Sebastian Haffners jetzt erschienener Roman „Abschied“ fängt in knalligen, gewitzten Sätzen das Lebensgefühl junger Menschen 1931 ein und nimmt die Zukunft vorweg


Ein Straßencafé bei Nacht in Paris

Foto FOx Ohotos/Hulton Archiv/Getty Images


Paris, 1931: Der 24-jährige Raimund Pretzel besucht „Teddy“, die aus Österreich stammende Jüdin Gertrude Joseph. Morgen muss der angehende Jurist nach Berlin zurück. Teddy will in Frankreich bleiben. Raimund ist unsicher, ob die zarte Studentin seine Liebe erwidert, steht sie doch im Zentrum ihrer Clique, einer Gruppe junger Bohemestudenten. Eifersüchtig analysiert er jede Regung und jedes Wort der vermeintlichen Nebenbuhler. Von seinen letzten Stunden in Paris und seinen Gefühlen zu Teddy, die eine Wegbegleiterin bleiben wird, handelt dieser autobiografisch basierte Text.

Pretzel verfasste Abschied im Herbst 1932. 1938 verließ er Deutschland wegen der Nazis und avancierte in England unter dem Namen Sebastian Haffner zum begnadeten Journalisten

adeten Journalisten. Jetzt hat sein Sohn Oliver Pretzel das handgeschriebene Manuskript zur Veröffentlichung freigegeben, das Haffners frühes Talent unter Beweis stellt. Wie schon in seinen posthum herausgegebenen „Erinnerungen 1914 – 1933″, Geschichte eines Deutschen, beeindruckt er mit präzisen Beobachtungen und schnellen Dialogen. In Abschied dreht sich vieles um die Liebe und noch nicht um die Politik, gleichwohl schildert er das Lebensgefühl suchender junger Menschen in Umbruchszeiten: Die Nachwehen des Ersten Weltkriegs sind spürbar, während sich der Zweite atmosphärisch bereits ankündigt. „Ich dachte, dass morgen alles vorbei war, und ich dachte daran, wie allein ich jetzt war, und auch des Todes gedachte ich …“Die Clique lässt sich treiben zwischen Uni und Pariser NachtlebenDie Clique lässt sich treiben zwischen Uni und Pariser Nachtleben. Mademoiselle Gault borgt Raimund ihre Armbanduhr, ein kapriziöses Ding, ständig geht sie nach. Damit kann der Verliebte die Zeit bis zum Abschied aber nicht aufhalten. Franz Frischauer, der schöne Süddeutsche, wird auf nächtlicher Tour seiner feinen Hose verlustig und wacht mit kaltem Hintern in einem Brunnen am Pont-Neuf auf. Er ist sauer auf Paris, drischt naiv Phrasen von Flammenwerfern und vom Kriegmachen. Mr. Andrews bleibt englisch dezent, Horrwitz mit seinem nicht bekannten deutschen Vornamen ist brav. Ob sie ihm Teddy nach dem Abschied abspenstig machen werden?Es wird viel geraucht („Giftsaugen“, so Haffner), natürlich Gitanes, je nach Portemonnaielage gut gespeist – nur Teddy mag immer nichts essen –, es wird parliert, getriezt und philosophiert. Haffners Figuren „tapsen“ die engen Stiegen ihres Hotels hinauf und hinab, Auftritt und Abgang wie im Theater. Der Beobachter alias Raimund Pretzel ist witzig, beleidigt, selbstkritisch und neben beglückt vor allem melancholisch, denn bald ist es aus mit seiner Teddy. In seinem prall gepackten Koffer „geht es zu wie in einem Konzentrationslager oder in einem Flüchtlingszug“ – einer dieser knalligen Sätze, die sich auf die Vorzeit beziehen und die schreckliche Zukunft vorwegnehmen. Kurz vor Schluss zeigt die weltgewandte Teddy ihm noch Schönheiten von Paris. Sie beherrscht Französisch und Englisch mühelos, er versteht oft nur Bahnhof.Wie Raimund an seinen Zigaretten, saugt Haffners Leserschaft jede Minute auf, bis zum Bahnsteig im Gare du Nord. Und dann: der Abschied. Noch wissen die beiden Verliebten nicht, dass in Deutschland die Faschisten die Macht ergreifen und ihre Leben radikal ändern werden. Dieser wunderbare Roman schildert fast hellseherisch auch den Abschied von der Welt, wie wir sie kannten: Adieu Liberté.Abschied Sebastian Haffner Hanser 2025, 192 S., 24 € Leseprobe



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Von Veritatis

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