Die Grünen versuchen mit einem Kommissionsbericht aus dem Fall Stefan Gelbhaar zu lernen. Der zeigt: Die existierenden Beschwerdeverfahren sind mangelhaft. So sähe eine wirkliche Verbesserung des Umgangs mit #metoo-Vorwürfen aus


Im Kommissionsbericht der Grünen zum Fall Stefan Gelbhaar heißt es, dass das Ombudssystem größtenteils versagt habe

Foto: Friedrich Bungert/SZ Photo/picture alliance


Was bleibt vom Fall Stefan Gelbhaar? Der Berliner Abgeordnete der Grünen hatte Anfang dieses Jahres nach Bekanntwerden von Vorwürfen sexualisierter Gewalt und grenzverletzendem Verhalten seinen Listenplatz für die Bundestagswahl verloren. Bald stellte sich allerdings heraus, dass eine eidesstattliche Versicherung, auf die sich der RBB in seiner Berichterstattung über Gelbhaar bezogen hatte, unter falschem Namen abgegeben worden war. War der Politiker Opfer einer parteiinternen Intrige geworden? Und, worum es hier im Besonderen gehen soll: Haben die unzulänglichen parteiinternen Beschwerdeverfahren den Gelbhaar-Fall überhaupt erst ermöglicht?

Inzwischen haben die Grünen versucht, den Skandal, in dessen Sog sie kurz vor der Bundestagswahl gezogen wurden

, worum es hier im Besonderen gehen soll: Haben die unzulänglichen parteiinternen Beschwerdeverfahren den Gelbhaar-Fall überhaupt erst ermöglicht?Inzwischen haben die Grünen versucht, den Skandal, in dessen Sog sie kurz vor der Bundestagswahl gezogen wurden, aufzuarbeiten. Doch Stefan Gelbhaar ist nicht der einzige grüne Politiker, der durch den parteiinternen Umgang mit Vorwürfen von grenzverletzendem Verhalten zu Fall gebracht wurde, ohne dass hinterher geklärt werden konnte, was genau er sich zuschulden kommen lassen hat.Was wurde aus den Vorwürfen gegen Malte Gallée?Im Frühjahr 2024 wurde der Grüne Europa-Abgeordnete Malte Gallée mit Vorwürfen sexualisierter Grenzverletzungen durch den Stern öffentlich konfrontiert. Malte Gallée war im Dezember 2021 für die Grünen ins EU-Parlament nachgerückt. Zur Europawahl 2024 wurde er von den Grünen Bayern als Spitzenkandidat nominiert. Doch bevor die Aufstellung der Bundesliste zur Europawahl abgeschlossen war, zog Gallée im November 2023 seine Bewerbung überraschend zurück. Laut Stern seien zu dieser Zeit Meldungen beim Landesverband Bayern eingegangen, unbestätigte Gerüchte habe es aber schon seit 2022 gegeben.Malte Gallée teilt auf Anfrage mit, dass er selbst die Ombudsstelle der EU-Fraktion bereits 2022 angesprochen hätte, um die Vorwürfe aufzuklären – ohne Erfolg. Zwei Tage vor der Listenaufstellung sei er dann vom Landesvorstand Bayern und Bundesvorstand „massiv unter Druck gesetzt worden“, seine Kandidatur zurückzuziehen. Danach sei er trotz Nachfragen über viele Wochen nicht informiert worden, wie es um seinen Fall steht. Dokumente, die dem Freitag vorliegen, belegen das. Gallée sagt, er habe bis zum heutigen Tag weder von der Ombudsstelle der EU-Fraktion noch des Landesverbandes Bayern konkrete Vorwürfe gehört, zu denen er sich hätte verhalten können.Er wisse nicht, was genau wann passiert sein soll, wie viele mutmaßlich Betroffene sich gemeldet hätten oder ob es sich um anonyme Meldungen oder Meldungen Dritter handelt. Die Ombudsstellen der EU und des Landesverbandes hätten ihm diese Auskunft mit Hinweis auf die Wahrung der Anonymität der Meldenden verwehrt. Unabhängig von Schuld oder Unschuld ist ein solches Vorgehen für alle Beteiligten schädlich. Auch aus der Berichterstattung des Stern wird nicht klar, wie viele meldende Personen es im Fall Gallée gab: „Mehr als ein Dutzend Mitarbeiter und Assistentinnen haben sich dem Reporterteam anvertraut“, heißt es dort. Ob sie alle selbst Betroffene sind, bleibt unklar. Von notariell beglaubigten eidesstattlichen Versicherungen schreibt der Stern-Autor des Artikelsnichts und reagiert auch nicht auf Nachfrage.Der Untersuchungsbericht der Grünen zu Gelbhaar zeigt: Die Beschwerdeverfahren sind mangelhaftUm den Fall Gelbhaar aufzuarbeiten, haben die Grünen eine Kommission eingesetzt, die den parteiinternen Umgang mit den Vorwürfen gegen ihn untersuchen sollte. Der Kommissionsbericht, der seit 12. Juni vorliegt, kommt zu einem ernüchternden Fazit: Das Ombudssystem im Fall Stefan Gelbhaar habe größtenteils versagt. Der Bericht empfiehlt, die Strukturen grundlegend zu transformieren. Auf der Bundesdelegiertenkonferenz im November soll dazu ein Beschluss gefasst werden. Damit legen die Grünen selbst offen, was sich durch die Berichterstattung rund um die Vorwürfe gegen Gelbhaar schon andeutete: Das Selbstverständnis der Ombudsstellen ist zu einseitig, statt der Unschuldsvermutung gelte „im Zweifel für die Betroffenen“, Kommunikationswege seien unklar, ein Prozess mit definierten Prozessschritten existiert nicht.Die Kritik an der Betroffenenorientierung der Ombudsstellen dürfte innerhalb der Partei für neue Debatten sorgen. Als im Januar 2025 im Polit-Podcast „Lage der Nation“ der Fall Gelbhaar besprochen wurde, reagierte die Netzöffentlichkeit mit erheblichem Ärger, als dort die fehlende Unschuldsvermutung kritisiert wurde. Ombudsstellen seien keine Orte, die über Schuld und Unschuld entscheiden müssten, und kein Ersatz für strafrechtliche Verfahren, hieß es. Gerade weil nur ein Bruchteil sexualisierter Gewalt überhaupt angezeigt und Betroffenen häufig nicht geglaubt wird, sei es wichtig, die Hürden für Meldungen gering zu halten und ihnen grundsätzlich Glauben zu schenken.Die Grüne Jugend-Chefin Jette Nietzard sagte schon nach Bekanntwerden der Vorwürfe zur Kritik mit dem Umgang damit auf einer Pressekonferenz: „Die Unschuldsvermutung gilt immer vor Gericht. Aber wir sind eine Organisation, und wir sind kein Gericht“. Doch das ist rechtsstaatswidrig.Auch innerhalb von Parteien muss die Unschuldsvermutung geltenBundesparteien unterliegen dem Parteiengesetz und sind laut Art. 21, Abs. 1 des Grundgesetzes dazu verpflichtet, dass die innere Ordnung von Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Zwar findet sich über das konkrete Ausmaß dieser innerparteilichen Demokratie keine einheitliche Festlegung. Dennoch lässt sich aus der Verfassung schließen, dass sich Parteien beim Verfolgen von Fehlverhalten an rechtsstaatlichen Regelungen orientieren müssen. Damit wären Ombudsstellen in Parteien der Unschuldsvermutung verpflichtet.Zu diesem Schluss kommen auch die Autor:innen der Zusammenfassung des grünen Kommissionsberichtes, Anne Lütkes und Jerzy Montag: „Die Unschuldsvermutung ist ein tragendes Element einer jeden, auch parteiinternen rechtsstaatlichen Ordnung. Über ihre Geltung im Strafverfahrensrecht hinaus ist sie eine Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Sie gilt auch für die Presse und darüber hinaus allgemein als ethische Verpflichtung, niemanden vorab zu verurteilen.“ Der Fall Gelbhaar dürfte damit keine Ausnahme darstellen.Auch wenn die Datenlage dazu nicht eindeutig ist, dürfte zutreffen, dass Vorwürfe sexualisierter Gewalt in den seltensten Fällen erfunden sind. Ob Stefan Gelbhaar und Malte Gallée grundsätzlich zu Recht oder Unrecht beschuldigt werden, ist daher fraglich. Die Süddeutsche Zeitung hat kürzlich einen Rechtsstreit gegen Gelbhaar gewonnen und darf einen angefochtenen Artikel wieder online stellen. Darin wird dargelegt, dass es weiterhin sieben Betroffene gibt, die an Eides statt versichern, was sie mit Gelbhaar erlebt haben.Im Fall Gallée wurde das Ombudsverfahren eingestelltUnd der Fall Malte Gallée? Auf Anfrage beim Landesverband Bayern meldet dieser zurück, dass das Ombudsverfahren gegen Gallée diesen Monat eingestellt wurde. Zudem verweist er auf die Empfehlungen des Kommissionsberichts. Der Landesverband schreibt: „Sowohl die Länge des Verfahrens als auch die Komplexität des Falls durch die verschiedenen Ebenen von Kreisverband bis Europa und der Ablauf der Ereignisse haben auf Seiten von Malte Gallée und des Interventionsteams zu einer erheblichen Belastung geführt.“ Dies dürfte auch auf die mutmaßlich Betroffenen zutreffen.Auf Nachfrage nach den Verfahrensschritten der Ombudsstelle heißt es: „Jeder Fall ist anders. Dementsprechend unterscheiden sich die Schritte eines Ombudsverfahrens von Fall zu Fall. Das grundlegende Vorgehen können Sie dem Fürsorgekonzept der Ombudsstelle entnehmen.“ Doch dem Fürsorgekonzept, das kritisieren auch Lütkes und Montag, kann eben nichts Konkretes entnommen werden.Die größten SchwachstellenWas sind die größten Schwachstellen der existierenden Mechanismen? Und wie können Beschwerdeverfahren aussehen, die es erlauben, Vorwürfe von sexualisierter Gewalt und sexualisierte Grenzverletzungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze angemessen aufzuklären, ohne dass die Unschuldsvermutung gegenüber mutmaßlichen Tätern aufgegeben wird?Für ein Ombudsverfahren ist es relevant, ob Meldungen anonym oder von Beobachtenden kommen. Zwar sollte Beobachtungen Dritter und anonymen Hinweisen nachgegangen werden, aber die Entscheidung über die Einleitung eines offiziellen Ombudsverfahrens kann nicht allein auf dieser Grundlage gefällt werden, erklärt der Sexualpädagoge und Experte für sexualisierte Gewalt Carsten Müller. Es sollten die Betroffenen selbst sein, die ein unangemessenes Verhalten ihnen gegenüber melden – nicht um es Beschuldigten leicht zu machen, sondern weil die Folgen des Meldens durch Dritte selbst das Potenzial haben, von Betroffenen als übergriffig erlebt zu werden.Die Anonymität der Meldenden gegenüber dem Beschuldigten und des Beschuldigten gegenüber der Öffentlichkeit muss dennoch gemäß Persönlichkeitsrecht gewahrt werden. Anne Lütkes und Jerzy Montag kommen in ihrem zusammengefassten Bericht zu dem Schluss, dass „vorab in Verfahrensordnungen [zu entscheiden ist], ob anonyme Meldungen überhaupt bearbeitet werden und wie im Verfahren dann ggf. damit umzugehen ist“.Was wirklich helfen würdeDie Grünen stehen nun vor der Aufgabe, ihr Ombudssystem auf Landes- und Bundesebene maßgeblich anzupassen. Nur damit, dass auf der Bundesdelegiertenkonferenz ein Beschluss gefasst und damit eine Richtlinie zur Orientierung ausgegeben wird, ist die Aufgabe nicht gelöst. Das neue Ombudssystem muss in der Satzung der Partei verankert werden, um eine konsequente Umsetzung zu gewährleisten. Noch besser wäre es, alle Parteien grundsätzlich zu einem rechtsstaatlichen Verfahren zu verpflichten und das auch ins Parteiengesetz zu schreiben. Darin müsste auch die Einrichtung einer Kontrollinstanz der innerparteilichen Verfahren geregelt werden.Auch wenn die Grünen mit zwei prominenten Fällen in der Öffentlichkeit stehen, sind sie bei der Thematik sicher nicht allein. Wie sieht es bei den anderen Parteien aus? Auf Anfrage erklärt ein SPD-Sprecher, dass bei Grundsatzverstößen – zu denen auch Machtmissbrauch, psychische, physische und sexualisierte Gewalt zählen – ein Parteiordnungsverfahren gegen Mitglieder eingeleitet werden kann. Die CDU verweist auf ihren Beschluss vom 35. Bundesparteitag 2022: „Künftig soll auf Ebene des Bundesverbandes eine Ombudsstelle beauftragt werden, die von Diskriminierung betroffenen Mitgliedern als Ansprechpartner, Vertrauensperson und Scharnierstelle zur Parteiführung dient.“Konkrete Verfahrensschritte nennt keine der Parteien, obwohl es auch bei ihnen bereits Beschuldigungen wegen sexualisiertem Machtmissbrauch gab. Als etwa die Vorwürfe gegenüber Malte Gallée im März 2024 bekannt werden, schreibt laut Correctiv ein gutes Dutzend Abgeordneter der CDU/CSU-EU-Fraktion einen Brief. Darin wird die Spitze der Grünen-Fraktion darauf hingewiesen, dass die Vorwürfe um Gallée transparent aufgearbeitet werden müssten, „damit nicht der Eindruck entsteht, dass solches Verhalten vertuscht oder gar toleriert wird“. Eine der Unterzeichnenden ist die CDU-Abgeordnete Karolin Braunsberger-Reinhold.Der Fall Braunsberger-Reinhold in der CDUPikant daran: Ein Jahr zuvor war Braunsberger-Reinhold selbst der sexuellen Belästigung beschuldigt worden. Braunsberger-Reinhold soll 2023 zwei Mitarbeitende auf einer Weinwanderung belästigt haben. Dort soll sie – erheblich alkoholisiert – angeblich ihren Mitarbeitenden erzählt haben, dass sie „flachgelegt werden“ wolle, und berührte mutmaßlich eine Mitarbeiterin intim. Die Bild-Zeitung deckte im März 2023 auf, dass sich der EU-Ausschuss gleich neunmal mit den Vorwürfen beschäftigt hat. Am Ende habe der „Ausschuss […] die ›Schwere der Vorfälle‹ gegen die ›Schwere der Konsequenzen‹ für das Leben der Politikerin abgewogen, wenn die ›sexuellen Belästigungen öffentlich‹ würden“ und keine Sanktionen gegen die EU-Abgeordnete ausgesprochen. Da könnte doch fast der Eindruck entstehen, dass hier Fehlverhalten toleriert wurde.Auch dieser Fall zeigt, dass allgemeingültige Verfahrensschritte gerade für Parteien dringend notwendig sind, insbesondere weil nicht jeder Fall dem anderen gleicht. Je komplexer ein Fall ist, desto neutraler müssen die formalen Strukturen sein, mit denen er bearbeitet wird. Darunter fällt, Betroffenen und Beschuldigten Orientierung zum Vorgehen zu geben. Es braucht fachlich versierte Beteiligte, keine Ehrenamtlichen, die eine Einschätzung der Schwere der mutmaßlichen Taten – im Zweifel mit externem Sachverstand – leisten können.Was es wirklich bräuchteEs muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass ein Verfahren nicht unter dem Druck anstehender Kandidatenaufstellungen oder Wahlen unangemessen beschleunigt wird und Beschuldigte unüberlegt sanktioniert werden. Es bräuchte:das Angebot einer rechtlichen Beratung und eines Schlichtungsgesprächs bei leichten Verstößen,Transparenz über die möglichen Konsequenzen einer Meldung,das Angebot einer psychosozialen Betreuung für Meldende, Beschuldigte und bei Bedarf für ihr jeweiliges familiäres Umfeld,Aufklärung darüber, dass strafrechtlich relevante, schwerwiegende Taten auch ohne Einverständnis der betroffenen Person verfolgt werden müssen,das Recht der Beschuldigten, angehört zu werden und als unschuldig zu gelten, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist.Schließlich sollte sichergestellt werden, dass bei leichten Verstößen die Möglichkeit zur Besserung existiert, im Ernstfall arbeitsrechtliche Konsequenzen, und bei zu Unrecht Beschuldigten eine reale Chance zur Rehabilitation.Die Herausforderung, die bleibt, ist die Antwort auf die Frage, wie Parteien die positive Entwicklung, vermehrt über sexualisierte Gewalt zu sprechen, in ihrem eigenen Präventionsinteresse stützen können, die Rechte aller Beteiligten wahren und die wenigen Fälle von Falschbeschuldigungen so schnell aufdecken können, dass sie nicht zu massiven Schäden bei Individuen, Parteien und letztlich an der Demokratie führen.

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Von Veritatis

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