Meine regulären Vorträge in Israel sind alle abgesagt. Stattdessen soll ich über Hoffnung reden. Aber wo finde ich die?


„Die wahre Gefahr ist, dass wir uns an das Leiden gewöhnen.“ Freundinnen und Angehörige am Grab eines 22-jährigen israelischen Soldaten

Foto: Ahmad Gharabli/AFP/Getty Images


Je mehr einen die Realität hier verzweifeln lässt, so scheint es, wird das Bedürfnis nach Hoffnung größer. Ich werfe einen Blick auf den Monat Dezember in meinem Kalender: Alle meine regulären Vorträge wurden aufgrund des Krieges abgesagt, stattdessen soll ich Vorträge über Hoffnung halten. Hoffnung für Therapeut*innen. Hoffnung für Soldat*innen im Reservedienst. Hoffnung für Rabbis. Hoffnung für Ärzt*innen. Gib ihnen Hoffnung, werde ich gebeten. Und so muss ich, wieder und wieder, den Ort in mir suchen, an dem noch Hoffnung besteht.

Um zu hoffen, stelle ich mir manchmal die Zukunft vor. Stelle mir den „Tag danach“ vor: Die Geiseln, die nach Hause kommen. Die Reservesoldaten, die entlassen werden und zu ihren

Übersetzung aus dem Hebräischen: Lucia Engelbrecht

zu ihren Familien zurückkehren. Die Bewohner Gazas, die zurückkommen und ihre Häuser wieder aufbauen können. Das unbeschwerte Schlendern auf der Straße, ohne Angst vor Raketenalarm.Um zu hoffen, gehe ich manchmal auch in der Zeit zurück, in die Vergangenheit. Mein Vater kämpfte im Sechs-Tage-Krieg und im Yom-Kippur-Krieg gegen die ägyptische Armee. Wenn ihm damals jemand erzählt hätte, dass nur sechs Jahre nach dem Yom-Kippur-Krieg ein israelisch-ägyptisches Friedensabkommen unterzeichnet werden würde und über 50 Jahre halten sollte, hätte er es nicht geglaubt. In Irland, in Südafrika und auf dem Balkan haben Gesellschaften und Anführer mit Vision Wege aus dem Kreislauf des Blutvergießens gefunden. In der Vergangenheit ist das also schon gelungen. Wieso sollte es nicht auch hier bei uns gelingen?Und manchmal ist es auch etwas im Hier und Jetzt, das die Hoffnung in mir nährt.Der Raketenalarm erwischt mich inmitten meines Morgenlaufs. Ich weiß nicht, wo ich mich in Sicherheit bringen kann. Um zurück in unsere Wohnung zu rennen, bleibt keine Zeit. Weit und breit ist kein Schutzraum in Sicht. Also renne ich auf das einzige Gebäude der Umgebung zu: Den Wasserturm. (Später werde ich mir denken, dass das nicht besonders klug war – wenn die Rakete den Wasserturm getroffen hätte, hätten die Fluten mich unter sich begraben). Als ich den Turm erreiche, lege ich den Kopf an die Mauer und schütze ihn mit den Händen.Nach ein paar Sekunden höre ich schnelle Schritte. Sie halten an, jemand hat sich neben mich gestellt. Und schnauft. Schnelle und schwere Atemzüge. Und dazwischen höre ich Worte auf Arabisch. Ich hebe den Kopf und sehe eine Frau. Inmitten einer Panikattacke. Ich weiß, wie eine Panikattacke aussieht, denn einmal hatte mein bester Freund eine neben mir, es war während der Corona-Pandemie, nachdem man ihn auf seiner Arbeit entlassen hatte. Das flache Atmen, das blasse Gesicht, die auf der Brust liegende Hand. Ja, die Frau hat eindeutig eine Panikattacke.Ich rufe ihr laut zu – Hey!, um sie aus dem Loop der Ängste zu holen, in dem sie sich befindet, und ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich rede ihr auf Arabisch zu, auch wenn mein Wortschatz begrenzt ist. Sehr begrenzt. Er basiert auf den drei Jahren Arabisch, die ich auf dem Gymnasium hatte. Aber „Alles wird gut werden“ und „Mach dir keine Sorgen“, das kriege ich gerade noch zusammen. Ich weiß, sagt sie nickend. Und beruhigt sich ein wenig, aber ist noch immer ziemlich weggetreten. Über uns ist eine laute Explosion zu hören, die Rakete wurde abgeschossen. Die Frau fängt an zu weinen.Es ist vorbei, sage ich ihr, es ist vorbei. Wir sind in Ordnung. Wir sind am Leben. Sie wischt sich die Tränen ab, sagt „Schukran“, Danke, und legt die Handflächen in einer Geste des Danks aneinander. Nach ein paar weiteren Minuten des Wartens verlässt sie unseren Unterschlupf hinter dem Wasserturm und kehrt schnellen Schrittes auf die Straße zurück, ohne sich umzusehen. Ich fange wieder zu laufen an. Die Straßen sind leer. Blätter wirbeln auf den Gehsteigen. Ein herbstlicher Wind bläst. Luft, um zu atmen.Ich erinnere mich an den Tauchkurs, den ich vor ein paar Jahren machte. Wenn einer der Taucher in einer Tiefe von mehreren Dutzend Metern ein Problem hat – so brachte man es uns bei –, dann ist sein Partner die einzige Person, die ihm helfen kann. Deshalb taucht man immer zu zweit. Wenn zum Beispiel dem Partner der Sauerstoff ausgeht, muss man ihm das eigene Mundstück des Atemreglers geben, sodass er aus ihm Sauerstoff einatmen kann, das Mundstück dann wieder selbst nehmen und daraus Sauerstoff ziehen, und dann wieder dem Partner geben, und so weiter und so fort. Nur so – nur, wenn ihr den Sauerstoff teilt – könnt ihr beide langsam und sicher aus den Tiefen an die Wasseroberfläche aufsteigen.Und vielleicht, denke ich, ist es das, was dieses Jahr passiert ist: Wer Sauerstoff hat, gibt ihn an den, der keinen hat. Manchmal gibst du, manchmal bekommst du. Nur mit tiefer gegenseitiger Verlässlichkeit wie der zwischen Tauchern können wir diese schlimme Zeit überleben.*Der Sohn des Lebensmittelladens in unserer Nachbarschaft wurde in Gaza getötet. Am Anfang des Krieges. Im ersten Monat danach kam der Vater nicht in den Laden, Familienmitglieder sprangen für ihn ein. Nach einem Monat stand er wieder hinter der Theke, tiefe Furchen der Trauer im Gesicht. Und seitdem hört er nicht auf, mit den Kunden über seinen Sohn zu sprechen. Mit den Stammkunden, aber auch mit neuen Kunden. Das unaufhörliche Sprechen über seinen Sohn scheint seine Therapie zu sein. Er schiebt Milch, Brot und Gemüse über die Theke und spricht währenddessen über das Gefecht, in dem sein Sohn getötet wurde. Oder über die Musik, die er liebte. Oder über das Lied, dass sein Sohn einmal aufgenommen und ans Radio geschickt hatte.Man kann den Laden nicht betreten, ohne den Besitzer über seinen toten Sohn reden zu hören. Man könnte meinen, dass die Menschen den Laden meiden und zu zum Lebensmittelladen des Konkurrenten in der Nachbarschaft gehen würden, gleich auf der anderen Straßenseite – aber nein. Auf merkwürdige Weise schreckt die Trauer die Stammkunden nicht ab, weckt bei ihnen vielleicht sogar eine Art Gefühl der Verpflichtung.Wir stehen in der Schlange, jeder mit seinen Einkäufen, und hören ihm zu, wie er uns allen von den Freunden seines Sohns erzählt, die nicht aufhören, ihn zu besuchen. Über das Zimmer des Sohns, in das sie seit seinem Tod keinen Fuß gesetzt haben. Über den ersten Feiertag ohne ihn. Neuen Kunden fällt es nicht schwer zu verstehen, um was sich das Gespräch dreht. Und wenn sie an der Reihe sind, zu bezahlen, drücken sie dem Ladenbesitzer ihre Anteilnahme aus.Wir, die Stammkunden, wissen bereits, dass es eine Trauer gibt, an der man nicht Anteil nehmen kann. Man kann sie nur bezeugen. Wir zahlen schweigend. Und wenn der Laden bis auf uns leer ist und niemand hinter uns in der Schlange steht, dann drucksen wir herum und finden verschiedene Ausreden, weiter bei der Theke zu stehen, bis ein anderer Kunde kommt und so die Kette der Zuhörens nicht abbricht.*Ein Tag vor dem Rock-Festival am Toten Meer, für das wir Karten haben, drangen zwei Terroristen ganz in der Nähe des Festivalgeländes von Jordanien aus nach Israel ein und verletzten zwei Soldaten. Wir sind unschlüssig, ob wir trotz der Gefahr fahren sollen und entscheiden uns schließlich dafür. Das Leben hier hat sich so oder so in ein russisches Roulette gewandelt, da macht das auch keinen Unterschied mehr.Auf dem Konzertgelände in Masada, im Herzen der Wüste, warten Tausende darauf, dass die Show beginnt. Die Reihen sind nicht voll. Aber auch nicht leer. Über Lautsprecher wird darüber informiert, wie man sich im Fall von Raketenalarm zu verhalten hat: Sich flach auf den Boden legen und die Hände auf den Kopf legen. Das bedeutet: Es gibt keinen Schutzraum oder Bunker in der Nähe. Als Winston Churchill während des Zweiten Weltkrieges gefragt wurde, wie er zur Kürzung des Kulturbudgets stehe, soll er geantwortet haben: „So what are we fighting for?“Und tatsächlich: Als die erste Band auf die Bühne tritt und Tausende Menschen das erste Lied mitsingen, wird mir wieder klar, wie besonders der Ort ist, an dem ich lebe. Welches Wunder es ist, dass es ein Land gibt, in dem man Rock ’n’ Roll in der Sprache der Hebräischen Bibel singt.Man sieht, welche Resilienz das jüdische Volk hat, sagt eine Frau voller Stolz neben mir beim Anblick der tanzenden Menge.Entweder ist es Resilienz, denke ich mir, oder wir sind vor lauter Krieg alle völlig verrückt geworden und alles, was uns übrigbleibt, ist, uns durch Tanz auszudrücken.*Einer nach dem anderen kommen die Stars unserer Zeit auf die Bühne. Durch den verzerrten Klang der Gitarren dringen immer wieder bekannte Liedzeilen durch, die plötzlich neue, unheimliche Bedeutungen bekommen. „Nur wenn Krieg ausbrechen sollte, bleiben wir zu Hause“, singt Berry Sacharoff, und ich denke, dass in diesem Krieg auch das Zuhause nicht mehr sicher ist. „Am Ende gewöhnt man sich an alles“, ruft Dudu Tassa ins Mikro, und ich denke mir, dass das die wahre Gefahr ist, die nach einem Jahr Krieg vor unseren Türen steht – dass wir uns an all das gewöhnen.Dass wir uns daran gewöhnen, dass die Geiseln in den Tunneln stecken. Dass wir uns an den Tod von Soldaten gewöhnen. Dass wir uns an das Leiden von Zivilisten gewöhnen, hier, in Gaza und im Libanon. Dass wir uns an einen Regierungschef ohne Scham und ohne Vision gewöhnen, der den Verteidigungsminister entlässt, um ein Gesetz durchzubringen, dass die Ultraorthodoxen vom Wehrdienst ausnimmt. Dass wir uns daran gewöhnen, dass das hier das Leben ist: Das Rennen zu Schutzräumen und das Besuchen von Beerdigungen und eine erbärmliche politische Führung. Und uns daran gewöhnen, dass das immer das Leben sein wird. Und am gefährlichsten ist es, wenn wir uns so gut daran gewöhnen, dass wir nicht mehr daran glauben können, dass es auch anders sein könnte.Eshkol Nevo ist 1971 in Jerusalem geboren und hat an der Universität Tel Aviv Psychologie studiert. Seine Romane sind Bestseller in Israel, darunter Vier Häuser und eine Sehnsucht und Wir haben noch das ganze Leben. Im Mai erschien Trügerische Anziehung bei dtv. Seit dem 7. Oktober 2023 führt Nevo ein Tagebuch, dieser Text ist Teil davon



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Von Veritatis

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