A
wie Autostopp
Auto oder Zug? Für Jugendliche wie mich gab es damals, um 1980, ein Drittes: sich an die Straße stellen und den Daumen in den Wind recken. Der Sommer war Autostopp-Zeit. Jedes Wochenende unterwegs, zu Freund*innen, zu Konzerten. „Omnia mea mecum porto“ war meine Devise und Jack Kerouacs On the Road mein Lieblingsbuch. Da ich mir keinen Walkman leisten konnte, lief der passende Sommerhit im Kopf: Autostop von Karussell (1979). Knackiger Bluesrock, keine Note zu viel.
Die Band hatte Street-Credibility, denn der Drummer Jochen Hohl und der Gitarrist und Sänger Peter „Cäsar“ Gläser kamen von der verbotenen Leipziger Band Renft. „… kein verdammtes Gefährt fährt da mal ran zu mir / … sie sehn über mich weg, wie über ’n dreckigen Hund“, sang die Stimme in meinem Kopf. Und ich schwor mir dann, jeden Tramper, jede Tramperin mitzunehmen, sollte ich mal erwachsen sein und ein Auto haben. Als es so weit war, kam das nur noch zwei- oder dreimal vor. Autostopp war out. Michael Suckow
C
wie Citys
Wenn mein Kumpel Thomas und ich im Sommer 86 nicht in Wackersdorf demonstrierten oder in den Donau-Auen beim Kiffen hingen, düsten wir in seiner schwarz-gelben Ente durch Niederbayern und hörten krachend laut Theme for Great Cities der Simple Minds. Wir hassten die Pampa hingebungsvoll, sehnten uns nach nahen und fernen Städten: München, Freiburg, Berlin und Barcelona.
Der industriell-peitschende Sound des Liedes fütterte unsere Sehnsucht nach urbaner Freiheit (→ Autostopp), wo keine Rentner wegen bunter Haare zu uns sagten: „Ihr gehört ins KZ!“ In einer, wie wir fanden, mondänen Geste popkultureller Subversion wollten wir das Scheiß-System von innen sprengen: mit Leistungsverweigerung, guter Laune und künstlerischer Energie. Die Simple Minds steuerten mit Theme for Great Cities den Soundtrack bei. Florian Schmid
G
wie Geburtstag
Alle Jahre wieder, seit mehr als einer Dekade, bestimmt ein Stück Melodic Metal meine Juli-Sommertage. In den Wochen um meinen Geburtstag herum läuft der Song Komm von den Apokalyptischen Reitern (2003) im Dauerloop. Darin singt die Thüringer Kapelle, die sich 1995 in Weimar gründete, ein bisschen kitschig vom Wegträumen und Seelenbaden. Hingegen sind die Reiter, die sich an die Botschaft „Komm!“ anschließen, die Symbole für Pest, Krieg, Teuerung und Tod.
Beim genaueren Hinhören ist das Metal-Komm ein postmodernes Memento mori, eine Erinnerung an die Endlichkeit. Eingerahmt ist das Vanitas-Motiv in aufkreischende Gitarren und lockende Keyboardklänge. Es fallen die Sätze: „Du stirbst nicht einfach so, / jeden Tag nur ein bisschen. / … / Jeden Tag ein bisschen reifer, / jeden Tag ein bisschen weiser. / Jeden Tag ein bisschen älter / und auch jeden Tag ein bisschen kälter.“ Dann hüllt mich immer Melancholie ein, so schön wie ein Sommerregenschauer – und so flüchtig (→ Yesterday). Tobias Prüwer
J
wie Junimond
Es war ein rostiger alter Mercedes Vito, wir passten alle sechs hinein, die Mädchen, die Jungs, der Mann und die Mutter. Während sie auf der Ferienautobahn fuhr – vorsichtig, wegen der kostbaren Fracht und eines Unfalltraumas –, schob der Mann eine alte CD in den Schlitz. Rio Reiser mit seiner rostigen Stimme. Und der Mutter am Steuer schmolz das Herz. Sie ist nah am Wasser gebaut, und was wäre Musik ohne Poesie? „Die Welt schaut rauf zu meinem Fenster / Mit müden Augen ganz staubig und scheu.“
Hach! Die Kinder im Fonds kannten das Lied genauso auswendig wie die Erwachsenen. Und wir grölten alle miteinander, etwas ganz Unterschiedliches und vielleicht doch genau dasselbe verstehend: „Bye bye, Junimond!“ Warum gerade dieses Lied? Keine Ahnung. Weil’s im Juli war? Der Vito rostet längst woanders, aber Rio bleibt. Katharina Körting
M
wie Morgens
Eine Gitarre sucht nach Tönen, schlägt wie probehalber einzelne Akkorde an, ein Besen wischt über ein Schlagzeugfell, alles steht auf Anfang. Es wippt sich ein Rhythmus zurecht, und Jonathan Richman singt Summer Morning mit der Stimme, die nie ganz über den Bruch vom Kind zum Mann hinweggekommen zu sein scheint. Er singt von einem Spaziergang an einem Sommersonntagmorgen, aus dem die nächtliche Kühle noch nicht völlig verschwunden ist, oder vielmehr: Er tastet sich in das Lied hinein wie in den jungen Tag.
Richman singt davon, wie es duftet nach Blumen, davon, dass die Fliegen noch schlafen. Und dann geht die Sonne auf über den Straßen, der Tag liegt vor ihm und damit, so scheint es, ein ganzes Leben, das in diesem Moment unendlich lebenswert erscheint. Es ist unter den vielen schönen Sommerliedern das allerschönste, das ich kenne. Immer wenn ich es wiederhöre, kommt es mir vor, als hörte ich es zum ersten Mal, als ginge die Sonne auf an einem hellen Morgen im Juni. Beate Tröger
P
wie Piazzolla
Der chilenische Dichter und Diplomat Pablo Neruda hat uns das „kleine Lied für Matilde“ geschenkt, Pequeña Canción para Matilde, und ein Jahr nach seinem Tod (1973) hat Astor Piazzolla, der Begründer des Tango Nuevo, es in Töne gesetzt. „Die Wellen gehen“, wohin gehen sie „mit uns“? „Zum Vergnügen oder zum Schmerz?“ Sicher zu beidem, aber kein Zweifel, sie „rollen auf den Schmerz zu“, und doch: „Hab keine Angst“, denn „du und ich werden bleiben“.
Von den Arrangements, die es gibt, ist das, wo Amelita Baltar singt, in seiner fast pathetischen Schwermut dem Geist Piazzollas sicher am fernsten – obwohl selbst da noch das widerspenstige Ostinato durchklingt, das er der Habanera aus Georges Bizets Oper Carmen entwendet hat –, aber für meine verstorbene Lebensgefährtin und mich war es im heißen Sommer immer die Tanzvorlage. Michael Jäger
S
wie Summer Son
Eigentlich hatte ich gerade ein Redaktionspraktikum beim Kölner Stadtanzeiger absolviert, als ich plötzlich, typisch verunsichertes Arbeiterkind, meinen Marktwert in der richtigen Wirtschaft testen wollte und mich bei der TV-Produktionsfirma Endemol als Marketingmanagerin bewarb – mit für mich damals lachhaft hohen Gehaltsvorstellungen, um den Thrill zu erhöhen. Dummerweise bekam ich den Job, verdiente ein Jahr lang so viel Geld wie nie mehr, war im Team der ersten Staffel von Big Brother, wir waren auf Du mit diesem Zlatko und Jürgen.
Worum mich andere heiß beneideten, dafür schämte ich mich sehr. Obendrein war mein Freund ein Intellektueller. Obendrauf wurde ich auch noch gemobbt von der neuen Sekretärin meines CEO. Von „Mandy“, kein Witz, der ich zuvor noch diskret Rechtschreibfehler korrigiert hatte. Ich wollte nur noch weg. Auf das Endemol-Format Wer wird Millionär? hatte ich große Lust, nur verdiente ich dafür zu viel. Vertragsauflösung. Summer Son von Texas wurde danach meine Hymne, mindestens einen Sommer lang (→ Citys). Katharina Schmitz
W
wie Weinprobe
Die Älteren erinnern sich eventuell noch: Romina Powers leicht anzüglicher Blick, als sie 1986 zusammen mit Al Bano den Italo-Schlager Sempre, sempre in die Kamera sang. Weit weg von diesem flirrenden Gesichtsausdruck saß ich auf der Rückbank unseres Mietwagens, nach einer ausgiebigen Verkostung bei einem Weingut irgendwo in Umbrien, als ich überraschend textsicher mitgrölte: „Sempre, sempre, sempre, sempre tu. Sempre, sempre insistentemente.“
Fahrer (nüchtern) und Beifahrer wurden kurzerhand angesteckt und waren nach anfänglichen sprachlichen Unsicherheiten ebenfalls nahezu fließend. Seither darf dieses Lied in keinem Italien-Urlaub fehlen und wird mit großer Inbrunst bereits von mitreisenden Kinderngeschmettert (→ Junimond). Im Gegensatz zu mir haben sie Rominas frivole Miene allerdings nicht vor Augen. Elke Allenstein
Y
wie Yesterday
Diese Ballade, die Paul McCartney geschrieben hat und die 1965 auf dem Album Help! von den Beatles erschienen ist, blieb für mich das Lied eines Sommers. Unter meinem Fenster sang mein Freund zur Gitarre, so unendlich traurig, dass ich mich schuldig fühlte. „Yesterday, all my troubles seemed so far away / Now it looks as though they’re here to stay …“Dabei hatte er vor Kurzem noch Bill Haleys Rock Around the Clock von 1955 in unserem Internat zum Hit gemacht. Barfuß in weißen Schlaghosen tanzte ich unterm Sternenhimmel und unter seinem Blick (→ Weinprobe). An diesem Abend, das wusste ich, würden wir noch im Wald spazieren gehen, er würde mich küssen.
Wieso liebte ich ihn plötzlich nicht mehr (→ Junimond)? Wir waren schon ein reichliches Jahr zusammen.Es gab keinen anderen, es war unerklärlich. War es eine abfällige Bemerkung meiner Mutter über ihn? War ich schon vorher unsicher? „Willst du nicht mal zu ihm runtergehen?“, sagte Marlies, mit der ich zusammenwohnte. Aber was sollte ich ihm denn sagen, wenn ich ihn nicht belügen wollte? Irmtraud Gutschke
Z
wie Zeltlager
Im Sommercamp der Labour Party Young Socialists war die Stimmung großartig. Statt wie die Jusos daheim endlos zu diskutieren, verfolgte die britische Schwesterorganisation eine simple politische Strategie, die auf der Annahme beruhte, dass sich mit einem konsequent sozialistischen Parteiprogramm Wahlen gewinnen ließen. Den Soundtrack zu dieser trotzkistischen Träumerei lieferte Come On Eileen von den Dexys Midnight Runners.
Der beschwingte Sommerhit des Jahres 1982 füllte die Tanzfläche bei den abendlichen Discos in unserem Zeltlager, die regelmäßig mit dem Sprechchor „Maggie, Maggie, Maggie – out, out, out“ endeten. Gemeint war die marktradikale Premierministerin Margaret Thatcher, deren grundstürzender Umbau der britischen Gesellschaft erst begonnen hatte. Manchmal ist Unwissenheit doch Glück. Joachim Feldmann