Japans Gesellschaft altert rasant – wie die Deutschlands. Gegen Einsamkeit und Isolation gibt es eine eigene Ministerin – und mit dem Nagaya Tower ein Mehrgenerationenhaus, das auf der klugen Philosophie des Arztes Haruhiko Dozono beruht
In einem orangefarbenen Kajak fahren ein Mann und eine Frau den Kotsuki-Fluss im Süden der japanischen Insel Kyūshū hinab. Im Hintergrund raucht es leicht aus dem Sakurijima, einem von Japans aktivsten Vulkanen, dem Symbol der Stadt Kagoshima. Es könnte eine ganz gewöhnliche Szene in dieser Gegend sein, wäre da nicht ein Altersunterschied von 40 Jahren zwischen den beiden Kajak-Fahrern. Beide sind Teil einer besonderen Gemeinschaft. Der 80-jährige Masatoshi war der Erste, der vor zehn Jahren in das Wohnprojekt Nagaya Tower zog. Seine Partnerin auf der Tour, die 38-jährige Hidaka, wurde vor drei Monaten Mitglied der Gruppe im Tower, die derzeit aus 43 Menschen im Alter zwischen acht und 92 Jahren besteht. Sie leben verteilt auf sieben Etagen eines Apa
Apartmenthauses, das Gemeinschaft ohne verwandtschaftliche Verbindung fördert, deren Mitglieder unabhängig voneinander leben und sich bei Bedarf gegenseitig helfen. „Diese Community ist von den ‚Nagayas‘ aus der japanischen Edo-Periode inspiriert, die vor mehr als 150 Jahren eine kollektive Lebensweise pflegten. Von Kindern bis zu älteren Menschen, von Familien bis zu Singles lebten sie zusammen in einem unter ihnen aufgeteilten Haus um einen Brunnen herum, an dem sie miteinander sprachen, während sie Kleider wuschen oder Hausarbeiten verrichteten“, erzählt der 72-jährige Yasunori, der sich vor fünf Jahren mit seiner heute 70-jährigen Frau Mutsoko dem Projekt anschloss. „Wir bewohnen ein Haus, in dem Nähe viel gilt“, fügt er hinzu. Er jätet gerade Unkraut zusammen mit Kindern aus dem Muffin Child Development Support Office im ersten Stock. Dieses Zentrum für Heranwachsende mit Entwicklungsstörungen ist gleichfalls Teil des Projekts. „Die Kinder lernen durch den Umgang mit älteren Menschen, die nicht Teil ihrer Familie sind, Regeln und höfliches Verhalten. Zugleich verbessern sie ihr Kommunikationsvermögen“, so die 39-jährige Direktorin Nobuhisa. Placeholder image-1Der Nagaya Tower gründet auf der Vision des heute 71-jährigen Arztes Haruhiko Dozono, der eine von Japans ersten Kliniken für Palliativmedizin gründete. Dabei bemerkte er, dass die meisten Patienten an sozialer Isolation und Einsamkeit litten. Er war überzeugt, dass sie statt Medikamenten die menschliche Interaktion brauchten. Es war ihm auch bewusst, dass es so gut wie keinen Ort gab, an dem das möglich war. Also beschloss er, einen solchen zu schaffen. 2011 beantragte er für seinen Nagaya Tower staatliche Fördergelder. Ihm schwebte ein Gebäude vor, das von seiner Bauweise her verschiedenen Generationen gerecht wird, etwa durch Gemeinschaftsräume. Ziel war es, einer Lebensweise zu dienen, die der Einsamkeit des Alterns vorbeugt, wie sie Japans immer älter werdende Gesellschaft heimsucht. Als Haruhiko Dozonos Vorhaben genehmigt war, begann der Bau des Towers und wurde im März 2013 vollendet. „Es war das erste generationsübergreifende Wohnprojekt des Landes“, erinnert sich Dozono. „Heute findet dieses Muster auch in anderen Städten Nachahmer.“ Einige der Bewohner sind Dozonos Patienten, sodass er seine Theorie überprüfen kann: Wer in der Gemeinschaft mehr Gesellschaft findet, dem hilft das auch gesundheitlich. Nach Angaben der Vereinten Nationen hatte Japan 2021 die älteste Bevölkerung weltweit: 29,8 Prozent der Menschen waren älter als 65 Jahre. Es wird erwartet, dass deren Anteil bis 2050 auf 37,5 Prozent steigt. Einsamkeit ist dabei ein derart beklemmendes Problem, dass die Regierung 2021 einen Ministerinnenposten für Einsamkeit und gesellschaftliche Isolation ins Leben rief. Eine Recherche des National Institute of Population and Social Security Research von 2017 hatte ergeben, dass 15 Prozent der älteren Alleinlebenden in zwei Wochen nur mit einer Person sprachen. 30 Prozent überkam das Gefühl, niemanden mehr zu haben, auf den sie sich verlassen und den sie um Hilfe bitten konnten, was die einfachsten Dinge des Alltags anging. Placeholder image-3Am nächsten Morgen trifft sich Yasunori mit der 92-jährigen Kaneko und der 85-jährigen Yamamoto im Aufenthaltsraum des dritten Stocks, um gemeinsam zu musizieren. „Ich lerne, Mundharmonika zu spielen“, lacht Yamamoto hinter vorgehaltener Hand. Nach dem Tod ihres Mannes habe sie nicht allein sein wollen und Anfang 2022 beschlossen, in den Nagaya Tower zu ziehen. Es quälten sie erste Anzeichen von Demenz. Was sie tut und vorhat, wird auf eine kleine Tafel an der Eingangstür ihres Apartments geschrieben, um es nicht zu vergessen. Yasunori sitzt vor den beiden, um sie wie ein Lehrer zu unterrichten. Er sei nur Amateur, Kaneko und Yamamoto wiederholen, was er ihnen auf seiner Mundharmonika vorspielt. Die Atmosphäre ist entspannt, zuweilen unterbrechen die drei ihr Spiel, um sich Geschichten zu erzählen. Frau Mutsuko, die ihren Mann in das Musikzimmer begleitet hat, löst an einem Tisch Sudokus. !—- Parallax text ends here —-!Leute mieten Wohnungen im Nagaya Tower, weil sie Teil einer Gemeinschaft sein und gleichzeitig ihr Refugium haben wollen. „Wenn jemand einziehen möchte, erklären wir die Philosophie des Projekts und ermutigen die Bewohner, aufeinander zuzugehen und sich gegenseitig zu helfen“, meint Asahi während ihres täglichen Rundgangs, bei dem sie sehen will, ob es den älteren Bewohner gut geht und sie ihre Medikamente nehmen. Die 32-jährige Asahi und der 38-jährige Tomoru sind dafür verantwortlich, das Gebäude zu managen und die Bewohner zu unterstützen. Placeholder image-4Die über 70-Jährigen zahlen einen Zusatzbeitrag für erwiesene Hilfen, während deutlich Jüngere auf eine verminderte Miete kommen, wenn sie Aufgaben übernehmen wie das Tragen von Möbeln oder das Beseitigen von Müll. Alle Mieter sollen niemals zögern, um Beistand zu bitten. Ein Prinzip, das dem Umstand gerecht wird, dass mehr als zwei Drittel der in diesem Haus Lebenden über 70 sind. Aber es gibt ebenso die eine Familie mit fünf Töchtern im Alter zwischen acht und siebzehn. Placeholder image-2„Seit ich im Nagaya Tower lebe, fühle ich mich wieder jünger. Seniorenheime sind voller alter Leute, aber hier bleibt man jung, weil man von Kindern umgeben ist“, sagt der 83-jährige Kukita, der vor drei Jahren mit seiner 89-jährigen Frau Mikiko herzog. Sie hätten zunächst in einer Seniorenresidenz gelebt, aber fühlten sich dort nicht wohl, sodass der Entschluss reifte, nach einer Alternative zu suchen. Kukita glaubt, dass er im Nagaya Tower Vitalität und Lebensmut zurückgewonnen habe. Er schwimme im Pool und nehme an einem Kunst-Workshop einmal im Monat teil. „Verglichen mit Seniorenheimen hat man hier das Gefühl, in das Leben zurückzukehren.“ Er lebe gern allein, aber wolle nicht vereinsamen, sagt auch der 37-jährige Takai. „Darum habe ich mich dafür entschieden, hier zu leben.“ Geboren in Fukuoka, wo er bei seinen Eltern wohnte, kam er mit 29 Jahren nach Kagoshima, um sich wegen Neurodermitis behandeln zu lassen. Es war bequemer, hier zu wohnen, um nicht hin und her fahren zu müssen.!—- Parallax text ends here —-!Der Tower wurde in V-Form entworfen, damit die Bewohner einander sehen können, wenn sie ankommen oder das Haus verlassen. Man kann sich begrüßen und ein kurzes Gespräch führen. Das sei in anderen Mietshäusern nicht üblich, sagt die 27-jährige Nagano, die vor zwei Jahren hierher fand. Ältere Leute kleben einen Magneten an die Tür ihres Apartments, um zu signalisieren, dass sie nicht zuhause sind, falls sich die anderen sorgen, wenn eine Tür verschlossen bleibt. Die Außenbalkone haben keine Trennwände, sodass sie auf diese Weise verbunden sind. „Das erleichtert es den Nachbarn, täglich Kontakt zu haben“, sagt Nagano, die im Speisesaal gern Bob Dylans Blowin’ in the Wind auf dem Klavier spielt und dafür stets stürmischen Applaus erntet. Der Nagaya Tower sorge dafür, dass die Annahme – das Leben ist schön, wenn man jemanden für ein Lächeln hat – mehr als eine Phrase sein kann.Nagano meint im Gespräch, sie wolle nur sechs Monate im Wohnprojekt bleiben. Für einige Jahre sei sie immer wieder umgezogen, habe in Japan und im Ausland als Krankenschwester gearbeitet. „Ich las von diesem Experiment, auf das sie sich hier einlassen. Daher dachte ich, dass es besser sein könnte, in diesem Haus zu wohnen, als in eine WG zu ziehen, in der nur jüngere Menschen leben. Ältere sind viel reizvoller, weil sie einen ganz anderen Horizont haben. Um das zu erleben, ist dieser Ort hier wirklich ideal.“Placeholder image-5Sie bilde sich ein, in nur drei Wochen die Herzen aller gewonnen zu haben. So konnte sie auch den „Bewohner Zero“, den 80-jährigen Masatoshi, kennenlernen. Der meldete sein Interesse an, als das Gebäude noch im Bau war, und sagt heute: „Hier bleibe ich für den Rest meines Lebens.“