Tilmann Lahme wirft in seiner Biografie einen faszinierenden Blick auf Thomas Mann und stellt dessen krisenhafte Libido ins Zentrum


Thomas Mann in Sanary-sur-Mer, 1933

Foto: ETH-Bibliothek Zürich/Thomas-Mann-Archiv


Freud hatte recht: Alles im Leben basiert auf sexuellen Erfahrungen. Wer den anschaulichsten Beweis dafür liefert, ist niemand Geringeres als Thomas Mann. Nach außen verkörperte er die bürgerliche Tugend, derweil herrschte in seinem Inneren Chaos.

Früh bemerkt der spätere Nobelpreisträger seine Anziehung zu Männern

Früh bemerkt der spätere Nobelpreisträger seine Anziehung zu Männern. Als er einem Schulkamerad seine Liebe gesteht, kommt es zur alles verändernden Urszene. Der Begehrte lacht ihn aus. Fortan trägt der Verschmähte ein „Lebenskorsett“, das ihm helfen soll, seine Homosexualität zu unterdrücken oder, um es mit seinen eigenen metaphorischen Worten zu sagen, die „Hunde im Souterrain

unde im Souterrain an die Kette zu legen“.Anders als viele der zahlreichen Annäherungen an den 1875 in Lübeck geborenen Romancier baut Tilmann Lahme seine Biografie konsequent auf Manns krisenhafter Libido auf. Neben den Streifzügen durch das Dickicht seiner nie ausgekosteten, stets unglücklichen Lieben, die übrigens auch die Erregung durch einen Minderjährigen einschließen, stehen vor allem zwei prägende Instanzen im Vordergrund. Da ist zunächst sein Vertrauter Otto Grautoff. Er ist der einzige ebenfalls schwule Freund, dem sich Mann – in bislang zuvor teils unbekannten Briefen – rege über seine in der damaligen Gesellschaft tabuisierte Situation mitteilt. Darüber hinaus spielt Manns Lektüre von Psychopathia sexualis, einem der frühen Standardwerke der Sexualwissenschaft von Richard von Krafft-Ebing, eine außerordentliche Rolle für sein zunehmend zerrüttetes Selbstbild. Dieser spricht bei Homosexualität von einer „angeborenen Anomalie“, die „Stiefkinder der Natur“ hervorbringe. „Therapeutische“ Wirkungen versprächen mitunter Hypnose oder Bordellbesuche bei Frauen.Literatur als Ausgleich für all das, was ihm das reale Dasein verwehrtMan kann sich ohne viel Fantasie vorstellen, wie nachhaltig die Rezeption dieses fragwürdigen Klassikers Manns Selbstentfremdung befördert. Nach der Heirat mit der Millionärstochter Katia Pringsheim dient ihm seine Literatur als Ausgleich für all das, was ihm das reale Dasein verwehrt. So etwa in seiner Novelle Tod in Venedig über die amourösen Gefühle eines alternden Schriftstellers. Nicht minder deutlich zeigt sich das Thema in der Erzählung Tonio Kröger. Seine eigene Jugend darin verarbeitend, berichtet der Schriftsteller von der Anziehung eines Schuljungen zu einem Klassenkameraden. Es handelt sich um das „suggestive, melodische und wehmütige Lied eines Außenseiters“ und zugleich „ein identifikatorisches Angebot für alle, die ähnlich empfinden“, wie er später sagt. All diese Aufrisse zu homoerotischem Begehren stellen nur die offensichtlichsten in einem von Lahme ausgiebig interpretierten Œuvre voller versteckter Anspielungen dar.Dass das Werk mit seinen kuriosen Versuchen zur Camouflage dem privaten Drama in nichts nachstand, veranschaulichen die zur TV-Soap taugenden Verwicklungen der eigenen Kinder: „Sein ältester Sohn lebt in aller Offenheit aus, was der Vater in sich niederringt, und schreibt unverschleiert darüber. Die älteste Tochter liebt ebenso leidenschaftlich wie vergeblich eine Frau, Pamela Wedekind, und heiratet den seinerseits schwulen Gustaf Gründgens. Alle vier zusammen bringen homosexuelle Liebe und Generationenkonflikte auf die Bühne. (…) Als fiktiver Stoff wäre dies alles völlig unglaubhaft, eine Familiengeschichte mit grotesken Zügen. Die Wirklichkeit schert sich darum nicht.“Das Bewusstsein einer uneinholbaren, verlorenen UnschuldJe mehr der eitle Autor die Wahrheit über sich und sein Umfeld zu verschleiern sucht, desto mehr scheint sie ihn einzuholen. Indem Lahme seinen Fokus genau auf diese prekäre Psyche legt, führt er uns zugleich das Allzumenschliche hinter der Jahrhundertikone vor Augen. Ähnliches lässt sich übrigens auf dem Feld seiner politischen Wankelmütigkeit feststellen. Gewiss, heute muss man Werk und politische Reden des seit 1938 im US-Exil lebenden Romanciers als eines der wichtigsten künstlerischen Bollwerke gegen Hitlers NS-Staat ansehen. Davor gab es aber auch den Thomas Mann, der noch begeistert den Ersten Weltkrieg als Erlösung der Zivilisation heraufbeschwor. Oder jenen Mann, der sogar kurzzeitig Zweifel an seinem Urteil über die Faschisten hegt und sich fragt, ob die „Entjudung der Justiz“ nicht doch eine gute Idee sei.Und so ergibt sich mehr und mehr das intime Bild einer Persönlichkeit jenseits der schillernden Fassade eines Weltliteraten. Über Jahrzehnte hinweg nahm man seine Modernität in seinen epischen Gesellschaftspanoramen Buddenbrooks und Der Zauberberg wahr. Obwohl Lahme es so nicht expliziert, tritt mit dieser Biografie nun eine ganz neue Modernität Manns hervor. Sie äußert sich in seiner eigenen Zwiegespaltenheit sowie in dem Bewusstsein einer uneinholbaren, verlorenen Unschuld. Eine Ahnung von Freiheit findet er allein im Schreiben. Seine Texte bieten ihm eine Heimat, die ihm die Wirklichkeit verschließt. Noch immer mögen in der Forschung die Widerstände gegen diese Lesart eines Gesamtwerks und seines Schöpfers groß sein, wie Lahme darlegt. Seinem ehrlichen, kompromisslosen Blick auf den Schriftsteller gebührt daher umso mehr Dank.Am Ende bleiben wohl zwei Fragen: Was hätte dieser Autor nicht alles verfassen können ohne seine inneren Hemmnisse? Oder andersherum: Worauf hätten wir verzichten müssen, wäre sein Schmerz nicht in eine derartig überwältigende Produktivität gemündet?Thomas Mann. Ein Leben Tilmann Lahme dtv 2025, 592 S., 28 €



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Von Veritatis

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