Die Bundesregierung plant eine „Rückführungsoffensive“, um die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen. Dabei kommt es in vielen Fällen zu Gewalt, an der die Betroffenen noch lange leiden
Die Wunden, die das Gewaltmonopol des Staates schlagen kann, verheilen nie
Foto: Peter van Agtmael/Magnum Photos/Agentur Focus
Lamin Kanteh ist 25, er hat eine Ausbildung zum Bäcker absolviert und könnte eigentlich topfit sein. Wäre da nicht sein Arm. Der wurde ihm vor sechs Jahren bei einer versuchten Abschiebung von der Polizei gebrochen. Der Bruch ist nie ganz verheilt. Jeden Tag lebt er seitdem mit Schmerzen, hat mehrere Jobs verloren, kann keinen Sport machen und auch sonst fast nichts, was andere in seinem Alter gerne tun. Stattdessen sind Tabletten zu seinem „besten Freund“ geworden, sagt er.
Gerade steckt Lamin in einer Maßnahme für behinderte Menschen, die das Jobcenter organisiert. Ausgelaugt kommt er abends nach einem langen Tag nach Hause. Noch drei Monate gehen seine Leistungen, dann muss er schauen, wo er bleibt. 20 Bewerbungen hat er bereits verschickt, alle haben
alle haben ihm abgesagt.Kanteh wurde 2000 in Gambia geboren. Als Jugendlicher floh er in Richtung Europa und kam mit sechzehn auf einem Boot in Italien an. Wegen der prekären Versorgung von Geflüchteten in Italien machte er sich 2019 weiter auf den Weg nach Deutschland. Hier wird ihm eine Tuberkulose diagnostiziert, er kommt in medizinische Behandlung. Wegen der Dublin-Verordnung wird sein Asylantrag abgelehnt – er war ja vor Deutschland schon in Italien aufgenommen worden, er soll dorthin abgeschoben werden. Doch sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich, bis ihm eine Transportunfähigkeit attestiert wird. Trotzdem will ihn die Polizei am 12. Dezember 2019 abschieben.Die Beamten suchen ihn in seiner Unterkunft in Heidelberg auf und bringen ihn zum Frankfurter Flughafen. Aufgrund seiner Erkrankung schafft es Lamin nicht, alleine zu laufen. Daraufhin bringen die Polizist:innen ihn gewaltvoll zu Boden und brechen ihm den linken Arm. Lamin wird ins Krankenhaus gebracht, seine Abschiebung vorerst ausgesetzt. Schließlich kriegt er eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis.Doch er versucht, gegen das Vorgehen der Polizei gerichtlich vorzugehen. Er bekommt schnell zu spüren, dass er in diesem Rechtssystem keine Chance hat. Es bleibt ein Gefühl von Einschüchterung zurück. Und die Schmerzen in seinem Arm.Lamins Geschichte ist nur eine von vielen. Seit 2019 wurden mindestens 70.000 Abschiebungen aus Deutschland durchgeführt. Sie treffen Menschen in ganz unterschiedlichen Lebensumständen: Familien mit Kindern, Menschen in Arbeit und Ausbildung, Menschen mit psychischen oder körperlichen Erkrankungen, Schwangere, Rentner:innen und auch Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind.„Abschiebungen sind für die Betroffenen eine schwere Gewalterfahrung“, sagt Sebastian Rose vom „Abschiebungsreporting NRW“, einem Projekt, das die Abschiebepraxis in Nordrhein-Westfalen dokumentiert. Zu der ohnehin schon gewaltvollen Erfahrung des plötzlichen Eingriffs der Polizei kommt oft auch noch direkte körperliche Gewalt wie bei Lamin. Dazu liegen aber keine umfassenden Daten vor. Nur die Bundespolizei, die für Abschiebungen zuständig ist, die über Flughäfen erfolgen, veröffentlicht Zahlen zur körperlichen Gewaltanwendung: Im ersten Quartal 2025 wurde bei 6,5 Prozent der Abschiebungen Gewalt angewandt. Dabei fällt auf, dass Gewaltanwendungen bei einigen Zielländern besonders oft vorkommen: Bei Abschiebungen nach Algerien und Marokko wird bei über 60 Prozent der Fälle Gewalt angewandt, dahinter kommen Gambia (36,2 Prozent), Tunesien (20,7 Prozent) und Nigeria (20 Prozent). Das zeigt, dass die Polizei besonders bei Schwarzen Menschen und Menschen aus Nordafrika Gewalt anwendet – ein möglicher Hinweis auf Rassismus bei der Polizei, ein altbekanntes Problem.Abschiebungstermine werden in der Regel streng geheim gehalten. „So kommt es zu überfallartigen, plötzlichen Abschiebungen“, sagt Rose.So einen „Überfall“ hat auch Nino Gogilashvili erlebt. Die Georgierin lebte mit ihrem Mann und ihren sechs- und zehnjährigen Söhnen drei Jahre in einer Gemeinschaftsunterkunft in Leipzig. Ihre Kinder gehen zur Schule, ihr Mann arbeitet, sie lernt Deutsch. Vor einem Jahr erhält Nino dann die Diagnose: Sie hat einen Gehirntumor. Doch da Georgien als sicheres Herkunftsland eingestuft wird, bekommt die Familie keine Aufenthaltserlaubnis.In der Nacht des 27. Januar erscheint die Polizei in der Gemeinschaftsunterkunft. Da Gogilashvili über Schmerzen klagt, wird sie zunächst ins Krankenhaus gebracht und erhält eine Reiseunfähigkeitsbescheinigung. Das hält die Behörden nicht davon ab, ihre Kinder und ihren Mann von ihr zu trennen und abzuschieben. Gogilashvili beschreibt die Abschiebung ihrer Familie als „absolute Gräueltat“. Im Mai hält sie die Trennung von ihrer Familie dann nicht länger aus: Sie kehrt zu ihrer Familie nach Georgien zurück. In Georgien ist die medizinische Versorgung nicht gut – sie und ihre Familie werden wieder fortmüssen, in ein anderes Land, um die Behandlung ihres Tumors fortzusetzen.Die Abschiebung von Familien in der Nacht, die Abschiebung von Schwerkranken und das Auseinanderreißen von Familien sind eigentlich Praktiken, von denen die sächsische Regierung absehen wollte, wie es ihr „Leitfaden zur Rückführung“ festhält. Trotzdem ist die Trennung von Familien immer noch gängige Praxis, genau wie die Abschiebung von Schwerkranken. Ermöglicht wird die Abschiebung kranker Menschen durch einen Paragrafen des Aufenthaltsgesetzes, der zur Folge hat, dass erst auf Initiative der kranken Person bewiesen werden muss, dass sie überhaupt krank ist. Dafür braucht es jedoch finanzielle Ressourcen für Arztbesuche und Zugang zu Fachärzt*innen. Häufig werden auch Gutachten von Firmen ausgestellt, die eigens im Auftrag der Behörden arbeiten. „Wie viel Geld sie dafür erhalten, ist uns nicht bekannt. Aber viel deutet darauf hin, dass Kosten hier keine große Rolle spielen, bei dem Ziel, auch schwer erkrankte Menschen möglichst abzuschieben“, sagt Rose.Die Gewaltanwendung, die Familientrennung, die Abschiebung kranker Menschen, Abschiebungen bei Nacht – all das ergibt das Bild eines inhumanen Systems. Laut Rose dienen Abschiebungen hauptsächlich der Symbolpolitik, für die Migrationsbewegung insgesamt spielen sie kaum eine Rolle. Nur ein bis drei Prozent der nichtdeutschen Staatsangehörigen werden aus Deutschland abgeschoben, weit über 95 Prozent verlassen Deutschland selbstbestimmt. „Daher ist die Zahlenfokussierung bei Abschiebungen in der Politik vor allem auch Symbolpolitik. Für die Betroffenen sind Abschiebungen aber kein Symbol, sondern eine schwere, oft noch Jahre oder jahrzehntelang wirkende Erfahrung“, so Rose.Diese strukturelle Gewalt bei Abschiebungen, die keine gesellschaftlichen Probleme lösen, die mit Migration einhergehen, sondern nur unnötiges Leid für die Betroffenen bedeuten, ist Ergebnis der migrationsfeindlichen Politik der letzten Jahre. Dieser Kurs wird unter der neuen Regierung weiter verschärft. Auch die Diskussionen über Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien und über das Drittstaatenmodell, also die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten, würden eine neue Phase der unmenschlichen Asylpolitik einleiten.Die Geschichten von Lamin Kanteh und Nino Gogilashvili sind keine Einzelfälle, sie sind symptomatisch für ein System struktureller Gewalt, das Menschen zu Zahlen reduziert, mit denen Stimmung gemacht werden soll.