In „Abkehr“ schreibt der ehemalige „SZ“-Journalist Birk Meinhardt über einen, der nicht mehr dazu gehören will. Eine Streitschrift, die leider zur monothematischen Abrechnung gerät – und dabei ihre eigene Schlagkraft verspielt
Nach Corona verlor „der Westen“ den Ich-Erzähler „vollständig“
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Ach, wäre das doch ein richtig gutes Buch! Nicht wegen der Kisch-Preise, die Birk Meinhardt errang, als Reporter der Süddeutschen Zeitung, für die er von 1996 bis 2012 arbeitete. Auch nicht, weil ihm 2020 mit Wie ich meine Zeitung verlor ein bitterwitziger Bestseller gelang. Sondern weil er als „umstritten“ gilt. „Umstritten“ ist ja viel mittlerweile, und was wäre die Demokratie ohne ihre umstrittenen Streiter? Zumal Meinhardt keinen Verlag mehr fand und sich einen eigenen gründete; „Vabanque“ heißt der. Alles auf Risiko.
Abkehr: Ein Hafttagebuch bedient das Genre des edlen politischen Gefangenen. Der DDR-Gelernte Erik Werchow, Lesern aus Meinhardts Roman Brüder und Schwestern (Hanser, 2013) bekannt, war bis zu seiner ab
(Hanser, 2013) bekannt, war bis zu seiner abrupten Kündigung Marketing-Chef eines bayerischen Pharmakonzerns, der gegen erfundene Krankheiten Medikamente verkauft. Erik zieht seine Schlüsse, sieht fortan nur noch Zeichen für die Verdorbenheit des ihm aufgedrängten kapitalistischen Systems. Statt dialektisch zu analysieren agiert er als Enttäuschter, gekränkt von kommerzieller Sprache, Kleidung, Lebensweise. Und nach Corona „verlor der Westen“ ihn „vollständig“. Erik trägt eine Maske von sich selbst spazieren und landet im Gefängnis. Von dort aus erklärt er, resigniert bis auftrumpfend, sich und die Welt.Im „Knast“ wähnt er sich frei von der Verlogenheit draußen. „Das Böswillige“, „das Gierige“ trete ihm dort „wenigstens offen entgegen“, während sich auf den Straßen Massenproteste entwickeln gegen den vermeintlich verrotteten Medien- und Politikbetrieb. In der nahen Zukunft, in der sein Roman Abkehr spielt, gibt es ein „Ampelsystem“ für Medien: „Grün bedeutet: Zum Lesen empfohlen (…) Gelb bedeutet: Vorsicht (…) unter Rot steht: Vom Lesen wird abgeraten.“ Es reicht „ein von den Herrschenden als falsch kategorisiertes Wort –, und du wirst gelöscht. Deaktiviert (…) Zensieren läuft ja nun schon eine Weile unter Depublizieren.“Die als spitzelnd wahrgenommene „Parteiendemokratie“ erinnert den Protagonisten an die DDR. Erik setzt „in eins die früheren und heutigen Denkmuster und Methoden der Ausgrenzung von Menschen“. Am Ende schlägt er wie manisch auf den Westen ein, aufzählungsartig in einer Vergangenheitsform, die ebenso dys- wie utopisch gelesen werden kann: „Westen war…“, „Westen war…“. Jedenfalls war er, soll endlich gewesen sein, egal, um welchen Preis.Zu DDR-Zeiten wehrte Erik sich nicht, was ihn quält und zu einem ganz persönlichen „Nie Wieder“ motiviert. Nie wieder will er sich manipulieren lassen. Beide Gesellschaftssysteme verwenden, meint Erik, dieselbe Methode: „Tilge Begriffe, um Inhalte zu bannen. Erfinde Begriffe, um Inhalte auf die Tagesordnung zu setzen.“ Er nimmt sich vor „das gute alte Lackmuspapier der Logik darüber(zu)legen“, den „gesunden Menschenverstand“.Auf die Einlösung dieses Versprechens hofft man bis zum Schluss, quält sich durch manche Satzschachtel, umständliche Reflexion und Wiederholung, sucht jedoch vergebens nach der so notwendigen, tragfähigen, gewitzten Kritik an den Verhältnissen. Spätestens der Umgang mit der Pandemie hat ja manch einem gezeigt, wozu die BRD im Namen der Demokratie in der Lage ist: Diskriminierung Andersdenkender, eingeschränkte Teilhabe, Ausgrenzung, Willkür. All das kommt in Abkehr jedoch auf so angreifbar einseitige Weise, dass die Kritik ins Leere geht. Denn Erik wendet sich auch von den Fakten ab, nimmt nur noch zur Kenntnis, was in seine Selbstüberhöhung als BRD-Dissident passt – Meinhardt nennt es, nur scheinbar ironisch, „Erleuchtung“. Dass der Nichtmehr-Journalist auf solide Recherche verzichtet, begründet er mit dem Genre: sein Buch sei ein Hafttagebuch, er habe nur aus Eriks Sicht erzählen wollen.So entstand ein monologisierender, bisweilen lamentierender Frontalangriff auf „den Westen“. Doch die Story des als unterlegen gebrandmarkten, in Wahrheit einzig souveränen „Ostvolks“ gegen‘s unmündige „Westvolk“ lahmt, zumal, anders als in früheren Büchern, keinerlei Selbstironie erkennbar ist. Erik, der Kalte Krieger, agiert im Konkurrenzmodus – der Ostdeutsche als der bessere, bescheidenere, tiefsinnigere, fortschrittlichere, kämpferischere, demokratischere Demokrat. Das geht bis hinein in Jugenderinnerungen: „Ging euer Atem (…) je heftiger als meiner?“ Eine allzu schlichte Konstruktion der anständigen Minder- gegen die korrupte Mehrheit, auch wenn einzelne Schilderungen berühren, etwa „Die früheren Melker, Zerspaner, Agrotechniker, Metallfacharbeiter“, die mit der Arbeit auch die Heimat verloren. Doch es überwiegt die thesenhafte Zurechtweisung der „heutigen Zurechtweiser“.Zwar schildert Meinhardt Eriks Pein über unzählige Mikrodemütigungen seit der Wende nachvollziehbar, etwa das „demonstrative Mundwinkelverziehen“ eines „Schnösels“ in der Kantine – „ein kurzer Schmerz nur, der später wieder auftauchte und sich verfestigte, als etwas Elementares, mich ganz und gar Durchdringendes“. Indem die oft womöglich nur eingebildete Herabsetzung in seinem Kopf „Weltbedeutung“ erlangte, bezieht der maximal egozentrische Ich-Erzähler in der Folge alles auf sich, jedes achtlose Wort, jeden Blick. Dabei wirken die anderen Figuren im Roman, Anwalt, Ehefrau Carla oder die schweigend verbündete Wärterin Munera, allesamt wie Eriks Handpuppen, die sein Bauchgefühl bestätigen.Da wird auf- und abgerechnetEr habe ein „optimistisches Buch“ geschrieben, sagt Meinhardt anlässlich einer Lesung in Dresden, motiviert durch „Gelassenheit“. Diese scheint leider erkauft durch Verachtung und die Kühle dessen, der „euch“ nur noch „mit der Neutralität eines Insektenforschers“ beobachtet. Und bleibt Behauptung, denn Erik eifert. Da wird angeklagt, übelgenommen, auf- und abgerechnet, der faschistisch fruchtbare „Schoß der Demokratie“ beschworen, dem Westen ängstliche Schwächlichkeit zugeschrieben, Furtwängler gehört, Dostojewski gelesen, hin- und hergesprungen zwischen Zeiten, Orten, Personen und den Reizthemen Krieg, Corona, Migration.„Ich bin aus dem Osten“, proklamiert Erik, „geschult im Erkennen. Ich rieche jede Propaganda drei Meilen gegen den Wind“. Und setzt seine eigene dagegen: „Die Blöcke, die demokratische Herrschaft ausüben, tragen ihrem Wesen nach strikt antidemokratische und sogar totalitäre Züge“, das sei „in ihrem Inneren angelegt“, „weshalb die Demokratie, solange es eine der Parteien ist, immer ins Totalitäre suppen wird“.Eriks Phantasie geht so weit, dass er fürchtet, aus den Haftduschen könnte Gas strömen. Und sich freut – Optimismus à la Meinhardt? –, wenn alles den Bach runtergeht: „Jeder Untergang, der nicht von außen herbeigeführt wurde, ist ein verdienter (…) insofern wär’s angenehm, wenn er hier wenigstens ohne Gejammer abliefe.“Ach Erik, möchte man rufen, hättest du da mal auf dich selbst gehört anstatt dich deinem Phantasma von „Herrschenden“ zu ergeben, die dich „deaktivieren“, dich „löschen“ wollen. So machst du es den Bauherren der engen Meinungskorridore leicht, dein berechtigtes Unbehagen wegzuwedeln wie eine lästige Fliege. „Ja, es soll eskalieren“, feuerst du den Aufstand an, und hast „kein schlechtes Gewissen“, seien doch Schuld an allem einzig die „Etablierten“, deren „harte Einseitigkeit (…) zur harten Einseitigkeit ihrer Gegner“ führe, eine „Pendel“-Bewegung, reine „Mechanik“. Du selbst kannst dich in deinem Hin- und Hergedenke nicht entscheiden, ob du die „parlamentarische Demokratie im Stadium der Saturiertheit“ nun friedlich stürzen oder doch lieber ein bisschen Gewalt verherrlichen willst: „ich akzeptiere das Brutale, wenn es nur ehrlich ist und wenn es einem Feuer entspringt. Das glühend gewalttätige Herz, laß es schlagen, das eisig Intelligente aber, es soll sterben!“ Und so unkst du: „ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.“ „Was ich ahne? Nichts Genaues. Manche Gruppe ist unterwegs, mehr kann ich nicht sagen.“ Huibuh!Nun mag es sein, dass die Rezensentin zu viel „Restschrecken über die eigenen unbotmäßigen Gedanken“ empfindet und sich mangels Erleuchtetheit von Meinhardts Abkehr abkehrt. Kann aber auch sein, dass sie ihm nicht auf den Leim geht, weil er auf ein richtig falsches Buch setzt: Der Autor hat sich verzockt.Abkehr: Ein Hafttagebuch Birk Meinhardt Vabanque Verlag 2024, 284 S., 22 € Katharina Körting ist im diesem Jahr Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt Berlin