Die Legalisierung von Abtreibungen ist im Bundestag noch nicht vom Tisch. Befürworter:innen und Gegner:innen aus der Zivilgesellschaft treffen sich in einer „Dialogwerkstatt“ zum Gespräch
Mit dem Kleiderbügel statt mit Medikamenten? Protest gegen Verschärfung des Abtreibungsrechts, hier in Polen, 2020
Foto: Rafal Milach/Magnum Photos/Agentur Focus
Zwei Frauen, ein großer Gegensatz: Sabina, 34 Jahre alt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, ungeborenes Leben zu schützen. Antonia, 28 Jahre alt, hatte sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden. Sie treffen sich zum ersten Mal. Mit dabei ist Taleo, der selbst Abbrüche durchführt, Sexualpädagogin Laura und Ian, der werdende Väter berät. Sie alle sind Teil eines Experiments. Denn in einer Grundsatzfrage vertreten sie unterschiedliche Positionen: Sollen Schwangerschaftsabbrüche erlaubt oder verboten sein?
Ob sie miteinander reden, womöglich sogar gemeinsam etwas bewegen können – dieser Herausforderung stellt sich eine Gruppe aus Ärzt*innen, Aktivist*innen und Vertreter*innen von Glaubensgemeinschaften und Menschenrechtsor
enrechtsorganisationen. Seit dem Winter 2023 bis Herbst 2024 organisierten wir als gemeinnütziger Verein „Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik“ in Frankfurt am Main und in Berlin moderierte Gespräche, die wir „Dialogwerkstatt Schwangerschaftsabbruch“ nannten.Die Teilnehmer*innen nominierten sich dabei selbst in die Runden. Die Leitfrage war: Mit welcher Person, die eine andere, aber dennoch wertzuschätzende Meinung hat, würden Sie gerne zusammenarbeiten? In der Auswahl der Beteiligten wurde besonders Wert auf Stimmen gelegt, die im öffentlichen Diskurs über Abbrüche bis jetzt noch wenig hörbar sind. Für diesen Text haben die betreffenden Personen zugestimmt, nur ihren Vornamen zu nennen.Die Irritation bleibtAntonia erzählt, dass sie überrascht war, als sie Sabina das erste Mal begegnete: „Bei einem Lebensschützer hab ich erstmal an das Stereotyp ‚alter weißer Mann‘ gedacht – aber nicht an eine freundliche, junge Frau.“ Die anfängliche Irritation bleibt. In der Diskussion spüre sie keine Feindseligkeit, sondern ehrliches Interesse. Auch Sabina möchte besser verstehen: Wie können Betroffene nach einem Abbruch bedarfsgerecht unterstützt werden? Nach wie vor wünscht sich die 34-Jährige aus Bayern aber, dass ungeplant Schwangere einen anderen Weg als den Abbruch finden.In Deutschland ist der Schwangerschaftsabbruch seit knapp drei Jahrzehnten laut Paragraf 218 des Strafgesetzbuches in der heutigen Form strafbar. Bei einem Verstoß kommen sowohl Ärzt*innen als auch Betroffene mit dem Gesetz in Konflikt. Ausnahmen bilden drei Szenarien: die Beratungsregelung (nach der laut Statistischem Bundesamt 2023 mit 96 Prozent nahezu alle Abbrüche durchgeführt wurden), die kriminologische und die medizinische Indikation. Nach der Beratungsregelung lässt sich eine Schwangerschaft innerhalb der ersten zwölf Wochen abbrechen, wenn die Schwangere eine Beratungsstelle aufsucht und danach die geforderten drei Tage Bedenkzeit einhält.Als Frau mache man sich ständig Gedanken darüber, was passierte, wenn die Verhütung versagt. Trotzdem wusste Antonia auf Anhieb nicht, was zu tun war, als sie 2019 einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand hielt. Nach ihrem Eingriff gründete sie eine Selbsthilfegruppe, wollte anderen Frauen einen Raum bieten, um Erleichterung, Freude, Wut, Trauer und andere Gefühle auszudrücken. Studien zeigen, dass mehr als jede fünfte Betroffene mit ihrer Erfahrung nach einer Abtreibung allein bleibt.In der Dialogwerkstatt berichtet Antonia aus ihrer Gruppe. Etwa dass die Schwangeren vorab gern mehr Infos zum Verlauf eines medikamentösen Abbruchs gehabt hätten. Der Eingriff gilt medizinisch gesehen als sicher, aber es bleiben Fragen: Wie lange blutet man, wie viele Schmerzen sind normal? Zu Antonias Überraschung nickt Sabina zustimmend: Nach einem Praktikum in einer Beratungsstelle zu ungeplanten Schwangerschaften wisse sie, dass Frauen vor einer Entscheidung gut aufgeklärt werden möchten. Auch über Hilfsangebote, die zum Beispiel bei beruflichen oder finanziellen Sorgen unterstützen können.Empfehlung aus Abschlussbericht: Abbrüche in den ersten zwölf Wochen legal und straffreiIn der Debatte um den Paragrafen 218 geht es im Kern um eine Güterabwägung: Welches Leben ist schützenswerter – das einer Schwangeren oder das eines Embryos? Als der Paragraf 218 in seiner heutigen Form beschlossen wurde, war sexualisierte Gewalt innerhalb einer Ehe noch keine strafbare Handlung. Um veränderte Wertevorstellungen auch in Gesetzestexten widerspiegeln zu können, beauftragte die Bundesregierung im Frühjahr 2023 eine Kommission aus Sachverständigen. Ihr Auftrag: die aktuelle Regelung des Schwangerschaftsabbruchs zu prüfen. Rund ein Jahr später legte eine Arbeitsgruppe, bestehend aus neun Mitgliedern aus den Fachbereichen Sexualpädagogik, Recht und Medizin, ihren Abschlussbericht vor.Das Ergebnis beinhaltet für die ersten zwölf Schwangerschaftswochen eine klare Empfehlung: In dieser Frühphase sollten Abbrüche legal und straffrei sein. Für eine gesetzliche Regelung nach Ende der zwölften Woche sieht die Experten-Kommission Gestaltungsspielraum. Juristin Liane Wörner, Koordinatorin der Arbeitsgruppe, erklärte die Empfehlung gegenüber der taz wie folgt: „Bei allem Respekt für den Schutz des ungeborenen Lebens muss die Einsicht entstehen, dass für Frauen Menschenrechte gelten.“Der damalige Justizminister Marco Buschmann (FDP), Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Die Grünen) und SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach begrüßten den Bericht, wollten sich Zeit für eine eingehende Auseinandersetzung nehmen. Die Unions-Fraktion wiederum drohte mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, sollte die Bundesregierung der Empfehlung der Kommission folgen. Auffallend oft war im politischen Berlin die Rede von der Dringlichkeit eines „offenen und faktenbasierten Diskurses“ (Paus), den die Gesellschaft nun führen müsse, um den „sozialen Frieden zu wahren“ (Buschmann).An einem Mittwochabend im November wird klar, dass die Ampel-Koalition zerbrochen ist. Nur eine Woche später bringt eine fraktionsübergreifende Gruppe einen Gesetzesentwurf ins Parlament ein – auf Initiative von Grünen und SPD, die bereits in ihren Wahlprogrammen eine Neuregelung forderten. Im Entwurf steht: Schwangerschaftsabbrüche sollen innerhalb der ersten zwölf Wochen legalisiert werden. Außerdem sollen zwischen Beratung und Abbruch nicht mehr als drei Tage liegen und die Regelung des Abbruchs soll künftig über das Schwangerschaftskonfliktgesetz erfolgen.Zeitfenster für Neuregelung schließt sichAls ausgebildete Mediatorin weiß Antonia, dass Feindbilder sich verhärten, wenn die Gesellschaft verlernt, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Sabina hingegen hat keine Angst, dass ein Regierungswechsel einen Einschnitt in die Debattenkultur bedeuten könnte.Rund 75 Prozent der deutschen Bevölkerung sprechen sich 2024 für eine Streichung des Paragraphen aus, wie das Bundesfamilienministerium feststellte. Aber es gibt auch andere Zahlen: Laut des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung waren es 2022 noch 55 Prozent, in der Umfrage der ZDF-Polit-Sendung Frontal im Jahr 2023 waren es sogar nur 36 Prozent. Die Lebensschützerin Sabina spricht sich für den Erhalt des Paragrafen aus. Antonia, die für die Entscheidungsfreiheit der Schwangeren plädiert, fordert dessen Streichung. Aber aus Debatten in der Dialogwerkstatt wissen wir, dass die eigene Wahrheit oft nuancierter als ein kategorisches „Dafür“ oder „Dagegen“ ausfallen kann.Ist auf den letzten Metern noch mit einer gesetzlichen Änderung beim Streitthema Paragraph 218 zu rechnen? Die Initiator*innen des Gesetzentwurfs wollen, dass es noch vor den Neuwahlen im Februar 2025 zu einer Abstimmung kommt, bevor sich das Zeitfenster für eine Neuregelung womöglich erst einmal schließt. Von 733 Abgeordneten hatten bei Veröffentlichung der Initiative 240 unterschrieben – unter ihnen auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).Theresa Köchl verantwortet die Öffentlichkeitsarbeit im Projekt „Dialogwerkstatt Schwangerschaftsabbruch“. Das vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. durchgeführte Projekt wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert