Israel greift den Iran an – und die USA könnten folgen. Nahostexperte Michael Lüders erklärt, welche Konsequenzen ein amerikanischer Kriegseintritt hätte – und warum er die Aussagen von Kanzler Friedrich Merz für „dumm“ und „skandalös“ hält
15. Juni 2025: Feuer und Rauch steigen nach einem israelischen Angriff auf das Schahran-Öldepot in den Himmel auf
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Der Krieg in Nahost eskaliert von Tag zu Tag mehr. Die israelische Armee teilte mit, in der Nacht auf Mittwoch mit mehr als 50 Kampfflugzeugen Luftangriffe im Großraum Teheran geflogen zu haben. Aktuell werden im Iran mindestens 585 Tote und mehr als 1.300 Verletzte gezählt. Und über allem schwebt die Frage: Werden die Vereinigten Staaten in den Krieg eintreten und die Welt somit an den Rand eines großen Konfliktes bringen? Der Nahostexperte Michael Lüders sieht Anzeichen dafür.
der Freitag: Herr Lüders, nicht erst seit vergangener Woche herrscht eine feindliche Stimmung zwischen dem Iran und Israel. Warum kommt es gerade jetzt zur Eskalation?
Michael Lüders: Das hat verschiedene Gründe. Der Iran hat vor Kurzem die 60-tägige Frist von Donald
Michael Lüders: Das hat verschiedene Gründe. Der Iran hat vor Kurzem die 60-tägige Frist von Donald Trump verstreichen lassen, um zu einer Lösung im Atomkonflikt zu kommen. Vielleicht dachte Benjamin Netanjahu, dass der Zeitpunkt jetzt besonders günstig sei und Trump bereit sein könnte, zu dramatischen Maßnahmen zu greifen. Aber das Ganze ist natürlich Teil eines größeren Projekts. Unmittelbar nach dem Großangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hat die israelische Führung unter Netanjahu bekannt gegeben, dass man nunmehr die Region neu sortieren werde. Man werde zunächst die Hamas zu vernichten trachten, danach die Hisbollah, die „Partei Gottes“ im Libanon, um schließlich den Iran ins Visier zu nehmen und dort einen Regimewechsel herbeizuführen. Dieses Programm arbeitet die israelische Regierung derzeit ab.Wenn die israelische Selbstverteidigung darin besteht, alles östlich des Suezkanals in Schutt und Asche zu legen, dann ist das ein sehr erstaunliches SicherheitsverständnisIn US-Medien ist zu lesen, Donald Trump habe im Nationalen Sicherheitsrat zu verstehen gegeben, dass er sich ein Eingreifen der Vereinigten Staaten in den Konflikt vorstellen könne. Glauben Sie, dass die USA bald an der Seite Israels in den Krieg einsteigen?Das ist die Frage, die offenbleibt: Wird sich Trump dieser israelischen Logik anschließen? Wird man sich in einen unberechenbaren Krieg im Nahen Osten hineinziehen lassen? Oder wird sich die MAGA-Fraktion innerhalb des Trump’schen Machtapparats durchsetzen und sagen: Wir wollen auf keinen Fall in einen weiteren endlosen Krieg hineingezogen werden? Schon Mark Twain wusste: Man muss vorsichtig sein mit Prognosen, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Aber es gibt doch starke Hinweise darauf, dass die Amerikaner geneigt sein könnten, in den nächsten zwei bis drei Tagen die nukleare Anlage von Fordo anzugreifen. Das ist jenes atomare Lager, das sich 60 bis 90 Meter unter der Erdoberfläche befindet. Es wird sehr schwierig sein, dieses Lager zu zerstören. Aber die Amerikaner haben im Zweifel bunkerbrechende Bomben, die auch mehrere Hundert Meter in die Tiefe reichen. Wollen wir hoffen, dass es nicht in diese Richtung geht. Denn das würde den Konflikt dramatisch eskalieren.Bundeskanzler Friedrich Merz hat gerade gesagt, Israel mache mit seinem Angriff die „Drecksarbeit für uns“.Das ist Zynismus pur! Zumal man diese Aussage auch mit Blick auf die palästinensischen Gebiete erweitern könnte. Es bleibt ja offen, ob der Bundeskanzler das lediglich auf den Krieg mit dem Iran oder auch auf jenen im Gazastreifen bezogen hat. Von daher muss man sagen: Das ist wirklich eine erschütternde Aussage, die er hier getroffen hat! Die Deutschen folgen, ebenso wie die USA und die Europäische Union, der israelischen Propaganda, die behauptet, einen Präventivkrieg zu führen. Das ist aber kein Präventivkrieg! Israel begeht seit Langem eklatante Verstöße gegen das Völkerrecht – sei es in den palästinensischen Gebieten, sei es mit den Angriffen auf den Libanon und auf Syrien oder jetzt mit diesem jüngsten Angriff auf den Iran. Das alles einfach zu ignorieren oder wegzuwischen mit dem Argument, Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung, ist ein Offenbarungseid für deutsche Politik.Hat Israel denn kein Recht auf Selbstverteidigung?Um es ganz klar zu sagen: Wenn die israelische Selbstverteidigung darin besteht, alles östlich des Suezkanals bis zur indischen Grenze in Schutt und Asche zu legen, dann ist das ein sehr erstaunliches Sicherheitsverständnis. Das Dramatische an dieser Aussage von Friedrich Merz ist, dass er sich damit im Grunde genommen im Namen der Bundesrepublik Deutschland vom Völkerrecht verabschiedet hat. Wenn die Logik des Bundeskanzlers ist, dass andere Länder für uns die Drecksarbeit erledigen, dann spielt das Völkerrecht keine Rolle mehr. Dann hat er sich eingereiht in die Logik derer, die der Meinung sind, es gelte das Recht des Stärkeren – und das ist ein ganz gefährliches Terrain, das er hier betritt. Merz signalisiert unmissverständlich, dass Deutschland auf der Seite des Aggressors steht. Angesichts des Völkermordes, den Israel im Gazastreifen begeht, eine solche Aussage zu tätigen, ist skandalös. Es zeugt von einer absolut fehlenden Ethik, es zeugt von Dummheit und Verantwortungslosigkeit. Ich bin mir sicher: Diese Aussage wird Deutschland noch in Jahren vorgehalten werden.Ich kenne viele Exil-Iraner, die das politische System in ihrem Heimatland abgrundtief hassen. Aber jetzt sagen sie mir alle ausnahmslos: Wenn der Iran angegriffen wird, sind wir patriotischDer israelische Verteidigungsminister Katz hat auf X geschrieben: „So brechen Diktaturen zusammen.“ Ist das realistisch – dass die iranische Regierung zusammenbricht? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass es in der Bevölkerung zu Solidarisierungseffekten kommt angesichts des Angriffs eines Feindeslandes?Erst einmal ist es natürlich eine gewaltige Hybris, wenn ein Land, in dem 6,5 Millionen jüdische Israelis leben, in Gestalt ihres Verteidigungsministers Aussagen trifft über die politische Zukunft eines Landes, das über 80 Millionen Einwohner hat und viermal so groß ist wie Deutschland. Das ist wirklich purer Größenwahn. Außerdem darf man eines nicht vergessen: Die Iraner sind mehrheitlich ein sehr patriotisches Volk. Ich kenne selbst viele Exil-Iraner, die das politische System in ihrem Heimatland wirklich abgrundtief hassen. Aber jetzt sagen sie mir alle ausnahmslos: Wenn der Iran angegriffen wird, sind wir in erster Linie patriotisch. Ich glaube, wenn es der iranischen Führung gelingt, diesem Angriff Israels – und möglicherweise weitergehenden Angriffen der USA – über längere Zeit standzuhalten, dann wird der Heldennimbus des iranischen Widerstands nicht nur in der islamischen Welt hell leuchten, sondern im gesamten Globalen Süden. Dort hat man zunehmend die Nase voll von westlich-imperialer Politik.Placeholder image-3Welche Folgen hätte ein Regimewechsel im Iran? Würden Israel und die USA dann gemeinsam eine Marionettenregierung in Teheran einsetzen? Oder wie muss man sich das vorstellen?Zunächst einmal muss sich der Westen fragen: Will man wirklich den Sturz dieses politischen Systems, ohne eine Alternative zu haben? Es gibt ja allen Ernstes Überlegungen, den Sohn des gestürzten Schahs, Reza Pahlavi, zu intronisieren. Das sind natürlich absurde Fantasievorstellungen – völlig ahistorisch. Dieses System der Islamischen Republik im Iran – so unsympathisch es uns vor allem in der Innenpolitik auch ist – ist doch nicht aus dem Nichts entstanden. Vielmehr war es die verspätete Antwort darauf, dass 1953 der demokratisch gewählte Premier Mohammad Mossadegh gestürzt wurde. Daraufhin wurde das Schah-Regime durch die USA und Großbritannien installiert, weil Mossadegh die Frechheit besessen hatte, die Erdölindustrie zu verstaatlichen. Die Diktatur des iranischen Schahs konnte nur am Leben erhalten werden durch die aktive Unterstützung der amerikanischen und israelischen Geheimdienste. Deswegen heißt es auf der politischen Ebene im Iran bis heute: „Der große Satan USA, der kleine Satan Israel“. Diese Zusammenhänge werden häufig übersehen, weil wir nicht mehr gewohnt sind, historisch und analytisch zu denken. Der Sturz Mossadeghs ist bis heute ein kollektives Trauma in der iranischen Gesellschaft. Ich glaube, dass die westlichen Kriegstreiber sich überhaupt nicht vorstellen können, was sie mit einem erneuten Regimesturz an Backlash und Reaktion auslösen würden – in den nächsten Monaten und Jahren.Donald Trump hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin als Vermittler in dem Konflikt ins Spiel gebracht. Was halten Sie von dem Vorschlag?Zunächst einmal ist dieser Vorschlag eine Ohrfeige für die Politik der NATO und vor allem der Europäischen Union. Aus deren Sicht ist Putin schließlich der Gottseibeiuns, mit dem man nicht verhandeln kann und darf. Von daher ist Trumps Idee fast schon eine Verhöhnung der EU. Man mag im Kontext der Europäischen Union und der Bundesregierung bis heute nicht wahrhaben, dass Trump offenkundig nicht die Absicht hat, den Ukrainekrieg weiter zu finanzieren. Es steht natürlich den Deutschen und der EU frei, ihn weiter am Leben zu erhalten. Aber wohin soll das führen? Es ist die Tragik der deutschen wie auch der EU-Politik, dass ihr sowohl zum Krieg in der Ukraine als auch zum Krieg im Nahen Osten nichts einfällt – außer Waffenlieferungen und Zynismus, wie wir es in Gestalt der Aussagen von Friedrich Merz gehört haben.In der Regel haben die Europäer nicht genügend Selbstbewusstsein, um gegenüber den USA als gleichwertige Partner aufzutreten. Sie begnügen sich vielmehr mit der Rolle einer „dienenden Führung“, wie es Robert Habeck einmal so schön formuliert hatIst die Operation „Rising Lion“ Ihrer Meinung nach völkerrechtswidrig?Das ist sie ganz eindeutig. Das Völkerrecht ist hier so unmissverständlich, dass es unmissverständlicher gar nicht sein könnte: Ein Präventivschlag, auf den sich Israel beruft, wäre dann – und nur dann! – gerechtfertigt, wenn der Iran im Begriff gestanden hätte, Raketen in Stellung zu bringen, die Israel treffen sollen. Das war aber nicht der Fall. Die Begründung der israelischen Seite lautet vielmehr: Wenn wir heute nicht handeln, hat der Iran morgen die Atombombe. Diese Argumentation ist reine Propaganda – um das klar und deutlich zu sagen. Man kann dem sehr leicht widersprechen, indem man auf amerikanische Geheimdienstberichte verweist, die zu ganz anderen Ergebnissen kommen als die israelische Regierung. Einmal im Jahr veröffentlichen die insgesamt 18 US-Geheimdienste eine gemeinsame Einschätzung der weltweiten Bedrohungslage. Dabei spielt der Iran immer eine wesentliche Rolle. Zum letzten Mal wurde dieser Bericht am 25. März 2025 veröffentlicht. Und dort heißt es unmissverständlich auf Seite 26: „Wir bleiben bei unserer Einschätzung, derzufolge der Iran nicht an einer Atombombe baut.“ Das sage nicht ich, Michael Lüders – das sagen 18 US-amerikanische Geheimdienste. Der Sender CNN hat am 17. Juni, ebenfalls unter Berufung auf US-Geheimdienste, darauf hingewiesen: Selbst wenn man im Iran heute beschließen würde, die Atombombe doch zu bauen, würde es mindestens drei Jahre dauern, bis der Iran eine einsatzfähige Bombe hat.Was, wenn sich die US-Geheimdienste irren?Das kann man natürlich glauben. Aber warum sollten wir ihnen ausgerechnet in diesem Fall auf einmal misstrauen? Was mich bestürzt: Die westliche Politik, allen voran auch die deutsche, übernimmt die israelische Propaganda einmal mehr eins zu eins – ohne sich davon kritisch zu distanzieren. Auch auf dem Gipfel der G7-Staaten in Kanada gab es eine Erklärung, die eindeutig den Iran für die Eskalation der Spannungen verurteilt. Mit keinem Wort wird Israel erwähnt. Diese Doppelmoral westlicher Politik wird uns eher früher als später um die Ohren fliegen.Placeholder image-2Am Dienstag haben die Chefdiplomaten der Europäischen Union zwei Stunden in einer Telefonkonferenz über den Konflikt gesprochen. Die Außenbeauftragte Katja Kallas hat danach in einer Pressekonferenz gesagt: „Das eindeutige Ergebnis war die Zusammenarbeit dabei, unsere Bürger wieder nach Hause zu bringen.“ Mit der Aussage gesteht sie, dass die EU eine reine Zuschauerrolle bei diesem Konflikt hat und ihr nichts anderes übrig bleibt, als ihre Leute aus dem Kriegsgebiet zu holen. Die EU wird auf internationaler Ebene immer weniger ernst genommen. In Brüssel bewegt man sich in politisch-medialen Blasen, ohne die Realität – insbesondere im Globalen Süden – wahrzunehmen. Dort werden die Verhältnisse im Iran ganz anders beurteilt, als wir das tun. In der Regel haben die Europäer nicht genügend Selbstbewusstsein, um gegenüber den USA als gleichwertige Partner aufzutreten. Sie begnügen sich vielmehr mit der Rolle einer „dienenden Führung“, wie es Robert Habeck einmal so schön formuliert hat. Dementsprechend nehmen uns die Amerikaner auch immer weniger ernst.Neben Pakistan ist der Iran der letzte noch funktionierende Staat zwischen dem Mittelmeer und Indien. Wenn dieses Land auseinanderfallen sollte, löst man damit eine Instabilität aus, die nicht mehr zu kontrollieren sein wirdIch möchte das noch einmal an einem Beispiel illustrieren, um zu zeigen, wie hilflos und kopflos die Europäische Union agiert. Es gibt viele Möglichkeiten, sich vorzustellen, wie der Konflikt mit dem Iran eskalieren könnte. Eine Möglichkeit ist, dass der Iran die Straße von Hormus sperrt – durch dieses Nadelöhr gehen etwa 20 Prozent des weltweiten Erdgas- und Erdölvolumens. Wenn das passiert, werden nicht nur die Gaspreise hierzulande explodieren. Sie sind ja schon jetzt massiv gestiegen: Ein Barrel Rohöl aus der Region kostet gegenwärtig knapp 77 Dollar. Wenn der Krieg sich verstärkt, könnte sich dieser Preis verdoppeln. Und was macht die EU gerade? Sie versucht, einen Preisdeckel für russisches Erdöl einzuführen – von aktuell 60 auf 45 US-Dollar. Das ist absurd. Denn wenn der Krieg im Nahen Osten eskaliert, interessiert sich niemand für alberne Preisdeckel, die Ideologen in Brüssel verabschiedet haben. Dann wird der Markt die Preise diktieren. Welche Handelsoption hat die Bundesregierung dann noch mit Blick auf die Versorgung der deutschen Wirtschaft mit bezahlbarer Energie? Aus Russland wollen wir nichts mehr beziehen. Und wenn die Amerikaner dann sagen: Unser LNG und unser Erdöl brauchen wir für uns selbst, weil wir keine Explosion der Benzinpreise an den Zapfsäulen in den USA wollen – dann wird sich Europa sehr schnell in einer schwierigen Lage wiederfinden, allen voran Deutschland. Die Energiepreise in Deutschland sind jetzt schon die höchsten in Europa. In Norwegen zum Beispiel betragen sie 10 Prozent dessen, was hierzulande gezahlt wird.Werden wir bald Flüchtlingsströme aus dem Iran nach Europa beobachten?Nicht nur aus dem Iran. Wenn es ganz schlimm kommt, wird die gesamte Region destabilisiert – die Türkei, Pakistan, der südliche Kaukasus. Neben Pakistan ist der Iran der letzte noch funktionierende Staat zwischen dem Mittelmeer und Indien. Wenn dieses Land auseinanderfallen sollte und sich dort ethnische und religiöse Spannungen entladen, löst man damit ein Chaos und eine Instabilität aus, die nicht mehr zu kontrollieren sein wird – und zwar auf Jahre und Jahrzehnte hinaus. Eine der Folgen wäre dann natürlich eine Flüchtlingswelle, die theoretisch von der Türkei bis nach Pakistan reichen könnte. Eins muss uns klar sein: Wenn die politischen Entscheider im Iran merken, dass sie so sehr in die Defensive geraten, dass sie ihren eigenen Untergang befürchten müssen, dann werden sie nicht einfach die weiße Fahne hissen. Nein – dann werden sie die ganze Region in Brand stecken. Wenn die Iraner es darauf anlegen, könnten sie mühelos Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate, den Oman oder Kuwait ins Visier nehmen und dort amerikanische und westliche Interessen gefährden. Man mag sich das alles gar nicht ausmalen. Akteure wie die USA oder Israel glauben, sie könnten ihr Ziel erreichen, ohne selbst einen Schlag ins Gesicht zu bekommen. Aber ich fürchte, es wird sehr viele Schläge in sehr viele Gesichter geben.