Seit zwei Jahren gibt es das Bürgergeld, bald soll es weg. Eine Studie zeigt: Von echter Stütze und Würde ist es weit entfernt


Die Missstände beim Bürgergeld sind Ausdruck eines grundlegenden Systemversagens, sagt Helena Steinhaus

Foto: Achille Abboud/Imago Images


80 Prozent der Menschen in Bürgergeld haben Angst wegen der Art und Weise, wie Politiker derzeit über sie sprechen. Nicht einmal jeder Zehnte hat das Gefühl, die Politiker hätten ein realistisches Bild davon, wie es ihnen geht. Und wie geht es ihnen? 54 Prozent verzichten nach eigenen Angaben selbst auf Essen, um ihre Kinder besser ernähren zu können. All das kommt in den öffentlichen Diskussionen nicht vor.

Um alledem eine Stimme zu geben, haben wir Menschen in Bürgergeld gefragt, wie ihre Lebenssituation ist. Dazu hat das Umfrageinstitut Verian eine Umfrage unter 1.014 Bürgergeldbeziehenden durchgeführt. Zwei Jahre nach Einführung des Bürgergelds macht diese Umfrage die Lebensumstände von Bürgergeldbeziehenden sichtbar.

sichtbar.Die Betroffenen wurden zu drei Themenbereichen befragt: Wie kommen sie mit dem Regelsatz aus? Wie geht es ihnen in der Arbeitssuche und mit den Jobcentern? Und wie fühlen sie sich in der Gesellschaft? Die Ergebnisse zeichnen ein drastisches Bild von täglichem Verzicht, psychischer Belastung, Angst und Scham – und geringen Erwerbsaussichten.Am Montag hat Sanktionsfrei die Ergebnisse der Bürgergeld-Studie vorgestellt – und hofft damit auf einen Realitätscheck der aktuellen Bürgergeld-Debatte. Friedrich Merz (CDU) will das Bürgergeld abschaffen, Carsten Linnemann (CDU) drängt auf Totalsanktionen, wenn Menschen eine Arbeit nicht annehmen, und der Fokus der medialen Debatte liegt auf Totalverweigerern und Leistungsmissbrauch. Diese Debatte hat rein gar nichts mit der Lebenssituation von Menschen in Bürgergeldbezug zu tun – das zeigt die Studie.Die Missstände, die sichtbar werden, sind nicht das Verschulden der Betroffenen, sondern Ausdruck eines grundlegenden Systemversagens. Das Bürgergeld war nie eine echte Überwindung von Hartz IV. Es blieb eine Notversorgung mit einem Regelsatz, der seit Jahrzehnten fernab jeder Realität errechnet wird.Ich stelle hier einige zentrale Befunde der Studie vor. Detailliert können Sie alles in der vollständigen Studie nachlesen, die hier zum Download bereitsteht.Regelsatz: Neun Prozent können sich gesund ernährenErstens: Der Regelsatz von monatlich 563 Euro reicht laut großer Mehrheit der Befragten (72 Prozent) nicht aus, um ein würdevolles Leben zu führen. Selbst Grundbedürfnisse werden nicht ausreichend erfüllt: Gerade einmal jedeR Zweite gibt an, dass in seinem oder ihrem Haushalt alle satt werden; insbesondere Eltern verzichten zu Gunsten ihrer Kinder auf Essen (über die Hälfte, 54 Prozent).Ein Sozialstaat, der Eltern zu der Frage zwingt, ob sie oder ihre Kinder satt werden sollen, ist kein Schutzraum. Das zeigt auch deutlich, dass die Diskussion, ob der Regelsatz zu stark erhöht wurde, völlig realitätsfern ist.Die überwältigende Mehrheit will durch (mehr) Erwerbsarbeit unabhängig werdenZweitens: Der Wunsch, vom Bürgergeld unabhängig zu werden, ist bei drei Viertel der Befragten stark ausgeprägt. Jedoch sind nur wenige zuversichtlich, dass sie auch eine Stelle finden werden, mit der sie den Bürgergeldbezug beenden können, nämlich nur ein Viertel.Die Hürden bei der Jobsuche sind vielfältig – am häufigsten werden als Grund körperliche Einschränkungen angegeben (59 Prozent), auch psychische Erkrankungen (57 Prozent). Auch werden die Jobcenter selbst bei der Arbeitssuche nur als sehr bedingt hilfreich wahrgenommen.Keine Nebensache: 42 Prozent schämen sich, Bürgergeld zu beziehenDrittens ist Bürgergeld nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein emotionales Desaster: 42 Prozent schämen sich, überhaupt Leistungen zu beziehen, 72 Prozent haben Angst vor weiteren Verschärfungen, etwa durch Sanktionen. Nur 12 Prozent fühlen sich als Teil der Gesellschaft.Wir sprechen hier von Scham, Angst und sozialer Isolation. Diese Gefühle sind keine Nebensache. Scham macht krank. Angst macht mürbe. Und Ausgrenzung zerstört jede Perspektive. Wir müssen diese Debatte grundlegend anders führen und nicht so tun, als gäbe es gute Jobs für all diese Menschen.Sorge vor einem massenhaften Bürgergeld-Betrug entbehrt jeder DatengrundlageDie Ergebnisse zeigen: Bürgergeld bedeutet für die Menschen einen täglichen Überlebenskampf. Das ist das wahre Problem. Stattdessen aber spricht die neue Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) in ihrem ersten großen Interview von „mafiösen Strukturen“ im Bürgergeldbezug. Ein Begriff, der klingt wie aus einem Krimi – aber tatsächlich nichts mit der Realität zu tun hat. Es gibt keine einzige Datengrundlage, die zeigt, dass organisierter Sozialleistungsbetrug ein strukturelles Problem wäre. Was es aber sehr wohl gibt, sind 5,5 Millionen Menschen, darunter hauptsächlich Kinder, Jugendliche, Kranke, Pflegende, Erziehende, Arbeitende, die am finanziellen Limit in Armut leben und mit immer mehr gesellschaftlicher Schmähung und politischen Verschärfungen rechnen müssen.Es ist bekannt, dass der tatsächliche finanzielle Schaden durch Sozialbetrug minimal ist. Wer systemischen Missbrauch sucht, sollte bei Cum-Ex und Steuervermeidung anfangen – nicht bei Alleinerziehenden, die auf Essen verzichten, damit ihre Kinder satt werden. Der politische und gesellschaftliche Schaden durch den aktuellen Diskurs ist aber enorm: Er schürt Misstrauen, rechtfertigt Kürzungen und delegitimiert ganze Menschengruppen.Die Gefahr von Totalsanktionen: ObdachlosigkeitWenn eine Bundesministerin faktenfrei von „mafiösem Bürgergeld-Betrug“ fabuliert, dann ist das kein Kampf gegen Missbrauch – sondern ein Frontalangriff auf die Würde von Armutsbetroffenen und Populismus mit sozialdemokratischem Etikett. Die politische Debatte muss stattdessen raus aus der Empörungsspirale – und rein in die Realität. Die entscheidende Frage lautet: Kann der derzeitige Regelsatz ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und gibt es überhaupt genügend existenzsichernde Stellen für alle, die arbeiten wollen und können?Unsere Forderungen sind: 1. Ein sanktionsfreier Regelsatz von mindestens 813 Euro monatlich. 2. Keine Rückkehr zum Vermittlungsvorrang, sondern Qualifizierung und Begleitung auf Augenhöhe und mit Blick auf reale Chancen. 3. Die Bundesregierung muss auf die Wiedereinführung der Totalsanktionen verzichten!Wir haben in der Studie gefragt, was Totalsanktionen für die Menschen konkret bedeuten würden: Am häufigsten wird die Angst genannt, obdachlos zu werden. Was kein Wunder ist, denn schon zu Zeiten von Hartz IV war Obdachlosigkeit häufig die Folge von Totalsanktionen. Das dürfen wir nicht wieder zulassen!Die Ergebnisse zeigen auch, dass die mediale Berichterstattung in diesem Bereich in der Vergangenheit und aktuell zu einem Zerrbild führt. Betroffene müssen mehr in den Mittelpunkt gerückt und mit Menschlichkeit behandelt werden. Die tatsächlichen Einsparpotenziale liegen, wie die Daten zeigen, nicht bei Bürgergeldbeziehenden, sondern zum Beispiel bei Finanzbetrug, Vermögens- und Erbschaftssteuer und fossilen Subventionen. Das Armen-Bashing muss ein Ende haben.

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Von Veritatis

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