Aus der Geschichtsschreibung getilgt: Moderner Fußball war lange alles andere als eine Männerdomäne. Und wer weiß schon, dass 1971 eine Fußball-WM der Frauen in Mexiko stattfand? Diese Geschichte erzählt der Dokumentarfilm „Copa 71“
Das englische Team bei der Frauenfußball-WM 1971 in Mexiko
Foto: Mirrorpix
Gleich in der ersten Szene ist eigentlich alles gesagt. Brandi Chastain wird vor laufender Kamera gefragt, wann die erste Fußball-WM der Frauen ausgetragen wurde. Sie ist sich sicher, das war 1991, als sie mit dem USA-Team in China den Titel holte. Daraufhin wird Chastain ein Tablet gereicht, mit der Aufzeichnung eines Spiels der Fußball-WM der Frauen in Mexiko, aus dem Jahr 1971, im rappelvollen, über 100.000 Plätze fassenden Aztekenstadion. „Warum wusste ich davon nichts?“ fragt sie irritiert und schließt an: „Das macht mich sehr glücklich – und, ehrlich gesagt, ziemlich wütend.“
Für Glücksgefühle wird der Dokumentarfilm Copa 71 auf jeden Fall bei Fußballfans sorgen, denn das Regie-Duo Rachel Ramsay und James Erskine hat in jahrelanger Arbeit Fernseh-Aufzeichnungen von Höhepunkten der damaligen Spiele und aktuelle, immer wieder zu Herzen gehende Interviews mit den Sportlerinnen zusammengetragen. Ziemlich wütend werden wohl auch jene, die sich überhaupt nicht für Fußball interessieren, aber den Film aus gesellschaftspolitischer, feministischer Perspektive betrachten.
Denn wie der Weltfußballverband FIFA 1971 auf das privatwirtschaftlich organisierte Turnier reagierte und wie willfährig sich die weltweite Medienlandschaft der Linie der FIFA ergab, erschüttert.
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Stadien waren plötzlich gesundheitsgefährdend für Frauen
Doch am Anfang von Copa 71 stehen die ersten Jahrzehnte des modernen Fußballs, in denen der Sport beileibe keine Männerdomäne war. Allerdings verbot der englische Fußballverband 1921 den Frauen, seine Stadien zu benutzen, aufgrund angeblicher Gesundheitsgefährdung. In anderen Ländern zog man nach oder verbot Frauen das Spielen gleich ganz. Ab den 1960er Jahren wendete sich das Blatt langsam wieder, ohne dass die Herren der FIFA daran irgendein Interesse zeigten. 1970 organisierte der Getränke-Hersteller Martini & Rossi eine erste eigene WM in Italien.
Dessen Ansatz, dem männlichen Publikum schlicht das zu bieten, wofür es sich am stärksten interessiert („Fußball und Frauen“), war offen kommerziell, sexistisch und erfolgreich. Bereits 1971 folgte ein zweites Turnier, in Mexiko. Weil auch dort der offizielle Fußball-Verband seine regulären Stadien nicht zur Verfügung stellen wollte, wurden zwei neue, gigantische Arenen zum Austragungsort, in denen im Jahr zuvor erst die Fußball-WM der Männer stattgefunden hatte. Sie gehörten dem größten Medienunternehmen des Landes, waren somit der Kontrolle des Fußballverbands entzogen und hatten eine gewaltige PR-Maschine im Rücken. Die Massen wurden in Euphorie versetzt und hunderttausende von Tickets verkauft.
Trotz dieses Publikumserfolgs setzte die FIFA die Landesverbände unter Druck, keine weiteren solcher Turniere zu unterstützen; die ersten Fußball-Weltmeisterschaften der Frauen wurden aus der Geschichtsschreibung getilgt. Als müsste der Dokumentarfilm Copa 71 nun alles an Öffentlichkeitsarbeit aufholen, was über die letzten Jahrzehnte versäumt worden ist, wirkt er mit seinem atemlosen Schnitt und fast durchgängiger Musik wie ein langer, aber sehr unterhaltsamer Werbeclip.
Der Wert seiner Erinnerungsarbeit kann nicht hoch genug geschätzt werden. Und wer sich tiefgründiger, nicht zuletzt auch aus deutscher Sicht mit dem Thema beschäftigen möchte, hat dazu im Vorfeld der anstehenden EM viele Gelegenheiten. Darunter: der brandneue Podcast des Fußballmagazins Kicker, Verboten gut – Wie Frauen den Fußball erobern. Auch über diesen Titel lässt sich trefflich streiten.
Copa 71 Rachel Ramsay und James Erskine Großbritannien 2023, 91 Minuten
Copa 71 Rachel Ramsay und James Erskine Großbritannien 2023, 91 Minuten