In Politik und Medien wird allzu oft der gesellschaftliche Zusammenhalt beschworen. Dadurch werden Machtverhältnisse verschleiert und ökonomische Ungleichheiten geleugnet. Wir brauchen wieder mehr Raum für offenen Dissens
Um für den Erhalt von gemeinsam genossenen Rechten und Institutionen zu sein, reicht ein kleines „Wir“
Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz
In Zeiten der Polykrise verengt sich der Diskurs um einen Begriff, der verantwortungsbewusst erscheinen will und harmlos klingt. So vage wie bestimmt stand er als Imperativ auf Plakaten von Robert Habeck – und darf in keiner Rede von Frank-Walter Steinmeier fehlen: „Zusammenhalt“. Doch ist, was freundlich klingt, oft nur ein Appell zu falscher Genügsamkeit.
Der Staatsrechtler Carl Schmitt urteilte die Kategorien des Liberalismus einst eingängig ab: „Wer ‚Menschheit‘ sagt, der will betrügen“: Wer also alle unter das universelle Banner der Allgemeinheit stellt, verkennt die Existenz von Interessenunterschieden und Machtungleichheiten – und propagiert am Ende nicht mehr als die Deutungshoheit einer bestimmten Gruppe. Wer „f
on Interessenunterschieden und Machtungleichheiten – und propagiert am Ende nicht mehr als die Deutungshoheit einer bestimmten Gruppe. Wer „für das Land“ zu Lohnverzicht und Einschnitten aufruft, tut das nicht im Namen der Beschäftigten und Hilfeempfänger. Wer im Namen der Menschheit zum Mars will, tut das nicht im Namen jener, die kaum genug zum Leben haben.Carl Schmitt progressiv verstandenNun war Schmitt auch Nationalsozialist. Er meinte so etwas wie die relative essenzielle Ungleichheit der „Rassen“ und „Kulturen“ als Gegenbild zu Universalismus und Demokratie. Man kann ihm seinen Merksatz aber progressiv entwenden: Dem – für Demokratie notwendigen – Blick auf Politik als „game of competing interests“ stehen heute zwei falsche Wir-Begriffe entgegen: das national-völkische Wir der Rechten und das universelle, aus Versehen nationale Wir der Liberalen.Das völkische Wir geht vom Lebensraum, vom Kampf der Rassen aus. Kaschiert oder offen geht es am Ende um biologisch-essenzielle Kategorien, um irgendwie biologisch Andere, die irgendwo nicht hingehören. Die absurde These des Nationalismus ist, dass in der definierten Nation alle aufgrund „rassischer“ oder kultureller Merkmale dieselben Interessen hätten und der Interessenskampf zwischen den Nationen ausgetragen wird.Retrotopisch, rassistisch, geschichtsblind und selbstverliebt werden nicht nur innernationale materielle Unterschiede, sondern auch kulturelle Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen Regionen und Religionen, Generationen, Milieus und Weltanschauungen ignoriert. Das Wir der Nationalen lebt von der Illusion der Primordialität und Homogenität der Nation. Es macht aus Geschichte Natur und verwandelt so Politik in Rassenhass.Das liberale WirVermeintlich dem gegenüber steht das liberale Wir, das sich als kooperativ und inklusiv versteht. Es denkt nicht in Rasse und Essenz, dafür in einem universellen Wir, das materielle Unterschiede schlichtweg wegwünscht und dadurch zwangshomogenisiert. Am Ende wird es dadurch aus Versehen national, da nach der Vergemeinschaftung aller Klassen, Gruppen und sonstiger Kollektive in die One-Interest-Ideologie, in der es keine strukturellen Widersprüche und Interessengegensätze gibt, nur noch die Nation als exklusiver Interessen-Körper bleibt.Der Liberalismus braucht keinen äußeren Feind, sondern tut so, als gäbe es im Innern keine realen Widersprüche. Am Ende bleiben zwei Universalgruppen, für die sich eingesetzt werden soll: der Bürger und der Konsument. Wenn dann etwa CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann etwas „für das Land“ fordert, blenden viele im Gefühl nationaler Verantwortung ihre eigenen Interessen aus. Für Liberale sitzen wir alle im selben Boot – und das ist zurzeit nun mal die Nation. Gefangen in der Homogenisierungs-Maschine des Managerialismus.Vor dem Kapitalismus sind wir alle gleich? Von wegen!Diese Sicht ist machtblind. Die Interessenunterschiede, die die Beziehung zwischen den Nationen so komplex und kompromissbedürftig machen, existieren so eben auch innerhalb der Nation: Arbeiter und Besitzer, Mieter und Vermieter, Atheist und Gläubiger – sie alle sollen zusammenstehen. Die Politik des Zusammenhalts wird so zur Politik des Stillhaltens – und wem sie am Ende nützt, ist absehbar: jenen, deren Interessen ohnehin bereits durchgesetzt wurden. Dem Rest wird die Lage als alternativlos geschildert.Man muss kein Marxist sein, um die Konfliktlinien der sozialen Wirklichkeit als maßgebend anzuerkennen. Auch Ralf Dahrendorf, einer dieser aufgeklärten Liberalen, die mit den heutigen wenig gemein haben, rief zu einer Art politisch potenter Spaltung auf. „Wo immer es Autorität gibt, gibt es einen Konflikt zwischen denen, die sie ausüben, und denen, die ihr unterworfen sind.“Es geht in der Demokratie um die Anerkennung dieser Konflikte. Politik ist ein Spiel sich widersprechender Interessen, die vor allem gemein haben, dass sie einen Raum (eine Polity) erstellen und erhalten, in dem Politik möglich ist. Dieser Raum darf nicht infrage gestellt, aber in ihm muss gekämpft werden. Der demokratische Staat ist derjenige, der die Arena für die notwendigen Kämpfe nutzt – und nicht für gemeinsam bejubelte Militärparaden.Unterschiede existieren nicht nur zwischen „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell“ – sie existieren zwischen Auto- und Radfahrern, Stakeholdern und Shareholdern, zwischen Jung und Alt, Frau und Mann, Stadt und Land. Demokratie ist der Raum der Verhandlung der unterschiedlichen Interessen. Gemeinwohl ist dann nicht angeordnete Harmonie, sondern gemeinsam getragene Kompromisse.Paradox der DemokratieDie Theoretikerin Chantal Mouffe spricht vom Paradox der Demokratie. In einer Demokratie darf der Interessengegensatz nicht in einem schmittianischen Freund-Feind-Blick verenden, er muss aber doch als Gegenspielerpaar etabliert werden. Die vielen „Agonismen“ gilt es anzuerkennen und zu managen – das ist am Ende die große Chance der demokratischen Politik. Mouffe schreibt: „Mit der Unterscheidung zwischen Antagonismus (Freund/Feind-Beziehung) und Agonismus (Beziehung zwischen Gegnern) können wir besser verstehen, warum die agonistische Auseinandersetzung, anstatt eine Gefahr für die Demokratie darzustellen, in Wirklichkeit die Voraussetzung für deren Existenz ist.“Wichtig ist, welche Kategorien wir unterscheiden. Es gilt, zwischen Essenz und Existenz zu trennen, um nicht in einen identitären Tribalismus zu verfallen. Letztlich sind wir nicht biologisch verschieden, sondern strukturell in unterschiedlichen Positionen, die änderbar, vielfältig und nie absolut sind. Was uns – neben der gemeinsamen Erhaltung der Arena – einen sollte, sind die Erhaltung gemeinsam genossener Rechte und Institutionen und ein durch Interessengegensatz-Management erwirkter Frieden. Auch die Verteidigung einer solchen Ordnung vor anderen, schlechteren Ordnungen sollte uns einen.Abseits dessen ist Zusammenhalt aber nicht die Grundnorm der Republik. Wer predigt, wir säßen alle im selben Boot, will uns weismachen, die Interessen seines Bootes seien die Interessen aller Boote. Und wer den Streit fürchtet, fürchtet am Ende die Demokratie.Justus J. Seuferle ist Politologe und arbeitet bei der Europäischen Kommission