strategie kopieren können, durch permanente Kriege eine konstante Nachfrage nach Waffen aufrechtzuerhalten.Zwei Amtszeiten als Präsidentin der Europäischen Kommission – zwei markante, teure Fehlschläge. Doch diese Misserfolge allein hätten kaum gereicht, um den Internationalen Karlspreis von Aachen für Frau von der Leyen zu rechtfertigen. Nein, für diese Ehrung brauchte es noch ein weiteres Element: zertifizierte Korruption. Zum Glück hat sie auch das zu bieten!Die Löschung von Daten auf den Handys Ursula von der LeyensMit bemerkenswerter Entschlossenheit, die Gesetze nicht nur in ihrem Heimatland Deutschland, sondern auch auf EU-Ebene zu missachten, gelang es Frau von der Leyen, in beiden Jurisdiktionen wegen ihrer geringschätzigen Haltung gegenüber der Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen zu werden. Als deutsche Verteidigungsministerin versuchte sie, ihre Verstrickung in dubiose Rüstungsverträge zu verschleiern, indem sie die Ermittlungen des Bundestages in dieser Angelegenheit durch die „illegale und vorsätzliche“ Löschung von Inhalten auf ihrem Diensthandy sabotierte.Später, als Präsidentin der Europäischen Kommission, befand das höchste Gericht der EU sie erneut für schuldig, Aufzeichnungen von privaten, illegalen Telefonaten mit globalen Konzernchefs zu löschen – diesmal ging es um den Chef von Pfizer, mit dem sie Europas lukrative COVID-19-Impfstoffverträge aushandelte.Mit diesen Erkenntnissen, die geradezu ein Bild von moralischer Verkommenheit zeichnen, und ihren politischen Fehlschlägen – Green Deal, Re-Arm Europe, SAFE – im Gepäck, stand Frau von der Leyen kurz davor, die offenkundige Kandidatin für den Internationalen Karlspreis zu Aachen zu sein. Doch das allein reichte noch nicht. Um die Ziellinie zu überqueren, musste sie ihrem Lebenslauf noch eine weitere Qualifikation hinzufügen: die Rolle der Cheerleaderin der israelischen Armee. Zum Glück bot sich diese Gelegenheit nach dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023, und Frau von der Leyen zögerte nicht lange.Die Kommissionspräsidentin posiert für den israelischen Einmarsch nach GazaOhne jegliche Zuständigkeit oder Mandat – da weder Außen- noch Verteidigungspolitik in den Verantwortungsbereich der Kommissionspräsidentin fallen – reiste sie nach Tel Aviv. Nicht als Vermittlerin eines sofortigen Endes der Kriegsverbrechen auf allen Seiten, nicht als Botschafterin für Frieden und Versöhnung, nicht als Verfechterin des Völkerrechts und auch nicht als Anhängerin der einfachen Idee, dass die Genfer Konvention die letzte Hoffnung der Menschheit in dunklen Zeiten ist.Nein, sie posierte für die israelischen Panzer, die für den Einmarsch in den Gazastreifen bereitstanden, mit der stolzen Haltung einer Cheerleaderin beim großen Finale. Sie trat als Unterstützerin jenes Kriegsverbrechens auf, das zwei Millionen Zivilisten Wasser und Nahrung verweigert; als Befürworterin einer Luftwaffe, die bewusst zivile Wohngebiete bombardiert; als Förderin der Verschleppung von einer Million Menschen in andere Gebiete des Gazastreifens, die ebenfalls Ziel von Angriffen wurden.Damit war Frau von der Leyens mühsame Arbeit getan, ihr Dreifachschlag aus Versagen, Korruption und Kriegstreiberei vollendet. Ursula von der Leyen wurde zur Hauptkandidatin für den Internationalen Karlspreis zu Aachen – den sie mit sichtlicher Freude entgegennahm. Ohne auch nur einen Hauch von Ironie bin ich überzeugt, dass dieser Preis wohlverdient ist – und das im Einklang mit der Geschichte und Symbolik dieser Auszeichnung.Schließlich wird der längst verstorbene Kaiser Karl der Große, dessen Namen der Preis trägt, seit Jahrzehnten von Europas oberflächlichsten Politikern in einem vergeblichen Streben nach Selbstverherrlichung vereinnahmt – ob zu Recht oder Unrecht. Um das zu verdeutlichen, möchte ich Sie an einen trüben Herbstnachmittag zurückversetzen, an dem zwei Männer in Anzügen und mit einem Hauch von Autorität den Aachener Dom betraten.Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt am Grab Karls des GroßenEs war der 15. September 1978. Die beiden Männer waren gekommen, um dem Grab Karls des Großen – jenes fränkischen Königs aus dem 9. Jahrhundert, der das Römische Reich kurzzeitig wiedervereinte und dessen Geist für traditionalistische Mitteleuropäer Pan-Europa oder Mitteleuropa, ein grenzenloses christliches Europa, symbolisiert – ihre Ehre zu erweisen.Über dem Grab des christlichen Kriegers und neben seinem uralten Thron versuchten die beiden Pilger, ihre Nervosität zu verbergen. Sie hatten gerade ihre beiden Länder, Frankreich und Deutschland, verpflichtet, ihr Geld zu bündeln – mit einem Abkommen, das sie an diesem Tag unterzeichnet hatten, um das sogenannte Europäische Währungssystem (EWS) zu schaffen, den Vorläufer des Euro.„Vielleicht hat der Geist Karls des Großen über uns gewacht, während wir über Geldangelegenheiten diskutierten“, sagte einer der beiden zu einem italienischen Journalisten. Sein Name? Valéry Giscard d’Estaing, damals Präsident Frankreichs. Der zweite Pilger, der um die Zustimmung Karls des Großen zur Währungsunion bat, war der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt.Den Internationalen Karlspreis zu Aachen erhielt 2002 – der Euro!Abgesehen vom unfreiwilligen Kitsch zweier Staatsmänner, die das Grab eines christlichen Kriegerkönigs besuchen, um ihre Nerven über die Schaffung der vielleicht erbärmlichsten Währungsunion der Geschichte zu beruhigen, ist es tröstlich, dass die EU eine lange Tradition darin hat, dramatisches Scheitern feierlich zu inszenieren.Immerhin ist der Wechselkursmechanismus, den die beiden Männer damals eingeführt haben, spektakulär gescheitert. Aber Europa feiert ihn bis heute. Auch der Euro, der aus der Katastrophe des EWS hervorging, erwies sich für Europa und die Europäer als eine Katastrophe. Und dennoch hat das Komitee zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2002 beschlossen, den Preis damals an … den Euro zu vergeben!In dieser Europäischen Union, in der grobe Fehler nicht nur toleriert, sondern gefeiert werden – insbesondere wenn sie von Korruption und zuletzt von Kriegstreiberei begleitet sind –, ist Ursula von der Leyen die wohlverdiente Trägerin des Internationalen Karlspreises zu Aachen.