Zwei Nachrichten. Zwei Tage. Zwei Mal blieb mir der Atem weg.
Da ist dieser 15-jährige Junge an einer berufsbildenden Schule mit Technikschwerpunkt (HTL) im österreichischen Vöcklabruck. Mitschüler werfen ihn aus dem Fenster. Aus dem ersten Stock. Nicht im Affekt, nicht als Unfall – sondern gezielt. Er überlebt, schwer verletzt. Die Schule spricht von einem „Vorfall“, man werde das intern aufarbeiten. Die Täter? Wieder im Unterricht.
Keine 48 Stunden später: Hamburg, Billstedt. Ein Mann wird im Einkaufszentrum niedergestochen. Öffentlich. Vor Zeugen. Er stirbt wenig später im Krankenhaus. Der Täter flüchtet. Auch hier: keine große Sondersendung. Kein Brennpunkt. Kein Aufschrei.
Zwei Taten, wie sie brutaler kaum sein könnten. Zwei Tatorte, die eigentlich sicher sein sollten – ein Klassenzimmer, ein Einkaufszentrum. Und zwei Reaktionen, die mehr sagen als jede Statistik: Schulterzucken. Achselzucken. Weitergehen.
Man hat fast den Eindruck, dass wir uns daran gewöhnt haben. An Gewalt. An rohe Brutalität. An die Tatsache, dass man im Schulalltag aus dem Fenster fliegen kann, ohne dass die Schule unter Schock steht. Dass man beim Einkaufen sterben kann – und am nächsten Tag wieder alles normal ist. Oder sogar am selben.
Was ist passiert mit dieser Gesellschaft?
Verrohung mit Ankündigung
Wir haben all das kommen sehen. Seit Jahren häufen sich Meldungen über Gewalttaten an Schulen, in Bahnhöfen, auf der Straße. Aber die Debatte bleibt ritualisiert. Wenn ein Täter nicht in das passende Raster passt, dann war er „psychisch auffällig“, „in schwierigen Verhältnissen“ oder „noch nicht volljährig“. Wenn das Opfer Pech hatte, dann war es eben „zur falschen Zeit am falschen Ort“. So lässt sich jeder Fall einzeln wegerklären.
Aber irgendwann sollte man sich fragen: Wie viele Einzelfälle braucht es für ein Muster?
Natürlich gab es immer schon Gewalt. Aber das hier ist etwas anderes. Es ist die Kälte, mit der sie geschieht. Die Rücksichtslosigkeit. Und vor allem: das Verstummen danach. Es gibt keine gesellschaftliche Empörung mehr, keine politische Debatte, keine moralische Grenze, an der sich noch jemand reibt. Stattdessen: Nachrichten, die nach wenigen Stunden wieder verschwinden.
Die schleichende Gleichgültigkeit
Vielleicht ist das das eigentlich Gefährliche: Nicht die Gewalt an sich, sondern unsere Gleichgültigkeit. Unsere kollektive Unfähigkeit, noch betroffen zu sein. Wir haben uns abgehärtet. Aus Selbstschutz. Aus Überforderung. Oder weil wir gelernt haben, dass sich Empörung nicht lohnt – solange sie keine Likes bringt oder keinen Shitstorm auslöst.
Denn wehe, jemand hätte das falsche Wort gesagt. Oder in einem Nebensatz pauschalisiert. Dann wäre der mediale Aufschrei gekommen. Dann hätte man Haltung gezeigt. Aber ein Junge, der aus dem Fenster geworfen wird? Ein Mann, der im Einkaufszentrum stirbt? Das reicht heute offenbar nicht mehr für eine Debatte.
Wir reden oft über toxische Maskulinität, über Mikroaggressionen, über Diskriminierung, über „strukturellen Rassismus“, über sprachliche Gewalt. Aber was ist mit der echten Gewalt? Der mit Blut und gebrochenen Knochen? Bei dem nicht die Sprache, sondern der Körper bricht.
Wenn schon die Jugendlichen nicht mehr wissen, wo die Grenzen sind – sollten wir Erwachsenen wenigstens den Mut haben, sie wieder einzuziehen.
Bevor die nächste Nachricht kommt. In zwei Tagen. Oder früher.
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