Unser Kolumnist Prof. Erhard Schütz liest Bücher über Genies und Schriftsteller, die berühmter sein müssten, darunter der eigentliche Vater der Atombombe Leó Szilárd und Fritz Reuter, von dessen Witz sich Thomas Mann inspirieren ließ


J. Robert Oppenheimer wird oft als Erfinder der Atombombe bezeichnet. Doch Erfinder war wohl eher eine anderer Physiker

Illustration: der Freitag


Leó Szilárd, so der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, sei „derjenige von den heutigen Physikern, der am frühesten die weitreichenden Konsequenzen neuer Entdeckungen gesehen und durchdacht hat und der als erster praktische Schritte unternommen hat, um ihnen zu begegnen.“ 1963 war das im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Die Stimme der Delphine, SciFi-Erzählungen des Physikers und Schriftstellers Szilárd, die sich um die Verhinderung einer atomaren Kriegskatastrophe drehen.

Szilárd war eher als J. Robert Oppenheimer „Vater der Atombombe“, denn der Budapester jüdischer Abstammung, der in den Zwanzigern in Berlin studierte, mit Einstein befreundet war, hat 1933 im Londoner Exil das Grundprinzip der Kettenreaktion erkannt und sich 1934 patentieren lassen. Der quirlige Geniale, der weitere 44 Patente hielt, von einer Kühlschrankpumpe bis zur Fruchtbarkeitsuhr, setzte sich seit 1937 in den USA für die Entwicklung der Atombombe ein, um seinen deutschen Kollegen zuvorzukommen. Er gehörte zur Kernmannschaft des Manhattan-Projekts. Als er erfuhr, dass die Deutschen das Projekt aufgegeben hatten, wandte er sich ebenso vehement gegen einen Einsatz der Bombe, wurde darob vom FBI und CIA beobachtet und zum unermüdlichen Friedens-Aktivisten, sogar in Moskau vorstellig mit der Idee, die deutschen Hauptstädte nach Dresden und München zu verlegen und Berlin als neutralen Stadtstaat zu vereinigen. Arne Molfenter hat Leben und Werk dieses 1964 verstorbenen Universalgenies plastisch rekonstruiert.

Ehe durch die Bombe alles Radioaktive mitverstrahlt wurde, wurde mit Radium durchaus fortschrittsfreudig fürs Alltagsleben experimentiert. Der Waliser Joe Dunthorne, mit dem Bestseller Submarine (2008) bekannt geworden, hatte eine aus Deutschland stammende jüdische Großmutter. Gegenüber seiner Absicht, von ihrem Leben im Exil zu erzählen, zeigte die Eigenwillige sich spröde. Immerhin bekam er ein Konvolut Aufzeichnungen seines Urgroßvaters. Das brachte seine Vorstellungen von Verfolgung und Exil nachhaltig durcheinander. Denn der hatte sich bereits 1928 einen Namen mit einer radioaktiven Zahnpaste namens Doramad gemacht, die er großzügig in der eigenen Familie einsetzte. Noch anfangs der NS-Zeit war er in die Chemiewaffenproduktion in einer Oranienburger Fabrik involviert, ehe er in die Türkei emigrierte, wo die Großmutter durchaus komfortabel aufwuchs. Selbst der Bechsteinflügel fand den Weg dorthin. All das macht das hervorragend geschriebene Buch zur spannenden Lektüre, doch die virtuose Weise, wie er seine Recherchereisen, Lektüren und Gespräche, die ihn durch Europa führten, verlebendigt, seine Erwartungen und Enttäuschungen, Überraschungen und Nachdenklichkeiten amüsant reflektiert, macht es darüber hinaus zu einem Lehrstück der Chancen und Tücken von Erinnerungskultur.

In der anderen Richtung führt der Zeitstrahl gen Himmel, ins Weltall. Auch wenn der Gedanke eher gruselt, dass Elon Musk seine Selektionsträume zum Mars expedieren könnte, bleibt die Raumfahrt ein Faszinosum. Ein ebenso sachkundiger wie ansprechend illustrierter Comic startet mit dem Uranfang, rafft den Weg ins 20. Jahrhundert und entfaltet dann den kaltkriegerischen Weltlauf in den Orbit, vergisst dabei die belastete Herkunft der Raketen aus Peenemünde nicht, und endet einstweilen mit Musk, der europäischen Ariane und dem Ehrgeiz der Chinesen.

Anlässlich des Jubeldatums zu Thomas Mann ist naturgemäß allerlei erschienen, darunter die feine Graphic Novel Thomas Mann – 1949. Rückkehr in eine fremde Heimat (Knesebeck) und eine Sammlung seiner – leider zunehmend wieder aktuellen – Radioansprachen in Richtung NS-Deutschland, mit dem Titel Deutsche Hörer! (S. Fischer). Ein Titel sei hier hervorgehoben, weil er mit großem Spürsinn das produktiv macht, was man gelegentlich als „Einflussforschung“ eher hintangestellt glaubt. Hier geht es um die Spuren Fritz Reuters (1810-1874) – der dem Publikum ohnehin immer mal wieder nachdrücklich ans Herz gelegt werden muss – im Werk Thomas Manns. Anhand von Buddenbrooks oder Zauberberg zeigt Joachim Rickes nicht nur, wie sich Thomas Mann vom mecklenburgischen Humoristen, Ironiker und Satiriker auf vielen Ebenen anregen ließ, sondern konturiert dabei auch dessen Verhältnis zur literarischen Tradition wie das von Humor und Ironie.

Für Montaigne zu werben scheint jegliche Situation recht. Wer ihm gegenüber so skeptisch ist wie er selbst es war, der annahm, dass „jeder Mensch“ die „Gesamtform des Menschseins“ in sich trage, kann mithilfe dieses Buch eine angeleitete, kleine, aber dichte Probe nehmen.

Leó Szilárd. Der Mann hinter der Bombe Arne Molfenter Hirzel 2025, 221 S., 24 €

Kinder des Radiums. Auf den Spuren meiner jüdischen Familie Joe Dunthorne Hans-Christian Oeser (Übers.) Berlin Verlag 2025, 252 S., 24 €

Aufbruch ins Weltall. Eine kurze Geschichte der Raumfahrt Arnaud Delalande u. Éric Lambert Anja Kootz (Übers.) Knesebeck 2025, 190 S., 28 €

Thomas Mann und Fritz Reuter Joachim Rickes Königshausen & Neumann 2025, 207 S., 18 €

Michel de Montaigne. Philosoph der Lebenskunst Kurt Fricke und Christoph Werner Mitteldeutscher Verlag 2025, 48 S., 8 €



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Von Veritatis

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