Wenn Deutschland weiter Waffen an Israel liefert, sieht Christoph Heusgen die Gefahr, dass die Bundesrepublik vom Internationalen Gerichtshof als Komplize im mutmaßlichen Völkermord in Gaza verurteilt wird. Was er Friedrich Merz raten würde
Warum bombardierte Israel auch das Evin-Gefängnis, in dem iranische Oppositionelle sitzen?
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Trifft man Christoph Heusgen im Auswärtigen Amt, wo er anschließend einen Termin hat, wird das Gespräch mehrmals unterbrochen: Heusgen grüßt viele, die im Atrium herumwuseln. Von 2005 bis 2017 war er Angela Merkels außenpolitischer Berater, danach Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Was auffällt: Beim Thema Naher Osten hat der mittlerweile pensionierte 70-Jährige eine differenzierte Haltung als andere mit seiner Vita. Beispielsweise kritisiert er das israelische Vorgehen im Gazastreifen stark.
Während der Waffenstillstand zwischen dem Iran und Israel hält, ist laut israelischem Verteidigungsminister Israel Katz ein Ende der Kampfhandlungen auch für Gaza in Sicht. „Wir stehen nun vor dem Abschluss des Einsatzes“, s
rael Katz ein Ende der Kampfhandlungen auch für Gaza in Sicht. „Wir stehen nun vor dem Abschluss des Einsatzes“, so wird Katz von seinem Büro zitiert. Heusgen hingegen glaubt nicht, dass in dem Küstenstreifen bald Frieden einkehrt. Ein Gespräch über die Zukunft in Nahost – und wer sie aufs Spiel setzt.der Freitag: Herr Heusgen, wird die Waffenruhe zwischen Israel und Iran noch bestehen, wenn dieses Interview erscheint?Christoph Heusgen: Das kann ich natürlich auch nicht mit Sicherheit sagen. Ich glaube aber, dass wir auf dem Weg zu Verhandlungen sind. Wie erfolgreich diese sein werden, bleibt abzuwarten. Hoffentlich schweigen die Waffen weiter. Eine Sache dürfen wir aber nie vergessen: Der Iran ist ein stolzes Land. Er hat viel Selbstbewusstsein und nimmt für sich in Anspruch, nicht schlechter behandelt zu werden als andere Staaten. Das heißt: Er besteht darauf – wie das auch der Atomwaffensperrvertrag vorsieht –, Uran für zivile Zwecke anreichern zu können. Das wurde dem Land 2015 im Atomabkommen auch zugestanden. Leider wurde dieser Vertrag 2018 von Donald Trump einseitig aufgekündigt.Technisch ist das Anbringen eines nuklearen Sprengkopfes auf Raketen ein sehr schwieriges Unterfangen. Teheran war nicht in der Nähe, das umsetzen zu könnenDer israelische Premier Benjamin Netanjahu warnt seit 30 Jahren, der Iran sei kurz davor, eine Atombombe bauen zu können.Sowohl die Internationale Atomenergiebehörde IAEA als auch die US-Geheimdienstchefin Tulsi Gabbard sagen: Der Iran war nicht kurz vor der Bombe. Ja, sie haben Uran auf 60 Prozent angereichert und das ist mehr, als für zivile Zwecke notwendig ist. Und ja, sie haben ihre ballistischen Raketen weiterentwickelt. Aber technisch ist das Anbringen eines nuklearen Sprengkopfes auf Raketen ein sehr schwieriges Unterfangen. Teheran war nicht in der Nähe, das umsetzen zu können.Einer Umfrage zufolge unterstützen 82 Prozent der jüdischen Israelis den Angriff auf den Iran. Hat Netanjahu richtig gehandelt?Er hat richtig gehandelt, um sich innenpolitisch zu halten. Ich will das nicht vergleichen, aber wir haben etwas Ähnliches 2011 in Russland erlebt: Nach den gefälschten Parlamentswahlen und als Dmitri Medwedew die Präsidentschaft an Wladimir Putin verlor, gab es die größten Demonstrationen in der Geschichte Russlands. Was hat Putin daraufhin gemacht? Er ist auf Nationalismus und Imperialismus umgeschwenkt und hat die Krim annektiert. Danach hatte er höchste Zustimmungswerte. Netanjahu kämpft ebenfalls mit außenpolitischen Instrumenten, um innenpolitisch zu überleben. Natürlich ist das Mullah-Regime ein terroristisches Regime. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in den zwölf Jahren, in denen ich ihr Berater war, immer strikt abgelehnt, den iranischen Präsidenten zu empfangen. Als Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz habe ich später den iranischen Außenminister ebenfalls nicht eingeladen. Diesem schrecklichen Regime wollte ich nicht den roten Teppich ausbreiten.Trotzdem sind Sie gegen einen Regime Change, liest man.Nein, da haben Sie mich falsch verstanden. Ich bin einfach derselben Meinung wie viele iranische Oppositionelle. Nehmen Sie die Nobelpreisträgerin Narges Mohammadi oder den Schriftsteller Navid Kermani – beide sagen: Ein Regimewechsel kann nicht von außen aufgestülpt werden, sondern muss von innen kommen. Wenn Sie die iranische Geschichte kennen, wissen Sie: Die USA und Großbritannien haben schon einmal einen Regimewechsel in Teheran herbeigeführt. 1953 hat die CIA zusammen mit den Engländern den Premierminister Mohammad Mossadegh weggeputscht, weil die Iraner unter seiner Führung den Anspruch erhoben hatten, etwas von ihren eigenen Öl- und Gasressourcen abzubekommen. Von daher hat der Westen die derzeitige Mullah-Regierung mitverschuldet und sollte sich mit weiteren Putschfantasien zurückhalten.Was wollte Friedrich Merz mit seiner Aussage ausdrücken? Ist es Drecksarbeit, wenn Hunderte Zivilisten ihr Leben verlieren?Rein sicherheitspolitisch: Wie erfolgreich war Israels Angriff?Kurzfristig durchaus erfolgreich: Das Atomprogramm wurde um Monate – ich glaube, sogar Jahre – zurückgeworfen. Die Labore und Zentrifugen müssen erst wieder aufgebaut werden, das dauert alles. Aber Fakt ist auch, dass das Regime die Attacken überstanden hat. Jetzt gibt es zwei große Fragen. Erstens: Wird der Iran die IAEA wieder ins Land lassen? Zweitens: Ist er zu Verhandlungen bereit? Innerhalb des Landes haben sich die Reihen geschlossen und Oppositionelle werden noch härter verfolgt als vorher. Von daher glaube ich nicht, dass wir einem Regime Change näher gekommen sind.Israel hat unter anderem das Evin-Gefängnis bombardiert, in dem Oppositionelle sitzen. Bei dem Angriff sind mindestens 71 Menschen gestorben. Warum hat Netanjahu das gemacht?Iranische Oppositionelle sagen: Weil Netanjahu keine zivile demokratische Regierung in dem Land will. Weil er Angst hat, dass ein demokratischer Iran, ein Land mit jahrtausendealter Kultur und sehr hoher Bildung, Israels Platz als Führungsnation in diesem Raum infrage stellen könnte. Das sind Spekulationen. Aber auch mir erschließt sich nicht, warum Netanjahu das Evin-Gefängnis bombardiert hat. Für mich steht fest: Aus langfristiger sicherheitspolitischer Perspektive wäre eine demokratische Regierung im Iran am besten für Israel.Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) war in Israel und hat sich in der Iran-Frage hinter Netanjahu gestellt: Die Welt sei sicherer ohne iranisches Atomprogramm, sagte er. Was haben Sie da als CDU-Mitglied gedacht?An Konrad Adenauer! Der hat auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise gesagt: Das Wichtigste ist, Frieden zu wahren und das Recht zu beachten. Deutschland sollte das internationale Recht hochhalten. Das ist die Lehre, die wir aus drei Kriegen zwischen 1870 und 1945 gezogen haben. Artikel 25 des Grundgesetzes sagt: Die Grundprinzipien des Völkerrechts sind Bundesrecht. Und die völkerrechtliche Lage ist eindeutig: Der Angriff Israels auf den Iran war durch Artikel 51 der UN-Charta nicht gedeckt.Ihr Parteifreund Friedrich Merz hat gesagt, Israel mache im Iran unsere „Drecksarbeit“. Wie haben Sie diese Aussage des Bundeskanzlers wahrgenommen?Ich habe sie wahrgenommen, wie sie in weiten Kreisen der Welt wahrgenommen wurde: mit Unverständnis. Was wollte er damit ausdrücken? Ist es Drecksarbeit, wenn Hunderte Zivilisten ihr Leben verlieren? Ist die Bombardierung des Evin-Gefängnisses Drecksarbeit? Nein, das sind Verstöße gegen das Völkerrecht. Als solche sollten wir sie benennen.Nachdem Israel 1981 den irakischen Kernreaktor Osirak angegriffen hatte, reagierte Saddam Hussein mit einer Ausweitung seines Atomprogramms. Wenn die Mullahs strategisch denken, ziehen sie aus der gerade erlebten Verwundbarkeit dieselbe Lehre und erweitern ihre nuklearen Fähigkeiten – oder nicht?Doch, auf jeden Fall. Überhaupt besteht die Gefahr, dass nach diesem völkerrechtswidrigen Angriff jetzt weitere Staaten überlegen: Wie schützen wir uns in einer Welt, in der nicht mehr die Stärke des Rechts gilt, sondern das Recht des Stärkeren? Von Saudi-Arabien bis zur Türkei gibt es viele Länder, die technisch in der Lage sind, eine Atombombe zu bauen und die Mittel haben. Dass jetzt selbst ein Jens Spahn sagt, Deutschland sollte in Europa eine Führungsrolle beim Einsatz von Nuklearwaffen übernehmen, ist alarmierend. Das hieße in der Konsequenz ja: Deutschland soll aus dem Atomwaffensperrvertrag austreten.Ich befürchte, dass John Kerry richtiglag, als er Israel 2014 davor warnte, zum Apartheidstaat zu werdenWird es nach der Waffenruhe im Iran nun eine für Gaza geben?Ich glaube nicht. Dafür gibt es zu viel Hass auf beiden Seiten. Was die Hamas am 7. Oktober 2023 gemacht hat, war barbarisch und ist durch nichts zu rechtfertigen. Die Hamas ist eine Terrororganisation – full stop. Aber was wir in Gaza erleben, ist eine Katastrophe: Über 50.000 Menschen haben ihr Leben verloren, davon 20.000 Kinder. Neueste Zahlen gehen sogar von 75.200 Kriegstoten aus. Allein bei Essensausgaben sind seit dem 27. Mai laut UNO mindestens 410 Palästinenser gestorben. Ich bin sprachlos, was da passiert und wie allein die Weltgemeinschaft diese Menschen lässt. Übrigens sehen wir nicht nur in Gaza, sondern auch auf der Westbank, wie aggressiv die israelischen Siedler teilweise sogar mit Unterstützung der Sicherheitskräfte vorgehen. Auch dort unternimmt die internationale Gemeinschaft nichts. Darf ich in diesem Zusammenhang den Papst zitieren?Klar.Ich muss das Zitat ablesen, nehmen Sie es mir nicht übel (holt sein Handy aus der Tasche). Leo XIV. sagt: „Krieg löst keine Probleme. Im Gegenteil – er verschärft sie und reißt tiefe Wunden in die Geschichte von Völkern, die Generationen brauchen, um zu heilen. Kein bewaffneter Sieg kann den Schmerz der Mütter, die Angst der Kinder oder die geraubten Zukunftsträume aufwiegen. Möge die Diplomatie die Waffen zum Schweigen bringen. Mögen die Nationen ihre Zukunft mit Werken des Friedens gestalten – nicht mit Gewalt und blutigen Konflikten.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.Seit dem 7. Oktober 2023 hat die Bundesrepublik Waffen und militärische Ausrüstung im Wert von 485,1 Millionen Euro an Israel genehmigt. Sollten wir die Politik fortführen?In meiner Zeit als Berater der Kanzlerin wurde die Lieferung von U-Booten an Israel vorangebracht. Das war richtig. Heute ist die Situation eine andere: Der Internationale Gerichtshof geht davon aus, dass die Gefahr eines Genozids im Gazastreifen besteht, und hat Auflagen gemacht, die von Israel zum größten Teil nicht erfüllt wurden. Es ist nicht auszuschließen, dass Deutschland als Komplize ebenfalls vom IGH verurteilt werden könnte. Das muss alles in unsere Analyse miteinfließen. Deswegen: Wir dürfen auf keinen Fall Waffen liefern, die im Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung benutzt werden können!Welche Zukunft gibt es für Gaza?Israel unternimmt gerade alles, um eine Verwüstung eines solchen Ausmaßes herzustellen, dass eine Rückkehr zum Status quo ante unwahrscheinlich ist. Zieht man dazu das israelische Vorgehen in Ost-Jerusalem und der Westbank in Betracht, befürchte ich, dass der ehemalige amerikanische Außenminister John Kerry richtiglag, als er bereits 2014 Israel davor warnte, zu einem Apartheidstaat zu werden, wie Südafrika es war.