Was würden Sie tun, wenn Sie in ein Stiegenhaus kommen, in dem Ihnen der markante Geruch von Urin und Verwesung entgegenschlägt? – Sie würden wohl, so rasch Sie können, das Weite suchen. Klaus-Peter Lipphaus musste genau das Gegenteil tun: Als er die geöffnete Wohnung betrat, fühlte sich der Spannteppich im Vorzimmer an wie ein Schwamm, beim Gehen schmatzte es. Im Wohnzimmer lag dann ein Mann mittleren Alters, der dort schon viele Wochen liegen musste, und dessen Körpersäfte buchstäblich aus ihm herausgeronnen waren und sich über die Räume verteilt hatten. Lipphaus graute es vor allem davor, durch dieses Vorzimmer wieder hinausgehen zu müssen.

Buchbesprechung von Werner Grotte

So beschreibt der Autor als frischgebackener Schutzpolizist seine erste „Leichensache“, wie ein ungeklärter Todesfall im Polizei-Jargon heißt. Und es sollte in den nächsten vier Jahrzehnten bei Weitem nicht sein letzter sein.

“Der Kommissar” und “Schimanski” als Appetitanreger

Geboren im Juli 1959 im Bochum im Ruhrpott (NRW) lernte Lipphaus ursprünglich den Beruf des Groß- und Außenhandelskaufmannes, bewunderte im Stillen aber den Nachbarn, der Polizist war. Zugleich liefen im damals noch schwarz-weißen Fernsehen die ersten TV-Krimis mit Eric Ode als „Der Kommissar“ und schließlich die ersten „Tatort“-Folgen mit Götz George als „Schimanski“, letztere ebenfalls im Ruhrpott-Milieu.

Ausbildungs-Quartier in ehemaligen Kriegsgefangenen-Baracken

1978 zog er mit seiner späteren Ehefrau in deren kleinen Wohnung zusammen, und als dann die Einberufung zum Wehrdienst ins Haus flatterte, erinnerte sich der 19-Jährige daran, dass man den Wehrdienst umgehen konnte, wenn man sich zur Polizeiausbildung meldete. Ein Wink des Schicksals – und so meldet sich Lipphaus zur Ausbildung als Polizeivollzugsbeamter, schaffte die schwierigen Auswahl-Tests und wurde schließlich zur Ausbildung übernommen. Untergebracht waren die angehenden Polizisten in zugigen Holzbaracken, die während des Krieges russischen Kriegsgefangenen und danach angeklagten Ex-Nazis als Quartier gedient hatten.

Als Polizeischüler gegen 20.000 entschlossene Atomkraftgegner

Schon in diesen ersten drei Jahren merkte Lipphaus recht rasch, dass der Polizei-Alltag wenig mit den TV-Krimis zu tun hatte. Da er kein Abitur hatte, musste er dieses in einem sechsmonatigen Lehrgang nachholen, und irgendwann ging es dann auch zu den ersten Einsätzen. Die späten 1970er und frühen 1980er-Jahre waren geprägt von linken Friedensmärschen und Anti-Atomkraft-Demonstrationen, die nicht selten in gewalttätige Tumulte ausarteten. So fand sich der junge Lipphaus schließlich mit hunderten anderen Polizeischülern und „echten“ Polizisten in Gorleben im Wendland (Niedersachsen) einer Armee von rund 20.000 entschlossenen Kernkraftgegnern gegenüber, die gegen den Bau des dortigen Atommüll-Endlagers und einer Wiederaufbereitungsanlage demonstrierten und zu diesem Zweck an Ort und Stelle eine Art „Stadt“ aus Holzhütten und Barrikaden, die „Republik Wendland“ mit eigenen Ausweisen, aus dem Boden gestampft hatten und auch nicht vorhatten, zu weichen.

Steine, Flaschen und Metallkugeln aus Katapulten gegen Polizisten

Wie erwartet, eskalierte die Lage völlig, als die Beamten abkommandiert wurden, die „Republik“ aufzulösen und die Hütten zu demontieren. Wie bei fast jeder dieser Demonstrationen damals gab es eine kleine, aber äußerst gewaltbereite Gruppe, die die weitgehend friedlichen Proteste dazu nutzten, ihr eigenes Süppchen zu kochen und die Polizisten mit Farbbeuteln, Steinen, Flaschen, Feuerwerkskörpern und Metallkugeln, abgeschossen aus Katapulten, zu beschießen, was nicht selten zu üblen Verletzungen führte. Mitten im Getümmel sah sich Lipphaus plötzlich einem Vermummten gegenüber, der eine mit einem Plastikbeutel getarnte Eisenstange gegen ihn einsetzte und ihm dermaßen hart auf den Kopf schlug, dass das Visier seines Helms abbrach und er benommen zu Boden ging. Und das war erst der erste Einsatz von vielen dieser Art.

Bochum als Brennpunkt der Hausbesetzer-Szene

So sah also die Feuertaufe für die Jungpolizisten aus, die sich auch bald mit den blutigen Anschlägen der rechtsextremen „Wehrsportgruppe Hoffmann“ (Anschlag auf das Münchener Oktoberfest 1980 mit 13 Toten und 221 Verletzten) und der ultralinken „RAF“ („Rote Armee Fraktion“) mit etlichen brutalen Morden konfrontiert sahen. Als „Lippi“ 1981 schließlich als junger Familienvater zum frischgebackenen Polizeihauptwachtmeister übernommen wurde, galt Bochum nach Berlin und Hamburg als dritte Metropole der Hausbesetzer-Szene mit rund 150 besetzten Wohnungen oder Gebäuden. Neben den Demo-Krawallen galt es nun auch im Rahmen der „Einsatzhundertschaft“ (EHU), solche besetzten Objekte zu räumen, was auch nicht selten in Gewaltausbrüchen mündete.

Familienleben und Freizeit auf Sparflamme

Neben der latenten Möglichkeit, im Dienst verletzt zu werden, blieb das Familienleben vielfach auf der Strecke, da die meisten Demos, Aufmärsche oder Hooligan-Schlägereien nach Fußballmatches, aber auch viele andere Straftaten, am Wochenende stattfanden. Zu Weihnachten oder Silvester sah es nicht besser aus – man konnte sich bestenfalls aussuchen, an welchem der beiden Anlässe man sich zum Dienst einteilen ließ.

Einsätze, die man nie wieder vergisst

„Neben schlimmen Erlebnissen wie tödlichen Verkehrsunfällen, Suiziden und anderen ‚Leichensachen‘ waren insbesondere die Einsätze belastend, bei denen Kinder zu Schaden kamen“, erinnert sich Lipphaus an einen besonders erschütternden Einsatz, bei dem er und sein Kollege zu einer Bochumer Wohnung gerufen wurden, aus der Nachbarn seltsame Geräusche vernommen hatten – zuerst Weinen und Jammern und dann nichts mehr, seit zwei Tagen. In der Wohnung lebten angeblich eine junge Mutter und ihr zwei- bis dreijähriger Sohn.

Dreijähriger musste sich tagelang von seinen Ausscheidungen ernähren

Da möglicherweise ein Menschenleben in Gefahr war, trat Lipphausen kurzentschlossen die Tür ein – und fand eine Situation vor, die selbst hartgesottene Polizisten schockierte: Die ganze Wohnung war immens verdreckt und vermüllt, in einem sonst leeren kleinen Zimmer stand ein Kinderbett, auf der Matratze saß ein kleiner Bub, der, ebenso wie das Bett samt Umgebung, mit Kot verschmiert war. Es wurde immer offensichtlicher, dass das Kind sich mindestens zwei Tage und zwei Nächte von seinen eigenen Ausscheidungen hatte ernähren müssen, da die Mutter ihn einfach ohne Vorräte alleingelassen hatte. Den Beamten blieb nichts anderes übrig als irgendwo in der Wohnung rasch saubere Windeln und Gewand aufzutreiben, das Kind zu reinigen, anzukleiden, zu füttern und schließlich der alarmierten Jugendhilfe zu übergeben. Was aus dem Buben geworden ist, weiß Lipphaus nicht.

Obdachloser “Graf” entpuppte sich als echter Baron

Es gab auch weniger deprimierende Einsätze – etwa in der Obdachlosen-Szene, deren Angehörige im Winter oft sogar in die Schächte der Fernwärme-Anlage kletterten, um dort warm übernachten zu können. Manche verstarben dort und wurden oft erst nach Monaten mumifiziert aufgefunden. Andere wurden von den mitfühlenden Beamten mit heißen Getränken und Imbissen versorgt oder sogar in „Schutzhaft“ genommen, um nicht im Freien zu erfrieren. Einer dieser Herren erzählte ihnen, er sei eigentlich der Spross einer adeligen Familie, habe sich aber von dieser abgewandt. Er hatte in der Szene den Spitznamen „der Graf“. Die Beamten hielten das für „Jägerlatein“ – bis eines Tages eine teure Limousine vor dem Wachzimmer hielt, eine edel gekleidete Dame entstieg, sich als Baronesse Soundso vorstellte und sich bei den Polizisten bedankte, dass diese ihren Bruder so human über den Winter gebracht hätten.

Der aufreibende Beruf fordert seinen Tribut

Lipphausen avancierte schließlich zum Kriminaldienst, jagte Schlepper- und Drogenschmuggler-Banden, arbeitete sich hoch in die Mordkommission, wurde sogar ihr Leiter – und zu guter Letzt sogar Chef eines Kriminalkommissariats mit sechs Mordkommissionen unter sich. Freunde kniffliger Mordermittlungen kommen bei den vielen bis ins Detail geschilderten Fällen voll auf ihre Rechnung – ein guter Magen vorausgesetzt. Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen schaffte er es, seine Familie mit dem aufreibenden Beruf irgendwie unter einen Hut zu bringen und eine Scheidung zu vermeiden. Gesundheitlich zeigte der körperlich wie seelisch aufreibende Dienst allerdings bedrohlichere Folgen – zwei Krebserkrankungen überlebte Lipphausen mit Glück. Dennoch ließ er sich nicht davon abhalten, auch in der Pension noch zwei Jahre als Experte für nicht aufgeklärte Fälle mitzuarbeiten und den einen oder anderen sogar aufzuklären. Eine “Work Life Balance” der besonderen Art.

Viele seelische Narben, aber keine Reue

„Nach fast 45 Dienstjahren war im Mai 2023 endgültig Schicht im Schacht. Meine Zeit als Polizist war vorbei; der Kommissar hatte ausgedient“, schreibt Lipphausen im Epilog des Buches. Der Beruf war für ihn trotz Stress, der hohen Verantwortung, den ständigen Überstunden und Sonderdiensten, immer mehr – nämlich eine Berufung. Er konnte Verbrechen zwar nicht verhindern, aber zumindest dafür sorgen, dass die Verbrecher erwischt und ihren (meist) gerechten Strafen zugeführt wurden. Und: Trotz der grausigen Spuren, die die vielen Fälle in seiner Seele hinterlassen hatten, würde er diesen Beruf wieder wählen, wie er versichert.

Den “wahren Schimanski” gab es schon 2017

Apropos Beruf: Der Riva-Verlag hatte bereits 2017 in einem ähnlichen Werk einen ernüchternden, aber aufschlussreichen Blick in den Polizei-Alltag eines Kriminalermittlers gewährt – der mittlerweile leider verstorbene Heinz Sprenger schilderte in “Der wahre Schimanski” seine “spektakulärsten Fälle als Duisburger Chefermittler”. Quasi ein Nachbar des Bochumer Kollegen Lipphausen also. Das Buch ist noch erhältlich.

Klaus-Peter Lipphaus, “Immer am Abgrund”, Riva Verlag, 212 Seiten, 20,00 Euro.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert