Julia Klöckner warf die Linke-Abgeordnete Cansın Köktürk wegen Verstoßes gegen die Kleiderordnung aus dem Bundestag: Palästina stand auf ihrem T-Shirt. Hier erklärt Köktürk, was sie Klöckner nach ihrem Rauswurf vorwirft
Die Linke Bundestagsabgordnete Cansın Köktürk
Foto: Presse
Cansın Köktürk schreibt auf ihrer Webseite, sie sei zuerst Sozialarbeiterin und dann Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Dort erklärt die Linke auch, warum sie eine Kuffiya, ein Palästinensertuch trägt. Diese Woche ist sie aber wegen eines T-Shirts in die Schlagzeilen geraten: Bundestagspräsidentin Julia Klöckner verwies sie des Saales, weil auf Köktürks Pullover der Schriftzug „Palestine“ zu lesen war.
Köktürk ist 31, sie stammt aus Bochum, leitete eine Flüchtlingsunterkunft und war Quartiersmanagerin. Von der Linkspartei ist sie schon einmal zu den Grünen gewechselt: Weil sie Sahra Wagenknechts Politik ablehnte. Seit 2023 ist sie aber wieder in der Linken, für die sie 2025 in den Bundestag gewäh
er in der Linken, für die sie 2025 in den Bundestag gewählt wurde.der Freitag: Frau Köktürk, Sie wurden aus dem Bundestag verwiesen, weil Sie ein „Palestine“-T-Shirt getragen haben. Was wollten Sie mit der Botschaft ausdrücken?Cansın Köktürk: Ich habe ein Shirt getragen, auf dem lediglich „Palestine“ steht – keine konkrete Forderung, nur die Benennung des Staates Palästina.Placeholder image-1Die deutsche Regierung hat bisher Palästina nicht als Staat anerkannt.Palästina wird bereits von 147 Staaten als eigener Staat anerkannt. Wie haben Sie den Rauswurf erlebt?An dem Tag musste ich mitanhören, wie der CDU-Außenminister bestätigte, dass Deutschland weiter Waffen an Israel liefern wird. In völliger Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber der Kriegsverbrechen, die in Gaza begangen werden, mit eben genau diesen deutschen Waffen. Und in völliger Gleichgültigkeit gegenüber den 50.000 Kindern, die schätzungsweise schon getötet oder verletzt worden sind. Und dann fällt der Bundestagspräsidentin Frau Klöckner nichts Besseres ein, mich aus der Sitzung zu werfen wegen einer Kleiderordnung, die so gar nicht existiert.Eine offizielle Kleiderordnung für den Bundestag gibt es nicht, aber in den Verhaltensregeln heißt es: „Die Kleidung und das Verhalten müssen der Würde des Hauses entsprechen.“ Ja. Und Julia Klöckner warf mir vor, ich hätte „die Würde des Hauses“ verletzt.Was denken Sie über diesen Vorwurf?Wer ein stillschweigender oder aktiver Komplize eines laufenden Völkermordes ist, braucht mir nichts von der Würde des Hauses zu erzählen. Frau Klöckner hat sich selbst durch ihre Aktion entlarvt: Nämlich, dass sie nicht neutral ist und ihr Amt missbraucht.Sie haben bereits im März im Bundestag eine Kuffiya getragen, um auf die Lage in den palästinensischen Gebieten aufmerksam zu machen.Ich habe die Kuffiya getragen, um mich mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zu solidarisieren. Der Bundestag ist der Ort, an dem wir unsere Stimmen laut erheben müssen. Das erwarte ich von allen Abgeordneten, die von Menschenrechten und Solidarität sprechen. Im Übrigen zeigen die Reaktionen ganz klar, wo die Regierung und die Bundestagspräsidentin stehen: Faschisten sitzen im Plenarsaal, aber die Kuffiya oder das Wort „Palestine“ auf einem Shirt triggern.Die Linke hatte am Donnerstag eine aktuelle Stunde zur „humanitären Katastrophe in Gaza“ eingefordert. Wie nehmen Sie die Situation in Gaza wahr? Die Situation in Gaza ist das Ergebnis einer gezielten Politik der israelischen Regierung, die zu einer anhaltenden humanitären und politischen Katastrophe geführt hat. Die Toten sind aber keine „Kollateralschäden“. Sie sind das Ergebnis einer jahrelangen Besatzung, Apartheid in den besetzten Gebieten und militärischen Eskalation durch die israelische Regierung, die sich – auch durch den Terror der Hamas! – in einer Teufelsspirale befindet. In einigen Monaten werden alle schon immer dagegen gewesen sein, weil wir dann offiziell von Genozid sprechen werden. Dann ist es aber zu spät, denn die toten Kinder kommen nicht mehr zurück. Was braucht es jetzt?Wir müssen Druck machen, dass die humanitäre Hilfe gewährleistet wird. Das, was aktuell in Gaza ankommt, ist bei weitem nicht ausreichend. Menschen werden sogar während der wenigen Essensausgaben bombardiert. Das reicht aber nicht. Es braucht politischen Druck – echten Druck. Wie soll der genau aussehen?Deutschland muss endlich alle Waffenexporte nach Israel sofort stoppen. Es dürfen keine Rüstungsgüter an eine Regierung gehen, die völkerrechtswidrige Angriffe verübt und gezielt auf unschuldige Menschen schießt. Und wir müssen aufhören, legitime Kritik an Israels Politik pauschal zu diffamieren. Wir können hier nicht mehr von Selbstverteidigung sprechen. Auch das gehört zu einer ehrlichen Debatte. Inwiefern wäre Israel – das auch ein Schutzraum für jüdische Menschen ist – ohne diese Waffenlieferungen gefährdet, etwa gegenüber einem aggressiven Iran?Israel besitzt bereits jetzt eines der am stärksten hochgerüsteten Militärs auf der Welt. Ein Stopp der Waffenlieferungen durch Deutschland würde das nicht verändern – aber es würde das Leid vor Ort verändern und ein klares Zeichen setzen, dass wir uns nicht an den Kriegsverbrechen der israelischen Regierung weiter beteiligen.Wie würde eine gerechte Lösung für Palästina und Israel aussehen, die die Perspektiven von beiden Seiten berücksichtigt?Eine gerechte Lösung für Palästina und Israel kann es nur geben, wenn sie auf dem Völkerrecht, der Menschenwürde und Gleichberechtigung aller Menschen basiert. Die Freilassung aller Geiseln und Gefangenen und vor allem die Wahrung der Menschenrechte für alle, egal ob Israeli oder Palästinenser, muss oberste Priorität haben. Was heißt das konkret?Israel muss sich vollständig aus den seit 1967 besetzten Gebieten – also dem Westjordanland, Ostjerusalem und Gaza – zurückziehen. Die militärische Kontrolle über das palästinensische Leben, die Strukturen der Apartheid, die Siedlungs- und Annexionspolitik müssen beendet werden. Und natürlich muss die Hamas handlungsunfähig gemacht werden, damit die Spirale aus Hass gestoppt werden kann.Alle Zivilist:innen in Israel und Palästina haben ein Recht auf ein Leben in Sicherheit – dies kann jedoch nicht durch militärische Dominanz, Bombardements und Blockaden entstehen, sondern nur durch Gerechtigkeit und die Anerkennung Palästinas als Staat im Rahmen einer Zweistaatenlösung. Zudem ist es wichtig, Zivilgesellschaft und Menschenrechtsorganisationen in Palästina und Israel aktiv zu fördern. Deutschland muss sich letztlich hinter das Völkerrecht stellen – gegenüber allen Seiten, nicht selektiv. Ich würde grundsätzlich auch empfehlen, sich mit der Geschichte Palästinas auseinanderzusetzen. Und die Situation hierzulande muss sich ändern.In Deutschland reagieren Behörden mit großer Härte auf propalästinensische Demonstrationen. Gleichzeitig sind auch antisemitische Vorfälle angestiegen und es gibt die Kritik, dass sich Teile der Protestbewegung kaum von islamistischen Gruppen abgrenzen. Wie nehmen Sie das wahr?Was wir aktuell erleben, ist eine zutiefst beunruhigende gesellschaftliche Verrohung – auf allen Ebenen. Doch statt mit Besonnenheit und Menschlichkeit zu reagieren, wird die Debatte in Deutschland immer härter, kälter – und oft entmenschlichend geführt. Ich sehe mit großer Sorge, dass sich in dieser Situation zwei Dinge gleichzeitig zuspitzen. Es gibt einen spürbaren Anstieg von Antisemitismus – der niemals relativiert oder geduldet werden darf. Jüdinnen und Juden müssen überall sicher leben können, ohne Angst. Punkt. In Washington kam es gar zu einem antisemitischen Mord.Das ist schockierend und absolut inakzeptabel. Ich verurteile diesen Mord auf das Schärfste – Antisemitismus, Hass und Gewalt gegen Jüdinnen, Juden und Israelis dürfen niemals relativiert oder geduldet werden, egal wo sie stattfinden. Unsere Kritik an der israelischen Regierung und unser Engagement für die Rechte der Palästinenser*innen rechtfertigt niemals Hass gegen Jüdinnen, Juden und Israelis – weder in Deutschland, noch in den USA, noch sonst irgendwo auf der Welt.Was spitzt sich noch zu? Ich sehe gleichzeitig eine enorme Entmenschlichung gegenüber Palästinenser:innen – ein erschreckendes Maß an Gleichgültigkeit gegenüber der kollektiven Bestrafung eines ganzen Volkes. Wenn Menschen, die sich für palästinensische Leben einsetzen, als Gefahr, als Extremisten, als „Unruhestifter“ diffamiert werden, dann läuft etwas massiv schief. Protest ist kein Extremismus, er ist nötig. Dass propalästinensische Demonstrationen systematisch verboten, überwacht oder kriminalisiert werden, ist ein Angriff auf die demokratische Grundordnung. Viele dieser Proteste werden von jungen Menschen getragen – oft mit Migrationsgeschichte, oft erstmals politisch aktiv. Diese Stimmen brauchen Schutz, nicht Stigmatisierung. Natürlich müssen wir uns dabei klar abgrenzen – von jeder Form islamistischer Vereinnahmung, von Antisemitismus, von Gewaltverherrlichung. Aber diese Verantwortung haben auch Behörden und Politik.Inwiefern?Behörden und Politik müssen differenzieren, zuhören, deeskalieren – und nicht pauschal mit Repression reagieren. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der wir das Leid aller Menschen sehen können. Was wir brauchen, ist keine lautere Polizei – sondern eine lautere Zivilgesellschaft. Wie kann man in Deutschland Räume schaffen, in denen sowohl die Erinnerung an die Shoah und die traumatischen Erfahrungen jüdischer Menschen wie auch die Stimmen der palästinensischen Zivilbevölkerung gehört werden – ohne dass das eine gegen das andere ausgespielt wird? Das ist eine der zentralen Fragen unserer Zeit – und ehrlich gesagt: Wir sind in Deutschland bisher weit davon entfernt, sie auf würdige, gerechte Weise zu beantworten. Die Shoah ist ein beispielloses Menschheitsverbrechen. Ihre Erinnerung ist unantastbar – nicht als Ritual, sondern als Verpflichtung: Nie wieder Faschismus. Nie wieder Entmenschlichung. Nie wieder Wegsehen. Doch gerade deshalb muss diese Erinnerung offen sein für die Fragen der Gegenwart. Wenn „Nie wieder“ ernst gemeint ist, dann muss es auch für Palästina gelten. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Erinnerung an die Shoah gegen das Erinnern an Nakba, Besatzung, Blockade ausgespielt wird – oder andersherum. Das eine macht das andere nicht kleiner.Was bedeutet das für linke Solidarität?Linke Politik darf nicht in dieser alten Lagerlogik hängen bleiben. Es liegt eine tiefere Menschlichkeit darin, wenn wir anerkennen, dass unterschiedliche Geschichten von Leid, Vertreibung und Überleben gleichzeitig wahr sein können. Das geht aber nur, wenn wir aufhören, Menschen in politische Lager zu zwingen. Wenn ein palästinensisches Kind in Berlin nicht mehr erklären muss, dass es kein Antisemit ist, nur weil es über seine getötete Tante in Gaza spricht. Und gleichzeitig wenn auch jüdische Menschen keine Angst haben müssen. Linke Solidarität kann nur auf einem Prinzip beruhen: Gleiche Rechte für alle Menschen, überall. Wir stehen nicht „zwischen den Fronten“ – wir stehen auf der Seite der unschuldigen Menschen, die dieses Leid ertragen und sterben mussten. Diese Forderungen sind nicht nur links oder Parteipolitik, sie zeigen was es heißt, Mensch zu sein.Die öffentliche Diskussion über den Nahostkonflikt ist in Deutschland oft emotional, kompliziert und polarisiert. Nehmen Sie aktuell eine Veränderung im Diskurs wahr?Ja, der Diskurs verändert sich. Und so schmerzhaft, so hart und polarisiert vieles gerade ist: Ich spüre auch, dass etwas in Bewegung kommt. Was genau?Menschen beginnen hinzuschauen, leider erst viel zu spät. Es schockiert mich und macht mich sehr wütend, dass sie nicht eher aufgestanden sind. Die israelische Regierung sagt öffentlich, was sie mit Gaza und den palästinensischen Menschen vorhat. Aber viele merken zum ersten Mal: Wir können nicht mehr wegschauen. Nicht vor dem Leid in Gaza. Nicht vor der Besatzung. Nicht vor den Stimmen, die jahrzehntelang ignoriert oder zum Schweigen gebracht wurden. Wenn wir als Linke einen Anspruch haben, dann den: nicht zu spalten, sondern zu verbinden. Nicht zu belehren, sondern zu ermöglichen. Und immer wieder zu sagen: Mensch sein heißt, auf Leid zu reagieren – egal, woher es kommt. Das ist der Wandel, den ich sehe.