„No-Name-Produkte“ sind um ein Vielfaches stärker im Preis gestiegen als Markenwaren. Woran liegt das? Und wieso fühlt sich unsere Autorin an ihre Kindheit im Supermarkt erinnert? Über ein Phänomen, das besonders arme Menschen hart trifft
„Billigmarken“ sind gar nicht mehr so billig
Foto: Sebastian Mast
In meiner Realität bückt man sich. Vorgelebt bekam ich es von körperlich hart arbeitenden Menschen, für die jene körperliche Anstrengung Garant für Selbstwert und gesellschaftlicher Anerkennung sein sollte (jedes Bücken zwar ein Schritt näher am Bandscheibenvorfall, dafür aber eine Lebensgrundlage). Meine Familie und ich bückten uns, neben der Arbeit in der Gastronomie, am häufigsten im Supermarkt – um eben dorthin zu greifen, wo das billige Sortiment abgestellt wurde, unbequem zu erreichen und keinesfalls auf Augenhöhe.
Als Kind einer meist prekär lebenden Familie bedeutete einkaufen nicht nur einen enormen logistischen, sondern auch einen hohen Zeitaufwand. Prospekte wurden am Esstisch verglichen, weite Wege für u
für unterschiedliche Märkte in Kauf genommen. Es war mühsam und langweilig. Mein Vater schwadronierte, sofern man ihn nicht zu bremsen wusste, stundenlang über manipulative Marketingstrategien, um uns als Antihaltung gegen die geschmacksbildenden Markenkonglomerate die Substitute, also die in unserem Fall „ebenso qualitativen, aber wesentlich günstigeren“ Varianten schmackhaft zu machen.Meine Mutter rechnete währenddessen herum und nahm zu teure Dinge wieder aus dem Einkaufswagen. All das wäre nicht der Rede wert, hätten meine Eltern nicht so pedantisch darauf gepocht, dass es nichts Beschämendes hat, auf die Billigprodukte angewiesen zu sein. Ich schämte mich trotzdem. Zumindest ein bisschen, weil sich meine Eltern so gar nicht der Peinlichkeit der Armut bewusst waren.Auch bei anderen, so verstand ich durch gelangweilte Beobachtung, vollzog sich der Griff nach unten mit einer zügigen, ruckartigen Bewegung und einem genierten Blick. Auf dem Kassenband, dem alles enthüllenden letzten Schritt des Einkaufs, wurde als maximale Entgrenzung der missverstandenen eigenen Unzulänglichkeit das günstige Produkt unter irgendwas versteckt. Nicht so bei uns! Da wurde pragmatisch den knappen Ressourcen ins hässliche Maul geblickt.O-Saft von Eigenmarken stieg um 169 Prozent im PreisAls dementsprechend Kauf- und Marktinteressierte und vor allem traditionsbewusste Bückerin betrachte ich mit wachsendem Interesse die Preissteigerung im Billigsortiment, also den absurden Preisanstieg der Handelsmarken. In einer (meiner Meinung nach) faszinierenden Wendung der Marktdynamik lässt sich derzeit ein Phänomen beobachten, das Ökonomen als „Cheapflation“ bezeichnen – eine paradoxe Preisentwicklung, bei der ausgerechnet die vermeintlich günstigen Eigenmarken zur treibenden Kraft der Inflation werden.Diese Entwicklung manifestiert sich in frappierenden Preissprüngen: Während der Preis für Orangensaft von Eigenmarken um 169 Prozent stieg, verzeichneten Markenprodukte lediglich einen Anstieg von 62 Prozent. Ähnliche Muster zeigen sich bei Kaffee und Schokolade, wobei die Preise der Handelsmarken deutlich stärker anstiegen als die der etablierten Marken. Woran liegt das?Ein Grund: Die knapp kalkulierten Eigenmarken haben weniger Spielraum, um gestiegene Produktionskosten zu absorbieren. Zudem nutzten Händler die erhöhte Nachfrage nach günstigeren Alternativen, um Preise anzuheben. Diese Entwicklung hat weitreichende sozioökonomische Implikationen: Einkommensschwache Haushalte, die überproportional von Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln betroffen sind, vertrauen weiterhin auf die als für-den-kleinen-Geldbeutel-geeignet markierten Produkte und so entpuppen sich die vermeintlichen Sparoptionen bei den Eigenmarken als trügerisch: Zwar sind sie weiterhin (etwas) günstiger, nutzen allerdings ihre Position schamlos aus.Der Markt reagiert eher rational auf diese Verschiebungen: Traditionelle Hersteller diversifizieren in das Eigenmarkengeschäft, um von der gestiegenen Nachfrage zu profitieren. Und so bleibt vom Traum der sozialen Gerechtigkeit im Kontext der Konsumgüterindustrie nur ein Gefühl des Ausgeliefertseins zurück, seufz. Ich bücke mich gegenwärtig eher aus lust- und gesundheitsorientierten Gründen, werde aber für immer reflexhaft die Preise der unteren Regale begutachten und mich dabei an das leidliche und vor allem irrsinnige Gefühl des finanziellen Versagens erinnern, auf der Suche nach bezahlbaren Artikeln und leistbarem Genuss.