Aktuelle Romane beschäftigen sich mit dem Tabuthema Alkoholismus. Das ist ein Gewinn, weil es Angehörigen den Mut gibt, sich zu öffnen. Auch unser Autor wuchs mit der Sucht seiner Mutter auf
Als Angehöriger droht man am Starrsinn von Alkoholikerinnen und ihrem tragischen Auflösungsprozess selbst zugrunde zu gehen
Foto: Rachele Daminelli/Connected Archives
Kinder von Alkoholikerinnen sind Meisterschauspieler. Ausgebildet wurden sie von der Scham. Wenn meine Mutter tagsüber, also zu einer Zeit, in der „normale Menschen arbeiten“, ihre Runde durch die Bistros der Kleinstadt zog und man nach ihr fragte, gab ich stets zur Antwort: „Sie ist etwas trinken“, ganz so, als hätten wir kein Wasser zu Hause, als sei sie nur wegen eines dringenden Durstes unterwegs.
„Vergiss mich“ – Die Mutter endet als launisches, zorniges Wrack
Bei der Lektüre von Alex Schulmans autobiografischem Roman Vergiss mich erkannte ich, dass ich mit derartigen Ausreden keineswegs allein war. Im Gegenteil, Lügen und Verschleiern erweisen sich als ein Muster. Der schwedische Schriftsteller spricht von einem „Gel&
allein war. Im Gegenteil, Lügen und Verschleiern erweisen sich als ein Muster. Der schwedische Schriftsteller spricht von einem „Gelübde (…). Mein Leben lang ist es meine Hauptaufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass Mamas Trinken nicht herauskam (…). Ich verwischte alle Spuren. Ich war ein tapferer Soldat, Mamas geschickter Helfer“, lese ich in dieser ergreifenden Chronologie über den Zerfall einer schillernden Persönlichkeit, einer liebenden Mutter, die als launisches, zorniges Wrack endet. Dass ich mich, nein, uns darin spiegele, zeigt, dass das Narrativ offenbar immer ähnlich verläuft.Bevor sich der unausweichliche Abgrund auftut, fungiert man als ungewollter Kollaborateur, um die geliebte Person vor sich und der Öffentlichkeit zu schützen. Man will nicht als „Gesocks“ gelten, daher räumt man, wie Schulman es beschreibt, eben im Verborgenen die Flaschen für die Mutter aus dem Schrank.Was bleibt den Angehörigen? Zunächst der nostalgische Rückblick. Denn auch im Erinnern erweisen sich Kinder von Alkoholikern als wahre Meister. Inmitten der über Jahrzehnte anwachsenden Verzweiflung flicht der Autor daher immer wieder Sequenzen einer besseren Vergangenheit in seinen Bericht ein. Und auch ich verehrte meine Mutter lange als Heilige, allen Realitäten zum Trotz, eben weil sie auch ein großes Herz hatte, das sich im Laufe der Zeit jedoch verformte. In Hefeweizen und Ouzo getränkt, war es später immer schwerer zu erreichen. Entlang der Linie von Führerscheinverlust, Kündigung und Ausgrenzung bis zu den todbringenden Krankheiten verlieren die Herzen an Kraft.„Trinkergeschichte“ – immer weniger soziale KontakteWährend Schulmans Werk so lakonisch wie anmutig das bittere Los der Nahestehenden in den Blick nimmt, ja, ihre Hilflosigkeit angesichts einer oft kaum aufhaltbaren Katastrophenentwicklung dokumentiert, beleuchtet Sebastian Vogt in seiner Trinkergeschichte die ruinöse Innenwelt der Kneipenbewohner:innen. Obwohl der Verlag die Story des mit dem Autor gleichnamigen Protagonisten als Novelle klassifiziert, bestehen Witz und Ironie darin, dass es den markanten Kipppunkt, die Goethe’sche „unerhörte Begebenheit“, gar nicht gibt. Stattdessen schildert der Ich-Erzähler rondoartig die Alltagsschleifen. Spätes Aufstehen, Trinken, bis ein gewisser Pegel erreicht ist, Abstürze in Kaschemmen.Nur ganz langsam, äußerst subtil rutscht das Fundament unter den immer gleichen Bahnen weg. Es kommt zur Geldnot, später zu ersten Schlägereien. Es droht der Selbstverlust. „Tatsächlich hatte ich mittlerweile das Gesicht eines schweren Trinkers. Und meine Kleidung war schäbig“, bekennt der Abhängige. Auch eine Affäre mit einer Gastronomin bewahrt ihn nicht vor dem Absturz. Anonymität ist ihm ein hohes Gut. Er verteidigt es als Einzelgänger: „Obwohl ich im Rausch spätnachts Gespräche mit Fremden führte, wurden die nicht zu Freunden (…). Immer war ich es, der ein Gespräch abbrach und davonging.“Wiederum sehe ich Parallelen zu meiner Vita. Zwar hatte meine Mutter durchaus Männergeschichten, aber keine echten Weggefährten. Abseits meiner Oma, ohne die ich selbst nie den Absprung aus diesen Verhältnissen geschafft hätte und ohne die wir sicher noch tiefer gelandet wären, pflegte sie keine kontinuierlichen sozialen Kontakte. Sie, die gelernte Hotelfachfrau, hielt sich an die Thekenschwätzer und solidarisierte sich mit den deklassierten und schlecht bezahlten Kellnerinnen. Ganz die Linke und SPDlerin eben, die Politik, angefüllt mit genügend Promille, in Rage versetzen konnte.Als Angehöriger droht man am Starrsinn von Alkoholiker:innen und ihrem tragischen Auflösungsprozess selbst zugrunde zu gehenErst spät traute ich mich, sie auf ihr „Problem“ anzusprechen – mit fatalen Folgen. Sie wiegelte nicht nur ab, sondern wurde jähzornig. Nur in wenigen hellen Momenten zeigte sie kurz Einsicht. Wie bei Schulman kam es bei uns immer wieder zu Entzweiungen. Als Angehöriger droht man am Starrsinn von Alkoholiker:innen und ihrem tragischen Auflösungsprozess selbst zugrunde zu gehen. Man distanziert sich, weint, steht auf und unternimmt erneute Versuche, sein Gegenüber irgendwie aus den Klauen der Drogen zu reißen, zumeist vergeblich. Bis zuletzt sieht man sich mit der Verharmlosung der Sucht durch die Kranken selbst konfrontiert. Vogts Hauptfigur nutzt für ihre Besäufnisse gern den Diminutiv vom „Krügel Bier“. Umso schwerer wiegt, dass man bei diesen rhetorischen Ablenkungsmanövern als Danebenstehender stets den Tod vor Augen hat.Dass all diese Aspekte sich zu einem Narrativ verdichten, hängt natürlich auch mit gesellschaftlichen Bedingungen zusammen. Noch immer wird der Alkohol, insbesondere in Form von sexy Longdrinks oder elegantem Wein, nicht ausreichend als Droge angesehen. Bei manchen Feierlichkeiten gehört er gar zur guten Sitte. Hinzu kommen eine Werbebranche und eine Wirtschaftslobby, die alles unternehmen, um das Suchtmittel mit Attributen wie Genuss, Lebensfreude und Freiheit zu verbinden.Selbst die Kunst hat einen gehörigen Anteil an seiner Kultivierung. Seit Bacchus mit Rausch und Entgrenzung assoziiert wurde, haben Dichter:innen seine Wirkung als Stimulans für ihr Schaffen gefeiert. Charles Baudelaire betont beispielsweise in seinem Essay Wein und Haschisch, dass mit Ersterem „aus unserer Liebe die Poesie hervorgeht, die zu Gott wie eine seltene Blume emporsteigt“. In seinem Gedicht Der Wein der Liebenden „reite(t)“ man gar auf ihm „in eines Götterhimmels Märchenraum“. Obschon nicht jeder Autor den vermeintlich edlen Tropfen als transzendentes Instrument begreift, hält sich dessen Stereotyp als Muse doch beharrlich. Charles Bukowski hat dieses Klischee (mit Magendurchbruch) gelegt, nicht minder Ernest Hemingway, ebenso die Grande Dame des Nouveau Roman, Marguerite Duras.Einmal beschreibt sie in einem Interview in beinah komischer Nüchternheit, mit wie viel Liter Wein am Tag sie welchen Weltbestseller verfasst habe. Mit M. D., publiziert von ihrem Partner Yann Andréa, ist zudem ein ganzes Buch über ihren (letzten) Aufenthalt in der Entzugsklinik entstanden. Sie echauffiert sich über das Personal, trinkt heimlich, wird fixiert. Ihre Halluzinationen lassen sich, abseits aller Mythisierung des Rauschmittels, tatsächlich als literarische Geschichten lesen. Man kann es kaum fassen!Das schwierige Gespräch mit den Erkrankten wagenDass Alkohol jedoch nur in den wenigsten Fällen Überragendes hervorbringt, sondern seine katalysatorischen Effekte größtenteils mehr auf Erfindung denn auf Wahrheit beruhen, hält ebenfalls Vogt in seinem bewusst zähen, mit naturalistischer Ehrlichkeit niedergeschriebenen Text fest, haben wir es bei seinem Ich-Erzähler doch mit einer gescheiterten Schriftsteller-Existenz zu tun. Je mehr er säuft, desto weniger Seiten füllt er. Erst als er spät in der Psychiatrie doch noch die Kurve kriegt, wird er produktiv.Nur wem gelingt das schon? Die meisten Betroffenen leiden an der Einsamkeit. Das Trinken ist lediglich Symptom. So scheint es sich auch in dem zuletzt für den Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts nominierten Stück Flaschenkinder von Rebecca C. Schnyder zu verhalten. Hierin treffen sich zwei Jugendliche unversehens am Altglascontainer. Beide haben alkoholsüchtige Eltern, die bezeichnenderweise das gesamte Drama über anonym bleiben. Während Jonas der Absprung in eine Pflegefamilie gelingt, verharrt Lia im Status quo. Sie geht nicht mehr zur Schule, gibt sich auf.Dass sich stetig mehr Bücher dem heiklen Tabuthema widmen, ist ein Gewinn, weil es Angehörigen den Mut gibt, sich zu öffnen und zugleich das schwierige Gespräch mit den Erkrankten zu wagen. Die wachsende Anzahl gibt allerdings auch zu denken. Anscheinend nehmen die Faktoren für das Abrutschen mit dem Rauschmittel weiter zu: Armut, soziale Ausgrenzung, ein Staat, der wegschaut, und ein medialer Fortschritt, der immer mehr Verlierer in der analogen Welt abgehängt zurücklässt. Trinker:innen fristen dabei ein Schattendasein. Ihr trauriges Schicksal wird manchmal erst sichtbar, wenn es bereits zu spät ist.Vergiss mich Alex Schulman Hanna Graz (Übers.) , DTV 2025, 256 S., 23 €Trinkergeschichte Sebastian Vogt Drava 2025, 140 S., 21 € Björn Hayer ist Schriftsteller und Literaturkritiker. Seit dem Frühjahr 2025 leitet er das Künstlerhaus Ebenkoben