Seit 27 Jahren erarbeitet das Gefängnistheater aufBruch Theaterstücke mit Gefangenen in Berlin. Nun werden viele Gelder gekürzt. Dabei ist das Schauspielern ein wertvoller Beitrag zur Resozialisierung Gefangener
Die aufBruch-Inszenierung von „Titus Andronicus“ im Innenhof eines stillgelegten Traktes der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
Foto: Thomas Aurin
Achtzehn Männer skandieren im Chor die Heiner-Müller-Fassung von Shakespeares blutigster Tragödie, Titus Andronicus: „Gras sprengt den Stein / die Wände treiben Blüten / die Fundamente schwitzen Sklavenblut“. Martialische Verse über Roms Untergang, die im Innenhof eines stillgelegten Traktes der Justizvollzugsanstalt Tegel zwischen der gestuften Bühne und den Publikumstribünen widerhallen. Vergitterte Fenster und Stacheldraht rundherum, oben ziehen weiße Wolken über einen blauen Himmel: Premiere hat die alljährliche Freiluftinszenierung des Berliner Gefängnistheaters aufBruch.
Seit 27 Jahren erarbeitet aufBruch Theaterproduktionen mit Gefangenen. Der dramatische Stoff, den Regisseur Peter Atanassow aussucht, hat stets e
ssucht, hat stets etwas mit dem Alltag seiner Schauspieler zu tun: In Titus Andronicus ringen Roms Machthaber brutal um die Kaiserwürde, während ihr Umgang mit den gotischen Gefangenen erweist, dass sie selbst „Barbaren“ sind. Im Winter finden aufBruch-Vorstellungen im Kultursaal der JVA Plötzensee statt. Zuletzt zeigte die Theatergruppe dort Orwells 1984. Dessen Überwachungsstaat ähnelt der totalen Institution Gefängnis. Dritte Säule im aufBruch-Angebot ist, als Scharnier zwischen dem Leben „drinnen“ und „draußen“, eine Außenproduktion mit aktuellen und ehemaligen Häftlingen.Schon 2025 schien diese dritte Produktion unmöglich; kurzfristig konnte aufBruch sie mit Geld aus der Lotto-Stiftung finanzieren. Doch die Aussichten für 2026 sind bislang unklar: Berlin spart. Als Ende 2024 hohe Kürzungen für den Berliner Doppelhaushalt 2025/26 bekannt wurden, strich der Justizsenat aufBruch 70 Prozent der Zuwendungen. Statt 202.000 Euro gab es für die Kunst im Knast nur noch 60.000 Euro. Obwohl die Kulturverwaltung ihre Förderung von 110.000 Euro jährlich beibehielt, stand die freie Gruppe kurz vor dem Aus. Gehälter wurden gekürzt, die Arbeitszeit von Mitarbeitern gekappt und statt der sonst drei bis vier jährlichen Produktionen nur zwei geplant.Kulturkürzungen zeigen sich oft kurzsichtigDamit ist aufBruch nur eine von vielen kürzungsbetroffenen Berliner Initiativen. Aber am Beispiel des Gefängnistheaters zeigt sich, wie kurzsichtig die Gründe für die Streichungen oft sind. Beschnitten werden gewachsene Infrastrukturen, die augenscheinlich wenige erreichen, aber der ganzen Gesellschaft zugute kommen. Nur zwei Prozent von Berlins Gefangenen hätten 2023 an aufBruch-Projekten teilgenommen, hieß es aus der Justizverwaltung. Eine zu geringe Zahl, also war das Projekt obsolet?Kontinuität ist eine Erfolgsbedingung in Kooperationsprojekten wie aufBruch. Für jede Produktion formt sich zwar ein neues Ensemble – aber manche Mitwirkende sind über Jahre dabei, bis zu ihrer Entlassung. aufBruch bietet ihnen momentweise das Gefühl von Freiheit, eine Abwechslung zum eintönigen Haftalltag. Abverlangt wird ihnen dafür Disziplin: Während der neun Wochen Proben hatten die 18 an Titus Andronicus beteiligten Männer keine Freizeit, erzählt Judith Footh, eine Mitarbeiterin der Tegeler Abteilung soziale Arbeit.Nach ihrer regulären Arbeit in den Gefängnisbetrieben, als Koch, Schlosser oder Maurer, lernten sie Text auswendig und übten sich im Schauspielhandwerk. Theater sei für die Straftäter eine Schule in Verantwortungsbewusstsein, sagte eine Sozialarbeiterin der Berliner Stadtmission bei der Januar-Premiere in Plötzensee: „Sie gehen hier an Grenzen, halten etwas durch, lernen, für andere mitzudenken: ‚Wenn ich meinen Text nicht kann, dann kann mein Gegenüber auch nicht weiterspielen.‘“ Teamwork sei für viele eine neue Erfahrung.Theater stiftet Zusammenhalt, Kunst ist Kitt für die Gesellschaft: Was oft nur nach Parolen klingt, wird bei aufBruch konkret. 18 Personen mit diversen Hintergründen werden zu einem Ensemble. Hierarchien in Haft? „Im Theaterprojekt spielen sie keine Rolle“, sagt Judith Footh, die am Premierenabend gemeinsam mit einem halben Dutzend uniformierter Justizbediensteter über die etwa 200-köpfige Schar von Gästen und Gefangenen wacht. Sie hat bei aufBruch-Mitspielern oft erstaunliche Verwandlungen erlebt. Das bestätigt eine Kollegin aus dem offenen Vollzug: „Viele Gefangene ziehen sich zurück. Auf der Bühne müssen sie laut sprechen und präsent sein. Dabei lernen sie, Hemmschwellen zu überwinden, und steigern ihr Selbstbewusstsein.“Manche erleben zum ersten Mal WertschätzungManche der Männer erlebten beim Applaus erstmals in ihrem Leben Wertschätzung, so die Beamtin. Für sie leistet das Gefängnistheater einen wirksamen Beitrag zur Resozialisierung, dem erklärten Ziel des Strafvollzugs in Deutschland. Viele der Berliner Kürzungen für die Justiz betreffen die soziale Arbeit, doch eigentlich bräuchte es mehr solcher Projekte. Vom transformierenden Effekt der Theaterkunst künden auch die Gespräche mit Muhammet, Norman oder Marco, die in Titus Andronicus eben noch Heiner Müller brüllten und am Büffet höflich und mit Enthusiasmus von ihrer Schauspielerfahrung erzählen.Spaß in der Gemeinschaft, Anerkennung – und immer wieder das Freiheitsgefühl. „Das trifft auf eine Sehnsucht, die man verloren hat“, so beschreibt es André S. drei Besucherinnen, während ein Fernsehteam die Szene filmt, bevor es zurückgeht in die Zellen. 40 Minuten nach Aufführungsende müssen alle Besucher*innen die Haftanstalt verlassen haben, auf der Liste wird der Name abgehakt, der Personalausweis ausgehändigt.Bühnenbildner Holger Syrbe, der das Theater nach seiner Zeit beim Obdachlosentheater Die Ratten der Volksbühne mitgegründet hat, betont, dass aufBruch immer zeigen wollte, dass auch im Knast ganz normale Menschen einsitzen. Und was könnte in diesen Zeiten wichtiger sein, als Verständnis zu wecken, Empathie zu schulen und Hoffnung zu vermitteln? Hier liegt der Kern solch intensiver künstlerischer Projekte. Als „sozial- und kriminalpolitische Bankrotterklärung“ bezeichnete denn auch die seit Langem im Strafvollzug tätige Psychologin Karoline Klemke die Kürzung seitens der Justiz. Denn Gefängnistheater bedeute auch: Gewaltprävention und Opferschutz. Wer Perspektiven hat und sozial eingebunden ist, wird seltener rückfällig.