Familien bekommen bei der Deutschen Bahn keine vergünstigte Reservierung mehr und die Empörung ist groß. Aber geht es wirklich um die paar Euro? In Frankreich zeigt sich: Da wo es rund läuft, ist es auch ok, wenn es was kostet
Am Gare de Lyon in Paris
Foto: Jacques Demarthon/ AFP
Erstmal eine überraschende Nachricht vorweg: Nein, in Frankreich, mit seinem viel beschworenen Hochgeschwindigkeitsnetz und seinen rasend schnellen TGVs, ist das Bahnfahren für Kinder im Gegensatz zum deutschen Modell, wo man bis 14 Jahren kostenlos reist, ganz und gar nicht umsonst.
In meiner Wahlheimat Frankreich gibt es den Bambino-Tarif von 9 Euro für unter 4-Jährige, sofern sie einen eigenen Sitzplatz wünschen. Ab dann kostet das Ticket bis zum 12. Lebensjahr die Hälfte des Erwachsenenpreises und danach folgt ein Wust aus Spezialtarifen für Schüler, Studierende und Auszubildende. Hinzu kommt ein großes Angebot verschiedenster Bahncards. Trotzdem, wenn man nicht rechtzeitig im Voraus bucht, zahlt man auch mal stolze Preise im TGV. Es wär
enster Bahncards. Trotzdem, wenn man nicht rechtzeitig im Voraus bucht, zahlt man auch mal stolze Preise im TGV. Es wäre also falsch, zu behaupten, die Deutsche Bahn sei per se familienfeindlich.Trotzdem fahre ich – und das ist wenig überraschend – viel lieber in Frankreich Zug als in Deutschland. Mein französischer Freund glaubte lange, ich würde mit meinen regelmäßigen Horror-Bahngeschichten maßlos übertreiben. Er unterstellte, ich sei schlichtweg sehr ungeduldig und würde aus kleinsten Vorkommnissen eine riesige Story stricken. Bis zu dem Tag, als er es selbst erlebt hat.Unsere erste Reise mit einem vier Monate alten Baby endete mit folgendem Klassiker: „Verspätung eines vorausfahrenden Zuges, Störungen an der Oberleitung, Personen auf den Gleisen und Probleme beim Personalwechsel“, die volle Dröhnung DB! Die Reise von Hamburg nach Paris endete schließlich ungewollt in einem Hotel in Saarbrücken, plötzlich wegen einer technischen Panne am Zug. Und so ging es munter weiter. Jede Reise nach Deutschland wurde zu einem abstrusen Abenteuer. Heute erzählt er seinen Freunden die Horrorstorys avec le train en Allemagne gerne selbst auf Partys.Die staatliche Bahngesellschaft SNCF ist den Franzosen ans Herz gewachsenKleine Backgroundinfo: Mein Partner stammt aus einer Familie, in der Fliegen aus ökologischer Überzeugung schlichtweg keine Option ist. Einmal, im Alter von zwei Jahren, saß er in einem Flugzeug. Seitdem nie wieder. Es scheint ihm nicht zu fehlen. In die Ferien fährt er – wie so viele Franzosen – mit dem Zug. Horrorgeschichten wie in Deutschland kennt er trotzdem so gut wie keine. Die staatliche französische Bahngesellschaft SNCF hat das geschafft, was die Deutsche Bahn mit ihrer langen Geschichte von Fehlentscheidungen, verpatzter Chancen und Misswirtschaft verfehlt hat: Sie ist den Franzosen ans Herz gewachsen.Das heißt nicht, dass alles rund läuft und dass nicht gemeckert wird. Gerade auf den kleineren Strecken, in den Regionalzügen, kommt es zu Zugausfällen und Verspätungen, und einige Gegenden sind schlechter an das Hochgeschwindigkeitsnetz angebunden als andere. Außerdem führen in einem derart zentralisierten Land viele Strecken in einem sternförmig organisierten Netz über Paris mit seinen sechs großen Bahnhöfen, vielen fehlen besser ausgebaute Ost-West-Achsen. Von Paris aus rasen die Züge in alle Himmelsrichtungen, oft ganz ohne Zwischenhalt. In 1h45 nach Lyon, in 2h12 nach Bordeaux, 3h18 nach Marseille und so weiter und so schnell. Ganz zu schweigen von den internationalen Verbindungen: Paris-London in 2h18 und nach Brüssel in schlappen 1h22.Ohne Sitzplatzreservierung geht hier nichts!In all diesen Zügen gilt: Nichts geht ohne Sitzplatzreservierung! Wer in den Zug steigt, sitzt. Sind alle Sitze besetzt, was gerade am Wochenende und in den Ferienzeiten vorkommt, kommt keiner mehr rein, Pech gehabt – oder eben Glück für die Leute im Zug. Das regelmäßige Chaos an deutschen Bahnhöfen, mit Last-Minute-Reisenden oder Gestrandeten aus anderen Zügen, gibt es nicht. Sollte es doch einmal zu wirklich bedeutenden Verspätungen kommen, wird man in großen Städten am Zielbahnhof mit Essenspaketen, Taxi- und Hotelgutscheinen begrüßt. Der Fairness halber sei angemerkt, dass Frankreich weit weniger urbanisiert ist und der Ausbau der Hochgeschwindigkeitsstrecken, die – wie mit einem Lineal angelegt – das Land durchziehen, gar nicht auf gleiche Art realisierbar, zumindest aber um ein Vielfaches schwieriger wäre.Aber zurück zu unseren Familien. Wer einmal vollbepackt mit Kinderwagen, Rucksäcken und Verpflegungsbeuteln (You never know, if das Bordrestaurant funktionell ist!) unterwegs war und in letzter Minute mit geänderter Wagenreihung oder spontanem Gleiswechsel zu kämpfen hatte, reist fortan auch noch mit psychologischer Dauerbelastung im Gepäck. Das quengelnde Kleinkind auf den Knien, zwischen schlecht verstauten Koffern, grummelnden Mitreisenden, die ihren Nachbarsitz in bester Mallorca-Swimmingpool-Manier blockieren, nur eben mit Jacken und Taschen, statt mit dem Badehandtuch. Wegen all dieser Unsäglichkeiten hat die Bahn bislang gut daran getan, an anderer Stelle kulant und etwas charmant zu sein. Auch wenn ein geschenkter Plastikzug im Bordrestaurant oder ein Stück „Lieblingsgast“-Schokolade nur ein schwacher Trost ist, wenn man mal wieder stark verspätet oder blockiert ist – „nice to have“ ist es trotzdem. In dieses Genre fiel auch die vergünstigte Familienreservierung, sie war aber mehr als das. Ein finanzieller Anreiz zum Bahnfahren und eine Praxis, die aus mitfahrenden Kindern von heute treue Bahnfahrer von morgen macht. So gesehen auch eine Investition in die Zukunft. Eine Zukunft, in der Bahnfahren als Option an erster Stelle stehen muss, weil es nicht nur umweltfreundlicher, sondern auch günstiger, zuverlässiger und bequemer ist.In dieses Traumland fährt bisher auch kein TGV mit 330 km/hVon dieser Utopie aber sind wir noch Lichtjahre entfernt, in dieses Traumland würde auch kein TGV mit 330 km/h so einfach kommen. Fatal wäre es aber, gar nicht erst zu versuchen, das Bahnfahren attraktiver als heute zu machen. Und bis es so weit ist, braucht es solche „Krücken“ wie das Familienticket. Anders gesagt, es braucht durchschlagende Argumente, gerade für finanziell benachteiligte Familien.Wenn eines Tages die DB so rollt wie in der Schweiz oder in Frankreich, dann, ja dann … dann wäre es zwar schade um die ausbleibenden Horrorgeschichten, aber ich würde Sie, geneigte Leser und Leserinnen, dann entspannt und zufrieden lächelnd im Zug wiedertreffen. Quelle bonne idée!