Im zweiten Anlauf wählt der Bundestag Friedrich Merz zum Kanzler. Doch „Abweichler“ hat es auch dabei gegeben. Was sind ihre Motive? Welche Rolle spielte Die Linke? Und woran kann sich die nächste Krise von CDU, CSU und SPD entzünden?


Die Stirn noch in Zweifelsfalten, den Blick zum neuen Unions-Fraktionschef Jens Spahn empor gerichtet: Friedrich Merz nach seiner Wahl zum Bundeskanzler im zweiten Anlauf, umringt von seinen Kabinettsmitglieder Thorsten Frei, Dorothee Bär, Johann Wadephul und Alexander Dobdrindt

Foto: Lisi Niesner/picture alliance/Reuters


Am Tag vor der Kanzlerwahl sprach Friedrich Merz ein paar seltsame Worte. Saskia Esken, Lars Klingbeil, Markus Söder und er hatten zur Unterzeichnung des Koalitionsvertrags geladen, vorher zählte Merz auf, wer diesem Vertrag wie zugestimmt hatte: Bei der CSU der Parteivorstand, bei der CDU ein kleiner Parteitag, bei der SPD die Mitglieder per Befragung der Basis. „Eine besserer Legitimation für einen Koalitionsvertrag kann es nicht geben als ein so breites Votum“, sagte Merz.

Aber was meinte er damit? Das Mitgliedervotum der SPD? Dann hätte Merz recht: Zwar hatten sich nur 56 Prozent der Mitglieder beteiligt, aber jedes hatte die Möglichkeit dazu, besser als 85 Prozent Zustimmung kann die Legitimation für den Koalitionsvertrag tatsächlich kaum

einen Koalitionsvertrag kann es nicht geben als ein so breites Votum“, sagte Merz.Aber was meinte er damit? Das Mitgliedervotum der SPD? Dann hätte Merz recht: Zwar hatten sich nur 56 Prozent der Mitglieder beteiligt, aber jedes hatte die Möglichkeit dazu, besser als 85 Prozent Zustimmung kann die Legitimation für den Koalitionsvertrag tatsächlich kaum sein. Anders der kleine Parteitag der CDU: Wenn Delegierte aus der ganzen Republik für ein paar Stunden nach Berlin kommen, wie Anfang vergangener Woche, und dann einmal gesammelt die Hand heben, um den Koalitionsvertrag abzusegnen, sagt das schon weit weniger darüber aus, was die Basis der CDU von diesem Vertrag hält. Das gilt noch mehr in Bezug auf den schnöden Beschluss des Vorstands der CSU, der nicht verrät, wie die Breite ihrer Mitglieder wirklich zu dieser schwarz-roten Koalition, ihren Plänen und ihren bisherigen Taten steht – der Grundgesetzänderung zu Schuldenbremse und Sondervermögen etwa.An der festzuhalten, hatten Merz und die Union im Wahlkampf versprochen und dieses Versprechen nach der Wahl sofort gebrochen. Deswegen rumorte es in der CDU, es gab sogar Parteiaustritte, böse Briefe und Forderungen, über die Regierungsbeteiligung und den Koalitionsvertrag ebenfalls per Mitgliedervotum zu entscheiden wie die SPD. Diese Forderungen kamen vor allem aus Ostdeutschland, wo die CDU bei der Bundestagswahl fast überall der AfD unterlegen war. Tatsächlich wäre das Ergebnis eines solchen CDU-Mitgliedervotums sehr aufschlussreich gewesen.Aufschlussreich war dann das Votum der Bundestagsfraktionen der drei Parteien: 18 Abgeordnete verweigerten Friedrich Merz im ersten Wahlgang zum Bundeskanzler die Stimme, mindestens – es kann auch Ja-Stimmen aus der Opposition gegeben haben.Wankenküsschen zwischen Friedrich Merz und Saskia EskenEs war eine geheime Wahl, weswegen die Motive der mindestens 18 Merz-Kritiker im Dunkeln bleiben. Doch es ist unwahrscheinlich, dass gleich 18 von 208 Unions- und 120 SPD-Abgeordneten aus ein- und demselben Grund gegen Merz stimmten. Eine Mehrzahl von Motiven ist plausibel. Gebrochene Schulden-Wahlversprechen, vielleicht auch der Drang hin zu einer Zusammenarbeit mit der AfD in der Unions-Fraktion; ein Denkzettel für Merz‘ Brandmauer-Bruch im Januar bei den Sozialdemokraten, womöglich enttäuschte Hoffnungen auf Posten: Nach ihrer Stimmabgabe im zweiten Wahlgang zum Bundeskanzler trotteten Ex-Arbeitminister Hubertus Heil, Ex-Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Ex-Innenministerin Nancy Faeser gemeinsam zurück in den Plenarsaal.Drei Stimmen fehlten auch noch in diesem für Merz erfolgreichen zweiten Wahlgang von den insgesamt 328 schwarz-roten. Doch die im neuen Kabinett nicht berücksichtigten Heil, Lauterbach und Faeser als Rächer aus Karriere-Gründen? Unwahrscheinlich, ein hohes Maß an „staatspolitischer Verantwortung“ ist bei allen Dreien zu vermuten. Saskia Esken hätte allen Grund, sauer zu sein, aber mit kaum jemandem plauschte und herzte Friedrich Merz sich bei den Gratulationen nach seiner Wahl so innig wie mit der SPD-Chefin ohne Ministerinnenamt. Sie war eine der sehr wenigen Gratulantinnen mit Wangenküsschen, neben der neuen Bundesministerin für Forschung, Technologie und Raumfahrt, Dorothee Bär (CSU).Das war also der Start von Jens Spahn als Fraktionschef der UnionErst 18 und dann drei Stimmen gegen Friedrich Merz sind in jedem Fall ein Tiefschlag für die Fraktionschefs der Regierungsfraktionen. Vom Intriganzpotential des Neuen an der Spitze der Unions-Fraktion, Jens Spahn, und dessen eigenen Zukunftsambitionen war um seine Nominierung herum viel gemunkelt worden. In jedem Fall hat Spahn es nicht geschafft, seinem Parteichef Friedrich Merz einen galanten Start als Bundeskanzler zu organisieren, aber dafür sind Fraktionschefs da.Dafür war als parlamentarischer Geschäftsführer zuletzt auch Thorsten Frei dar, der Merz nun als Kanzleramtsminister dienen wird. Auf die Frage, wie viele Stimmen unterhalb der Kanzlermehrheit am 6. Mai verkraftbar wären, lächelte er vergangene Woche noch halb irritiert, halb belustigt. Und sagte, es werde jetzt wohl schon jeder um seine Verantwortung wissen. Eben so klang zuletzt stets auch Lars Klingbeil. Auf SPD-Seite dürften an Klingbeil, der den Fraktionsvorsitz nun an den ihm sehr vertrauten Matthias Miersch abgibt, einige ihr Mütchen zu kühlen gehabt haben. Parteichef Klingbeil und Generalsekretär Miersch vermochten es schon zu Beginn des Wahlkampfs nicht, die Kanzlerkandidatur-Frage Olaf Scholz oder Boris Pistorius früh zu klären oder zu ersticken. Das historisch schlechteste Wahlresultat folgte. Klingbeil riss den Fraktionsvorsitz an sich.Einer der Hauptverantwortlichen für das „desaströse, wirklich sehr schmerzhafte“ (Saskia Esken) Wahlergebnis ist jetzt Bundesfinanzminister, Vizekanzler und Parteichef. Und hat sich als solcher mit etlichen ihm sehr Vertrauten umgeben. Klingbeil ist daran gescheitert, das einzulösen, wovon er seit Wochen jedes Mal aufs Neue so eindringlich spricht: Dem Land und seinen Bürgern in solch international aufgewühlten und wirtschaftlich herausfordernden Zeiten schnellstmöglich und geräuschlos eine solide Regierung zu geben.Union und SPD sind angewiesen auf Linke und GrüneDiese Tonspur hatten sie in den Wochen seit der Bundestagswahl vom 23. Februar alle abgespult: Merz, Esken, zugespitzt und am unterhaltsamsten noch Söder: „Dies ist die letzte Patrone der Demokratie.“ Nach dem gescheiterten ersten Merz-Wahlgang stellte Söder sogleich die Wendung „Vorbote von Weimar“ in den Raum. Sein CSU-Landesgruppenchef im Bundestag war da optimistischer: „Schon die erfolgreichsten Weltraum-Missionen sind mit Verspätung gestartet“, sagte Alexander Hoffmann tatsächlich.Lars Klingbeil indessen trug die Beschwörung der „Herausforderungen“, vor denen das Land stehe, und von den Menschen, die das Land am Laufen halten, von einer „stabilen Regierung“ in den zurückliegenden Wochen derart in den immergleichen Stanzen vor wie Lars Klingbeil. Selbst sein Statement nach dem gescheiterten ersten Wahlgang im Bundestag begann er mit den „großen Herausforderungen“: „Deshalb ist es wichtig, dass Deutschland eine stabile Regierung bekommt, dass wir sehr schnell auch in zuverlässigen Strukturen arbeiten können und daran wirken, dass dieses Land stark ist und dass dieses Land gut regiert wird“, sagte Klingbeil.Doch dass dieses Land nun zunächst einmal überhaupt einigermaßen schnell einen Kanzler und eine Regierung bekommen hat, verdanken Union und SPD auch Linken und Grünen. Denn eine Zwei-Drittel-Mehrheit war nötig, um konform mit der Geschäftsordnung des Bundestags noch am selben Tag mit Merz in einen zweiten Wahlgang gehen zu können. Bei der Grundgesetzänderung nach der Bundestagswahl hatte man für so etwas noch extra den alten Bundestag bemüht. Zwar stimmte auch die AfD dafür, gleich und nicht erst in den nächsten Tagen in den zweiten Wahlgang zu gehen („Die Karten müssen auf den Tisch!“), doch mit der hatten sich Union und SPD, anders als mit Linken und Grünen, nicht zwischenzeitlich dazu beraten. Was die AfD-Reihen im Plenum feixen ließ („SED!“), als der neue parlamentarische Geschäftsführer der Union, Steffen Bilger, Linken und Grünen für diese Zusammenarbeit dankte. Doch auch der parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Christian Görke, musste sich beeilen, dieses Mitstimmen bei der Geschäftsordnung keinesfalls als eine Unterstützung für die Politik von Friedrich Merz erscheinen zu lassen. Sondern als einen Brandmauer-Akt gegen die AfD, deren „Lebenselexier“ die „Chaotisierung“ sei. Bis Ende 2025 soll die Schuldenbremsen-Reform mit Stimmen von Linken und Grünen verabschiedet werdenScheinbar chaotisiert schon deren bloße Präsenz die Verhältnisse. Eigentlich aber waren an diesem Tag dafür jene verantwortlich, die in Dauerschleife Stabilität beschwören: Für den hohen Ton, den Merz, Frei oder Klingbeil dabei anschlagen, sind sie erstaunlich naiv in diese Regierung gestartet.Und die nächste „Herausforderung wartet“ schon: „Wir werden eine Expertenkommission unter Beteiligung des Deutschen Bundestags und der Länder einsetzen, die einen Vorschlag für eine Modernisierung der Schuldenbremse entwickelt, die dauerhafte zusätzliche Investitionen in die Stärkung unseres Landes ermöglicht“, steht im Koalitionsvertrag, vor allem aber weiter: „Auf dieser Grundlage wollen wir die Gesetzgebung bis Ende 2025 abschließen.“ Was geschieht wohl, wenn die Union an einer grundlegenden Schuldenbremsen-Reform in den verbleibenden sieben Monaten dieses Jahres das Interesse verliert? Auch deshalb, weil es dafür wieder die Stimmen Grüner und Linker bräuchte, und sich CDU und CSU sparen wollen, von der AfD ein weiteres Mal als mit gerade denen im Bunde vorgeführt zu werden? Wie würde Finanzminister Lars Klingbeil es wohl seiner SPD verkaufen, ließe die Union die Schuldembremsen-Reform platzen, weil die Forderungen Linker und Grüner an diese Reform unerfüllbar seien, und weil die Union so endlich einmal wieder Profilierung gegenüber der eigenen Klientel betreiben könnte?



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Von Veritatis

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