Ein Gastbeitrag von Vera Lengsfeld
Als mir der Europa-Verlag die eben erschienene Autobiografie der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni schickte, war ich erst genervt. Ich hasse Politiker-Biografien und war gerade nachhaltig durch Angela Merkels 700-Seiten-Opus abgeschreckt worden. Dann blätterte ich im Buch herum, las ein paar Seiten und war fasziniert. Ich ließ alle anderen Bücher liegen und las „Ich bin Giorgia“ von der ersten bis zur letzten Seite.
Das Buch ist nicht nur lebendig geschrieben, es offenbart eine der interessantesten Politiker-Persönlichkeiten, die der Politikbetrieb in Vergangenheit und vor allem Gegenwart zu bieten hat. Ich weiß, in Wikipedia steht, dass Meloni Gründerin einer „postfaschistischen“ Partei ist, aber wie fast alle Behauptungen dieser Art: ohne Beleg. Wer ihr Buch liest, sieht, wie absurd diese Behauptung ist. Meloni ist keine Linke, sie macht dem linken Zeitgeist, den sie für falsch und Schlimmeres hält, keine Zugeständnisse. Sie plädiert für Vernunft und Wahrheit (also Anerkennung des Faktischen) in der Politik. Das ist, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, das Einfache, das so schwer zu machen ist.
Im Eingangskapitel „Kleine Frauen“ beschreibt Meloni ihre Kindheit. Ihr Vater, ein „reueloser Atheist“, verließ die Familie, als Meloni zwei Jahre alt war. Sie wuchs mit Mutter, Großmutter und älterer Schwester auf. Den Vater, Rechtsanwalt, der nach einer Weltumseglung ein Restaurant in La Gomera aufmachte, sieht sie nur für zwei Wochen in den Sommerferien. Mit elf Jahren beschließt sie, den Kontakt zu ihm abzubrechen. Es ist charakteristisch für Meloni, dass sie in den paar Wochen auf der spanischen Insel Spanisch so gut gelernt hat, dass sie es heute fließend neben Englisch und Französisch spricht. Sie ist glücklich mit ihrer Frauenfamilie. Erst mit über 30 Jahren gesteht sie sich ein, dass der Verlust des Vaters sie mehr geprägt hat, als sie sich eingestehen wollte.
Als Kind war sie übergewichtig. Als sie eines Tages ein paar Jungs bat, mit ihnen Volleyball spielen zu dürfen, lehnten sie „die Dicke“ ab. Melonis Reaktion war, dass sie innerhalb kürzester Zeit 10 Kilo abnahm und trotz ihrer geringen Körpergröße eine gute Volleyballerin wurde.
Mit 15 schloss sie sich einer rechten Studentengruppierung an. Es wurde ihre zweite Familie. Viele ihrer damaligen Weggefährten sind heute in bedeutenden politischen Positionen: Parlaments- und Europaabgeordnete, Regionalpräsidenten, Bürgermeister, hohe Verwaltungsbeamte. Es war eine verschworene Gemeinschaft, in der einer auf den anderen aufpasste. In den 90er Jahren war es nicht ungefährlich, rechte Politik zu machen. Plakate kleben, wie Giorgia ihre Mitarbeit begann, konnte lebensgefährlich sein. Mehrere Mitstreiter wurden umgebracht. Erst als ein 19-Jähriger beim Plakatekleben von den Linken so zusammengeschlagen wurde, dass er tagelang im Koma lag und schließlich starb, besuchte der damalige Ministerpräsident Italiens den Jugendlichen im Krankenhaus, um ein Zeichen zu setzen, dass solche gewalttätigen Exzesse nicht länger geduldet würden. Das wirkte, von da an gab es „nur“ noch verbalen Totschlag.
In der Schule beteiligten sich auch einige Lehrer am Kampf gegen rechts. Meloni widerstand und beklagt heute, dass es den jungen Leuten an Mut fehlt. Sie glauben, dass sich anpassen die bequemere Option ist. Meloni widerspricht. Wer seine Individualität beschneidet, um dem Zeitgeist gefällig zu sein, amputiert sich selbst, indem er sich Ungerechtigkeiten und Gesetzesübertretungen beugt oder die Augen davor verschließt. Meloni ist überzeugt, dass ihre Bewegung „Menschen von höchster Integrität hervorgebracht hat“, denn sie haben für ihre Überzeugungen „Nachteile in Kauf“ genommen, was „Kühnheit und starke Motivation“ erfordert.
Als Studentin organisierte Meloni ein politisches Festival, das amtierende Politiker einlud, sich den Fragen der Studenten zu stellen. Auch Linke wurden eingeladen und kamen gern – bis auf einen. Umgekehrt wurden rechte Politiker von den Linken niemals zu Veranstaltungen gebeten. Dort gilt das „kein Podium bieten“.
Meloni machte sich einen Namen. Mit 21 hat man sie in den Rat der Provinz Rom gewählt. Mit 29 wurde sie Journalistin und Abgeordnete. Kaum gewählt, bestimmte sie der damalige Führer der Rechten, Gianfranco Fini, mit 29 Jahren Vizepräsidentin der Abgeordnetenkammer zu werden. Meloni, die den Parlamentsbetrieb erst kennenlernen musste, akzeptierte nur widerwillig, setzte sich aber sofort hin und studierte alles, was sie kriegen konnte, um die Aufgabe zu bewältigen. Sie wird 2008 die jüngste Ministerin der republikanischen Geschichte im Kabinett Berlusconi. Als Berlusconi stürzte und tausende linke Demonstranten vor dem Regierungspalast standen, verließen Berlusconi und seine Minister unter Polizeischutz das Gebäude durch die Hintertür. Nur Meloni ging mit einer Begleiterin unter Missachtung der Rufe der Polizisten durch die Vordertür und quer durch die Menge. Sie wird erkannt, für sie wird von der erstaunten Menge eine Gasse gebildet. Keiner tat ihr etwas. Es ist Melonis Erfahrung, dass man angegriffen wird, wenn man wegläuft, aber nicht, wenn man standhält.
Als Berlusconi müde wurde und keine Perspektive mehr bot, gründete Meloni im Dezember 2012 ihre eigene Partei: Fratelli d’Italia, heute die größte Partei Italiens. Im September 2020 wird Meloni als Vorsitzende der europäischen Konservativen und Reformer gewählt, der bedeutendsten konservativen Vereinigung Europas mit mehr als 40 europäischen und außerparlamentarischen Parteien. Sie ist die einzige Frau, die Vorsitzende einer nationalen und einer europäischen politischen Partei ist. Ihre Memoiren erschienen in Italien 2021. Da steht ihr der wichtigste Karriereschritt noch bevor. Seit 2022 ist sie die erste Frau an der Spitze der italienischen Regierung.
Es wird Zeit, sich mit ihren Positionen bekannt zu machen – jenseits von linker Demagogie und Wikipedia.
Geheim-Urteil gegen die AfD: Der Staat brandmarkt – aber die Begründung dafür verrät er uns nicht
CDU unterschreibt ihr Ende – Koalitionsvertrag macht sie endgültig zu rot-grünem Erfüllungsgehilfen
„UN-fähig“ in New York: Wie Merz Baerbock peinlich nach oben rettet – und was dahinter steckt
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Thüringen, ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Sie betreibt einen Blog, den ich sehr empfehle. Das neue Buch „Ist mir egal“ zu Merkel können Sie hier vorbestellen.
Bild: Alessia Pierdomenico / Shutterstock.com
mehr von Vera Lengsfeld auf reitschuster.de

Jewgenij Samjatin „Wir“ – eine frühe Dystopie
In einer Welt ohne Gefühle, in der Häuser durchsichtig und Menschen bloße Nummern sind, rebelliert der Mensch – und verliert. Der dystopische Roman erschien 1920 – und ist heute aktueller denn je. Von Vera Lengsfeld.

Die Einstufung durch den Verfassungsschutz ist auch ein Versagen der AfD
Die AfD muss endlich liefern – sonst verspielt sie ihre Rolle als echte Opposition. Politischer Instinkt, Strategie und Führung fehlen dort, wo sie jetzt am dringendsten gebraucht würden.

Ampel abgewählt – Ampel geliefert
Friedrich Merz versprach eine Politikwende – und liefert: Schulden, Steuern, Staatsüberwachung. Die neue Regierung ist nicht der Gegenentwurf zur Ampel, sondern ihre Weiterführung in Schwarz-Rot. Von Vera Lengsfeld.

Das BSW-Showdown in Thüringen
Nicht die Wähler, sondern das System ist das Problem: Das BSW scheitert nicht überraschend, sondern folgerichtig – an Intransparenz, Abschottung und einem inneren Kurs, der keinen Widerspruch duldet. Von Philipp Lengsfeld.

Die rechte Gefahr, die keine war
Wieder einmal sehnte Deutschland sich rechte Gefahr herbei: 20 Schulen in Duisburg wurden geschlossen, Politiker hyperventilierten, Medien beschworen den braunen Terror. Doch dann platzte der Ballon – alles erfunden.

Wie tief will die CDU noch sinken?
Zwischen Baerbock-Applaus und Gysi-Huldigung: Die Merz-CDU erreicht neue Tiefpunkte. Die Selbstaufgabe einer einst konservativen Partei schreitet ungebremst voran. Von Vera Lengsfeld.

Ein SED-Mann eröffnet als Alterspräsident den Deutschen Bundestag
Dass Gregor Gysi heute den Bundestag eröffnet, zeigt nur eines: In Deutschland darf alles vergessen werden – solange es dem Richtigen nützt. Die selbsternannten Retter der Demokratie sind längst dabei, sie abzuschaffen. Von Vera Lengsfeld.

Dem kurzen Frühling der Demokratie folgt der Abbruch Deutschlands
Am Jahrestag der ersten freien DDR-Wahlen erlebt Deutschland einen Tiefpunkt der Demokratie. Während sich Merz seinen Aufstieg erkauft, droht die Deindustrialisierung. Von Vera Lengsfeld.

Wahlbetrug oder Coup d‘État?
Merkel hielt ihn jahrelang zurück, nun entfaltet Merz ungebremst seine Macht. Wahlversprechen gebrochen, Wähler verachtet – ist das noch Politik oder schon der nächste Verrat? Von Vera Lengsfeld.

Die Einheitspartei abwählen
Wenn Merz mit SPD und Grünen eine Regierung bildet, gehen Deindustrialisierung und Demokratieabbau ungebremst weiter. Alle noch Unentschlossenen sollten die verbleibenden Stunden zum Nachdenken nutzen und sich für einen Neuanfang ohne Brandmauer entscheiden. Von Vera Lengsfeld.