Eine iranische Rakete hat das PhotoHouse in Tel Aviv getroffen. Das Archiv des legendären Fotografen Rudi Weissenstein inspirierte unsere Autorin zu ihrem ersten Roman. Nun droht ein Teil der kulturellen Erinnerung Israels zu verschwinden


Das PhotoHouse ist ein Ort der Nostalgie und der Erinnerung. Es ist ein Fenster zu einer Welt, die Rudi Weissenstein erschuf und mit der sich heute noch viele der alten Israelis identifizieren

Foto: Rudi Weissenstein, the Photohouse Collection


In der Nacht von Montag auf Dienstag traf eine ballistische Rakete aus dem Iran einen einzigartigen Ort, der das moderne Tel Aviv mit seiner Vergangenheit verbindet: Die Zalmania, auch bekannt als PhotoHouse. Das Archiv des israelischen Fotojournalisten Rudi Weissenstein ist auch ein Fotogeschäft mit langer Tradition. Weissenstein porträtierte dort Künstler wie Marc Chagall oder Max Brod, sowie zahlreiche Figuren aus der israelischen Politikgeschichte wie Golda Meir, Shimon Peres oder David Ben-Gurion.

Ihre Porträts blickten noch bis zum Raketeneinschlag von den Wänden des kleinen Ladengeschäftes auf die Besuchenden herab. Sie luden auf eine Reise in eine längst vergangene Zeit ein, geprägt von Kibbuzbewegung und den Grundsätzen der sozialistisc

uchenden herab. Sie luden auf eine Reise in eine längst vergangene Zeit ein, geprägt von Kibbuzbewegung und den Grundsätzen der sozialistischen Arbeiterpartei, in der Israel darum kämpfte, sich von seinem traumatischen Erbe aus Europa loszulösen und ein moderner, eigenständiger und lebenswerter Staat zu werden.Jetzt liegt dort alles voller Scherben. Die zahlreichen Negative sind glücklicherweise verschont geblieben und niemand wurde verletzt. Doch viele Fotos und Drucke sowie die originale Einrichtung aus Rudi Weissensteins Zeit haben Schaden genommen. Die Rakete hat ein verwundetes Land getroffen und beschädigt. Und somit auch einen Zugang zu seiner Vergangenheit.Placeholder image-1Denn das PhotoHouse ist ein Ort der Nostalgie und der Erinnerung. Es ist ein Fenster zu einer Welt, die Rudi Weissenstein erschuf und mit der sich heute noch viele der alten Israelis identifizieren. Für die Jungen bietet der Laden eine einzigartige Möglichkeit zum Erwerb von Kunstdrucken und kreativ gestalteter Collagen, die die Themen des frühen Einwanderers aufgreifen und sie mit aktueller visueller Kultur verbinden. So entstand beispielsweise eine Fotomontage, die einen von Rudi Weissenstein in den 1930er Jahren in schwarz-weiß fotografierten maskulinen Torso zeigt, der nachträglich mit einer bunten Regenbogenfahne hinterlegt wurde.Vom Iran zerstört: Das PhotoHouse inspirierte mich zu meinem ersten BuchVor einigen Jahren inspirierte mich dieser Ort zu meinem ersten Roman. Teile meines Buches Das Land, das ich dir zeigen will sind hier entstanden, haben in diesen Bildern, in den imaginierten Geschichten dieser Menschen ihren Anfang gefunden. Ich habe zwischen diesen Tischen gearbeitet, unveröffentlichtes Bildmaterial zum ersten Mal in den Händen gehalten, behutsam und mit Handschuhen, um ja nicht den kleinsten Fingerabdruck auf diesen Bildern zu hinterlassen. Unwissend, dass eine einzige Rakete all dies zerstören könnte.Rudi Weissenstein kam in den 1930er Jahren ins britische Mandatsgebiet Palästina, seine Muttersprache war Deutsch. Die wohl ikonischste seiner Aufnahmen zeigt die Proklamation der israelischen Unabhängigkeitserklärung durch David Ben-Gurion, bei der er und Robert Capa als einzige Fotografen anwesend waren. Das Bild ging 1948 um die Welt. Rudi Weissenstein und Robert Capa hatten den Auftrag unter der Bedingung äußerster Verschwiegenheit bekommen, die einzig weitere Auflage bestand darin, einen ordentlichen Anzug zu tragen, was Rudi Weissenstein als deutscher „Jecke“ wahrscheinlich nicht sonderlich schwerfiel.Weissenstein war jung und voller Idealismus, als er in das britische Mandatsgebiet übersiedelte. Als deutscher Jude und überzeugter Zionist wollte er einen Beitrag leisten zum Aufbau eines kulturellen, liberalen und progressiven Israels. Seine Bilder zeigen den Phänotyp des „neuen Sabre“, des in Israel geborenen Juden. Der Fokus liegt häufig auf starken, widerstandsfähigen Körpern und zeigt kraftvolle Szenen von jungen Kibbuzbewohnern bei der Arbeit. Weissensteins zionistische Ideale, die visuelle Ästhetisierung einer einfachen Umgebung mit rudimentärer Infrastruktur und die Idealisierung menschlicher Körper als Erschaffer dieser neuen Welt sind das überwiegende Narrativ dieser Bilder. Rudi Weissenstein holte mit seinen Fotos Juden aus der OpferrolleWeissenstein war außerdem Liebhaber klassischer Musik und leidenschaftlicher Konzertbesucher. Er ließ sich als offizieller Fotograf des israelischen Philharmonieorchesters engagieren, wo er in einem Zeitraum von vierzig Jahren zahlreiche prominente Persönlichkeiten wie Arthur Rubinstein, Isaac Stern oder Yehudi Menuhin porträtierte. Das 1936 vom einem britischen Violinisten gegründete Palestine Symphony Orchestra (nach der israelischen Staatsgründung 1948in Israel Philharmonic Orchestra umbenannt) setzte sich aus jüdischen Musikern zusammen, die vornehmlich in Orchestern in Europa gespielt hatten und vor der zunehmenden antisemitischen Bedrohung nach Palästina geflüchtet waren. Weissensteins Mutter Emma, die zu dieser Zeit noch in Iglau, einer deutschsprachigen Stadt im heutigen Tschechien lebte, war eine passionierte Klavierspielerin und hatte ihren Sohn schon früh an die klassische Musik herangeführt. Sie überlebte den Holocaust nicht, ebensowenig wie Rudi Weissensteins Bruder.In der fotografischen Arbeit Rudi Weissensteins finden sich keine Hinweise auf diese traumatischen Verluste. Im Gegenteil, seine Orchesterbilder zeigen volle Konzertsäle und ein begeistertes Publikum. Sie scheinen ganz ohne die Entbehrungen der dreißiger Jahre auszukommen und wirken weit entfernt von den desaströsen Umständen in Europa. Sie suggerieren Wohlstand, Kultur, Klasse, Bürgerlichkeit und Angekommen-Sein. Der israelische Filmautor Amir Kliger schreibt über Weissensteins fotografische Arbeit, sie würde „halluzinatorische Träume“ zeigen. Es scheint ganz so, als würde Rudi Weissenstein in seinen Fotografien den Horror des Holocausts durch eben diese „neue Welt“, die durch seine Kamera entstand, auszulöschen zu versuchen und vergessen machen.Placeholder image-2Weissensteins Porträts sind selbstermächtigend. Er fotografiert häufig aus einer leichten Untersicht und hebt die Porträtierten gegen den Himmel hervor, eine Technik, die bereits in der Leni-Riefenstahl-Ästhetik zum Tragen gekommen war. Weissenstein bedient sich dieser Optik, mit dem Unterschied, dass seine Helden und Heldinnen keine als „arisch“ und „gottgleich“ stilisierten Olympia-Athleten sind, sondern jüdische Männer und Frauen, von denen viele gerade erst die Shoah in Europa überlebt hatten. Beim genauen Betrachten seiner Bilder kann man gelegentlich eine eintätowierte Nummer auf einem Arm erkennen. Niemals steht diese aber im Fokus des Bildes.So illusorisch Weissensteins Bilder auch sein mögen, er holt Juden und Jüdinnen durch seine Fotografie erstmalig aus ihrer Opferrolle. In scharfem Kontrast zu denikonischen Bildern, aufgenommen im Kontext der Shoah, die jüdische Menschen mit erhobenen Händen oder als abgemagerte Skelette zeigen, zeigt er sie als starke, begehrenswerte Subjekte, nicht als Überlebende.Das PhotoHouse verbindet mich auch mit meiner FamiliengeschichteBetrieben wird das Fotogeschäft heute von Ben Peter Dagan, Rudi Weissensteins Enkel. Ben beschreibt das Archiv seines Großvaters als eine Wurzel. Für den jungen Familienvater, der mit seinem Ehemann zwei Kinder großzieht, steht es für die Verbindung von der Vergangenheit in die Gegenwart, schafft eine Kontinuität zwischen den Zeitebenen.Das PhotoHouse in Tel Aviv war für mich seit jeher ein Sehnsuchtsort. Er verbindet mich mit der Zeit, in der mein Großvater nach Israel kam und sich – angetrieben von der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben mit den arabischen Nachbarn – eine bessere Zukunft als in Deutschland aufzubauen erhoffte. Weissensteins Arbeit umfasst die größte bekannte fotografische Dokumentation der jüdischen Einwanderung aus Europa in der Zeit der Shoah. Er hat damit auch einen Teil meiner eigenen Familiengeschichte bebildert.Placeholder image-3Mein Großvater kam 1948 mitten im Palästinakrieg nach Israel. Der Zweite Weltkrieg lag hinter ihm, viele weitere Kriegewürden folgen. Fast seinen gesamten Besitz und die meisten seiner Bilder hat er zurücklassen müssen.Der jetzige Krieg, der seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober andauert, hat bereits unzählige Opfer gefordert. Doch dass die Menschen im Krieg nicht nur ihr Leben, ihren persönlichen Besitz und ihr Zuhause verlieren, sondern auch ihre Geschichten, ihre Vergangenheit und die Bilder davon, kann in Anbetracht der dramatischen Umstände leicht in Vergessenheit geraten.Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, besagt ein bekanntes Sprichwort und – obgleich wir spätestens seit der Lektüre von Susan Sontag wissen, dass Fotografie niemals die Wirklichkeit widerspiegelt, sondern lediglich einen Ausschnitt davon – so verbrennen in diesen Tagen auch unzählige subjektive Wirklichkeiten.Das PhotoHouse existiert seit den 1940er Jahren und hat viele Kriege erlebt. Dieser Krieg ist einer zu viel gewesen. Eine finanzielle Unterstützung der Regierung für den Wiederaufbau des in Teilen zerstörten Ladens, zu dem auch das Archiv gehört, steht noch aus. Viele Tel Aviver bieten in diesen Tagen ihre Hilfe an, zeigen sich solidarisch. Das PhotoHouse ist auch Teil ihrer Vergangenheit, vielleicht Teil ihres illusorischenTraums.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert