Gaza hungert, Israel schießt auf Zivilist:innen. Und in Deutschland? Ein kurzes Innehalten, gefolgt von weiterer Waffenhilfe. Der Konsens wackelte im Mai – für einen Augenblick
Außenminister Wadephul mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu
Fotos: Michael Kappeller/Picture Alliance/dpa
Im Frühjahr 2025 schien für einen Moment möglich, was lange undenkbar war: ein Bröckeln des deutschen Konsenses in Sachen Israel.
Man rieb sich die Augen: Hatten Außenminister Johann Wadephul (CDU), Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein sich versehentlich in einen Vortrag der israelischen NGO Breaking the Silence in Berlin verirrt? Mehr noch: Hatten sie womöglich sogar zugehört?
Oder hatte jemand den Herren etwas Besonnenes in den abendlichen Drink gemischt? Freundeskreise, Signal-Gruppen und Social Media spekulierten: Ist er das – der politische Dammbruch?
So sprach Wadephul Ende Mai in der Süddeutschen Zeitung davon, dass es „fraglich“ sei, ob Israels Vorgehen in Gaza noc
ppen und Social Media spekulierten: Ist er das – der politische Dammbruch?So sprach Wadephul Ende Mai in der Süddeutschen Zeitung davon, dass es „fraglich“ sei, ob Israels Vorgehen in Gaza noch „mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang zu bringen ist“. Er kündigte an, Waffenexporte künftig unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen – und notfalls auszusetzen. Unerwartete Töne – gerade von einem profilierten Transatlantiker aus der CDU.Fast zeitgleich erklärte Friedrich Merz auf der Konferenz re:publica, Israels strategische Ziele in Gaza seien für ihn „nicht mehr klar erkennbar“. Worte, auf die man anderthalb Jahre lang vergeblich von Vertreter:innen der Ampel-Regierung gewartet hatte.Worte, die natürlich viel zu spät kamen – und doch für einen Moment hoffen ließen: Dass Israels Völkermord in Gaza – wie sonst sollte man das Geschehen bezeichnen – und die zahllosen Kriegsverbrechen, die ihn begleiten, in Deutschland nicht mehr bloß mit achselzuckender Gleichgültigkeit abgenickt werden. Dass die „regelbasierte Ordnung“, die sich Deutschland so gern auf die Fahnen schreibt, womöglich doch mehr sein könnte als selektive Bündnispolitik.Nur wenige Tage ZweifelNoch deutlicher war wenige Tage zuvor Felix Klein geworden. Angesichts der israelischen Politik in Gaza sei es nun an der Zeit, den Begriff der „Staatsräson“ zu überdenken. Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich zu verschärfen, habe nichts mit der Sicherung Israels zu tun, so Klein. „Und es kann auch nicht deutsche Staatsräson sein.“Kleins Worte überraschten besonders. Immerhin hatte sich der unabhängige Beauftragte und Völkerrechtler in den vergangenen Jahren immer wieder als Hardliner in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt profiliert.In Interviews betonte er etwa, der Apartheid-Vorwurf gegenüber Israel sei dämonisierend und damit antisemitisch. Obwohl sich palästinensische, israelische sowie internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch seit Jahren einig sind, dass Israel in den besetzten Gebieten ein Apartheid-Regime aufrechterhalte.Noch im Frühjahr hatte Klein der Neuen Osnabrücker Zeitung erklärt, er stehe Trumps „Riviera“-Plänen – die in Gaza lebenden Palästinenser „umzusiedeln“ und das Gebiet unter US-Kontrolle zu stellen – grundsätzlich positiv gegenüber. Trump habe schließlich nicht wörtlich von „Vertreibung“ gesprochen, sondern nur von „Umsiedlung“. „Ich halte es nicht für verkehrt, radikal und einmal völlig neu zu denken“, sagte Klein damals.Dass eine solche Zwangsvertreibung aber ein Kriegsverbrechen darstellt und meist die Voraussetzungen für Völkermord schafft, erwähnte er nicht.Der vermeintliche Kipppunkt hielt letztlich nur wenige Tage an. Beim Besuch des israelischen Außenministers Gideon Sa’ar in Berlin Anfang Juni 2025 bekräftigte Wadephul Deutschlands Unterstützung in aller Deutlichkeit: Israel habe „selbstverständlich das Recht, sich gegen Hamas und andere Feinde zu verteidigen“. Daraus folge, dass Deutschland das Land auch weiter mit Waffen beliefern werde – Letzteres habe „nie in Zweifel“ gestanden.Hatte jemand den Herren etwas Besonnenes in den abendlichen Drink gemischt?Nie ein Zweifel? Das klang dann doch anders als in der Süddeutschen Zeitung. Zwar merkte Wadephul während Sa’ars Besuch auch kritisch an, dass der jüngste Beschluss Israels, 22 illegale Siedlungen im Westjordanland zu legalisieren, völkerrechtswidrig sei. Doch wer das als echtes Zugeständnis an internationales Recht versteht, missversteht die Gültigkeit des Begriffs.Zusammen mit Sa’ar sprach sich Wadephul zudem ausdrücklich gegen die Anerkennung eines palästinensischen Staates aus – dies sende „das falsche Zeichen“. Auch das Assoziierungsabkommen zwischen EU und Israel, dessen Prüfung und mögliche Aussetzung vor dem EU-Gipfel Ende Juni in Brüssel auf der Agenda stand, sollte unangetastet bleiben.Wer also gehofft hatte, Wadephuls zaghafte Kritik am israelischen Vorgehen könnte ein echtes Umdenken einleiten, sah sich getäuscht: Neben Sa’ar revidierte er de facto alles, was er zuvor angedeutet hatte.Schon vor dem Interview – während seiner Israel-Reise Anfang Mai – zeigte Wadephul zudem Verständnis für die monatelange Blockade von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern für Gaza. Zur Begründung verwies er damals auf die Behauptung, die Hamas zweckentfremde diese Lieferungen – eine Behauptung, die Israel zwar bis heute bemüht, die bisher aber keiner ernsthaften Überprüfung standgehalten hat.Etwa Jonathan Whittall, der ranghöchste UN-Hilfs-Koordinator für Gaza und das Westjordanland, stellte vor wenigen Wochen klar: Es gibt keine Belege dafür, dass die Hamas Hilfsgüter abzweigt. Auch David Satterfield, Bidens ehemaliger humanitärer Sondergesandter, sagte im Frühjahr, Israel habe niemals Beweise dafür geliefert, dass die Hamas UN-Hilfsgüter stiehlt.Placeholder image-1Unter Berufung auf jenes Argument hat Israel die UN-Infrastruktur in Gaza inzwischen nahezu vollständig durch die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) ersetzt – eine zwielichtige Organisation, die vor wenigen Monaten im Rahmen einer US-israelischen Initiative in der Schweiz gegründet wurde. Betrieben wird die Organsiation von bewaffneten Söldnern privater Sicherheitsfirmen, deren Expertise darin besteht, sogenannte „gated communities“ beziehungsweise Lager zu verwalten. Israelische Soldaten patrouillieren um die Verteilstellen.Anstatt knapp 400 Ausgabestellen der UN gibt es in Gaza jetzt vier. Hunderte unterernährte Menschen wurden in den letzten Wochen an diesen Verteilstellen gezielt von der israelischen Armee erschossen.Ein Exposé der israelischen Zeitung Haaretz bestätigte, was palästinensische Journalist:innen seit Wochen dokumentieren: Die Armee schießt wahllos auf unbewaffnete Menschen. Zahlreiche Analyst:innen sehen in der neuen Struktur den Versuch, die Bevölkerung in den Süden zu drängen und den Bereich oberhalb des Netzarim-Korridors, der den Gazastreifen teilt, ethnisch zu „säubern“.Iran-Angriff zur ImagepflegeUnd auch Merz fiel kürzlich wieder mit völkerrechtlich fragwürdigen Aussagen auf. Im ZDF-Interview bezeichnete er Israels illegalen Angriff auf den Iran als „Drecksarbeit“, die Israel „für uns alle“ erledige. Er zollte der israelischen Armee und Führung „größten Respekt“ für deren „Mut“. Dass die israelischen Luftangriffe Hunderte iranische Zivilist:innen getötet hatten und bei iranischen Gegenschlägen Dutzende Israelis getötet wurden, ließ Merz unerwähnt.Erstaunlicherweise half der Angriff auf den Iran, Israels angeschlagenes Image im deutschen Polit- und Medienbetrieb wieder aufzupolieren – und zugleich vom Völkermord in Gaza abzulenken. In Deutschland feierten Journalisten im Tagesspiegel und in der taz den Angriff. In Letzterer las man: „Die USA tun mit dem Angriff auf iranische Atomanlagen nicht nur Israel einen Gefallen, sondern der gesamten westlichen Welt.“ Eine Haltung, die Merz’ Linie fast direkt spiegelte und Israels Angriffe als nützliche Dienstleistung für den Westen verklärte.Dies sendet ein unmissverständliches Signal: Multilateralismus ist tot, Gewalt regiert. Wer nicht über die nötige Schlagkraft verfügt, hat nur zwei Optionen – sich unterwerfen oder riskieren, zerstört zu werden.Seitdem der Krieg zwischen Israel und Iran pausiert, scheint Israels Ruf in Deutschland wie von Zauberhand saniert Seitdem der Krieg zwischen Israel und Iran pausiert, scheint Israels Ruf in Deutschland wie von Zauberhand saniert. Ende Juni reiste Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) nach Jerusalem und traf Premier Benjamin Netanjahu – einen vom Internationalen Gerichtshof (IGH) gesuchten Kriegsverbrecher – und versicherte Deutschlands Solidarität. Nebenbei sprach man über engere Cyberabwehr-Kooperation.Solche widersprüchlichen Signale sind kein Versehen. Sie sind Teil einer diskursiven Zickzack-Strategie, die in Deutschland seit Langem bewährt ist: Wird der internationale Druck zu groß, gibt man sich kurzfristig selbstkritisch – ohne aber, dass Taten folgen. Dies lässt sich seit Jahrzehnten an folgenlosen Beteuerungen zu einer Zweistaatenlösung ablesen.Gleichzeitig betont man umso lauter, die „Sicherheit Israels“ sei „Teil der Staatsräson“ – was in der Praxis der letzten zwei Bundesregierungen offenbar bedeutet: alles ist legitim – selbst mutmaßlicher Völkermord und Annexion.Was zählt das Völkerrecht?Der deutsche Politbetrieb beteuert regelmäßig, das Völkerrecht und die territoriale Integrität anderer Staaten zu achten. Und doch: Während Israel trotz aller Anordnungen des IGH Gaza systematisch zerstört und die Annexion des Westjordanlands massiv beschleunigt, ist Deutschlands diplomatische und militärische Rückendeckung kaum ins Wanken geraten.Auch Israels Angriffe auf den Libanon und Syrien wurden hingenommen. Militärischer Expansionismus wurde respektiert – auf Kosten der eigenen Glaubwürdigkeit.Dass vereinzelte CDU-Politiker zwischenzeitlich auf Distanz gingen, deutet vor diesem Hintergrund weniger auf einen außenpolitischen Kurswechsel hin – sondern eher auf eine verschobene Diskurslage. Die alten Narrative halten dem sichtbaren Abgrund in Gaza kaum noch stand. Das liegt auch an den Bildern: ausgemergelte Kleinkinder; Hungernde, die an GHF-Verteilstellen vom israelischen Militär erschossen werden; Rettungskräfte, die tot aus Massengräbern geborgen werden.Merz, Wadephul und Klein simulieren mit ihren Bemerkungen Bewegung. Eine bewährte Strategie. Annalena Baerbocks Bundestagsrede vom Oktober 2024 lieferte hierfür ein Musterbeispiel: „Wenn Hamas-Terroristen sich hinter Menschen, hinter Schulen verschanzen, dann kommen wir in ganz schwierige Bereiche (…), dann können auch zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren – weil Terroristen diese missbrauchen“, so die ehemalige Außenministerin der Ampel-Regierung.Ein Satz, der Kriegsverbrechen rhetorisch einhegt, um wenige Sätze später das „humanitäre Völkerrecht“ zu beschwören.Umfragen zeigen inzwischen klar: Eine Mehrheit in Deutschland lehnt Israels Vorgehen ab.Die Zahlen vor Ort sprechen für sich. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza hat Israels Armee seit dem 7. Oktober rund 56.000 Palästinenser:innen getötet – darunter fast 16.000 Kinder. Unabhängige Schätzungen gehen von noch höheren Zahlen aus. Etwa die Forschungsgruppe Costs of War Project. Und eine Gruppe US-amerikanischer Ärzte. Diese hatte Joe Biden im Oktober 2024 einen offenen Brief geschrieben, kam auf rund 118.000 direkt getötete Menschen. Das war im Oktober 2024.Merz, Wadephul und Klein simulieren mit ihren Bemerkungen Bewegung Merz hat Angela Merkels Formel von der deutschen Staatsräson in seiner Regierungserklärung Ende Juni nun sogar noch verschärft: „Unsere Staatsräson ist die Verteidigung Israels in seiner Existenz“, heißt es dort. Doch was bedeutet das, wenn dieser Staat in Gaza einen Völkermord begeht, Methoden der Vertreibung und Zerstörung im Westjordanland anwendet und Nachbarstaaten angreift?Der Bruch zwischen ethischem Anspruch, Völkerrecht und deutscher Realpolitik ist heute deutlicher denn je. Was bleibt, ist eine Staatsräson, die sich je nach Lage biegt – und dabei fast alles rechtfertigt. Auf Kosten von Menschenleben und der eigenen Glaubwürdigkeit.