Was ist eine „echte“, was eine „unechte“ Vertrauensfrage? Bundeskanzler haben beide schon öfter im Bundestag gestellt, ob Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Helmut Kohl. Der heutigen Lage am ähnlichsten ist Gerhard Schröders Vorgehen 2005
Zwar verlor die SPD knapp die vorgezogene Wahl, Gerhard Schröders Manöver zahlte sich langfristig trotzdem aus
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Die einschlägige Verfassungsbestimmung lautet: „Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen.“ Zweck dieser Regelung ist es, zu überprüfen, ob eine Regierung noch handlungsfähig ist, das gegebenenfalls zu gewährleisten und zu demonstrieren.
Das Stellen der Vertrauensfrage wurde immer wieder auch dazu genutzt, widerspenstig gewordene Koalitionäre (oder Teile von ihnen) zu disziplinieren. Ein ersatzloser Sturz des Kanzlers während einer Legislaturperiode ist im Grundgesetz nicht vorgesehen, sondern nur durch gleichzeitige Wahl eines Nach
iode ist im Grundgesetz nicht vorgesehen, sondern nur durch gleichzeitige Wahl eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin möglich. So sieht es das sogenannte konstruktive Misstrauensvotum nach Artikel 67 vor.In der Praxis ist neben der „echten“ Vertrauensfrage auch eine „unechte“ gebräuchlich geworden: Der Kanzler verliert die Wahl absichtlich, um sich in einer danach erforderlichen Neuwahl ein Mandat für seine weitere Amtsführung zu sichern. Dafür muss neben der Opposition eine ausreichende Anzahl von Abgeordneten der Regierungsfraktionen verhindern (durch Nein-Voten, Enthaltung oder Nichtteilnahme an der Sitzung), dass dem Kanzler von einer Mehrheit der Parlamentarier das Vertrauen ausgesprochen wird.Misstrauensvotum gegen Willy Brandt und dessen VertrauensfrageErstmals geschah dies 1972. Am 27. April dieses Jahres war ein Versuch von CDU/CSU, Willy Brandt durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen, gescheitert. Nach dem Übertritt von Abgeordneten der sozialliberalen Koalition zur Union hatte er aber keine Mehrheit mehr für den Haushalt. Kanzler Brandt stellte deshalb im September die Vertrauensfrage. 233 Abgeordnete sprachen ihm das Vertrauen aus, 248 votierten mit „Nein“. Die Minister – mit Ausnahme des Arbeitsministers Walter Arendt – nahmen an der Abstimmung nicht teil. Der Bundestag wurde aufgelöst. Nach der Neuwahl im November 1972 stellten die Sozialdemokraten erstmals die stärkste Fraktion.Am 1. Oktober 1982 ist Bundeskanzler Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Artikel 67 gestürzt worden. Sein Nachfolger wurde Helmut Kohl. Die FDP hatte die sozialliberale Koalition verlassen und so die Bildung einer Regierung zusammen mit der Union ermöglicht. Kohl strebte baldige Neuwahlen an, obwohl er durch diesen Seitenwechsel der Liberalen über eine ungefährdete Mehrheit im Bundestag verfügte. Umfragen sagten ihm deren Ausbau voraus.Der neue Kanzler stellte am 13. Dezember die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes. Am 17. Dezember 1982 stimmten acht Abgeordnete mit Ja und 218 mit Nein. 248 enthielten sich. Kohl gewann die fällige Neuwahl und regierte 16 Jahre. Ihm folgte Gerhard Schröder.Der Anfang rot-grüner Hoffnungen 1998Von allen Regierungen, die es in der Bundesrepublik seit 1949 gab, hat das 1998 auf den Bürgerblock aus Union und FDP folgende rot-grüne Kabinett die Hoffnungen seiner Wählerbasis am gründlichsten enttäuscht. Ohne falsche Erwartungen zu wecken, wäre eine solche Regierung allerdings auch nie ins Amt gekommen. Dieser Widerspruch erzeugte eine Glaubwürdigkeitslücke, die im Laufe der Jahre immer größer wurde und diese Koalition schließlich 2005 scheitern ließ.Die SPD führte den Wahlkampf 1998 mit einer Doppelspitze: Gerhard Schröder ließ sich als der „Genosse der Bosse“ darstellen, Oskar Lafontaine war Hoffnungsträger der Gewerkschaften, die nach 16 Jahren Kohl für einen Politikwechsel warben. Dieser trat tatsächlich ein, aber anders als erwartet. Da Lafontaine versuchte, den Einfluss der Finanzmärkte zurückzudrängen, verteufelten ihn Leit- und Boulevardmedien als Schröders bösen Geist. Die britische Zeitung The Sun fragte, ob er der „gefährlichste Mann Europas“ sei. Schröder stützte ihn nicht. Am 11. März 1999 trat Lafontaine als Finanzminister und SPD-Vorsitzender zurück.Gerhard Schröders Vertrauensfrage wegen AfghanistanUnter dem Kanzler Schröder und dem Außenminister Joschka Fischer von den Grünen beteiligte sich 1999 die Bundesrepublik an einem völkerrechtswidrigen Angriff auf Jugoslawien und ab 2001 an einer von den USA geführten Kriegskoalition in Afghanistan. In diesem Fall gab es Widerspruch aus Teilen der Koalition: 20 Abgeordnete der SPD und acht der Grünen waren dagegen. Schröder wäre für sein Vorhaben auf Stimmen der Opposition angewiesen gewesen. Um die Abtrünnigen zu disziplinieren, stellte er die Vertrauensfrage. Daraufhin blieben von den angekündigten Verweigerungen aus der SPD noch eine einzige und bei den Grünen vier übrig. Der Kanzler gewann die Vertrauensabstimmung.Bei der Bundestagswahl im Herbst 2002 erlitt die SPD Einbußen, die Grünen legten zu, Schröder blieb im Amt. Im Winter 2002/2003 forderten die einflussreichsten Privatmedien einen verschärften marktradikalen Kurs. Eine vom Arbeitgeberverband „Gesamtmetall“ gegründete „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ hatte schon seit 2000 eine Kampagne zu diesem Zweck betrieben. Kanzler Schröder gab dem Druck nach. Im März 2003 präsentierte er im Deutschen Bundestag eine „Agenda 2010“. Er versprach eine Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten für Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung.Die fünfte Wirtschaftskrise der Bundesrepublik2003 brach die fünfte Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Die Arbeitslosigkeit stieg im folgenden Jahr auf 11,7 Prozent. Zugleich beschlossen Bundestag und Bundesrat ein Programm zur Einschränkung der Leistungen für Erwerbslose, „Hartz IV“, benannt nach dem Vorsitzenden der von der Regierung eingesetzten Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“. Die Bezugszeit von Arbeitslosengeld wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2005 verkürzt, die bisherige Arbeitslosenhilfe abgeschafft. In der Regel spätestens nach einem Jahr (für über 58-Jährige nach 24 Monaten) erhielten Erwerbslose nur noch ein „Arbeitslosengeld II“, das in etwa der Höhe des bisherigen Sozialhilfesatzes entsprach. Dessen Bezug war an die Bereitschaft gebunden, auch Arbeiten anzunehmen, die bisher als unzumutbar hatten abgelehnt werden können und mit einer Arbeitsvergütung bis 1,50 Euro pro Stunde bezahlt wurden.Jetzt kam es zu Protesten. Vorrangig in Ostdeutschland fanden ab August 2004 „Montagsdemonstrationen“ gegen Sozialabbau statt. Mitglieder der SPD und Gewerkschafter gründeten eine „Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit“ (WASG). Sie warben um Oskar Lafontaine. Am 20. Mai 2005 wurde die rot-grüne Regierung von Nordrhein-Westfalen abgewählt. Oskar Lafontaine trat aus der SPD aus, schloss sich der WASG an und ging ein Bündnis mit der PDS ein. Der SPD drohten Zerrüttung und bei der 2006 anstehenden Bundestagswahl noch größere Verluste. Um dies zu verhindern, gab Schröder am Abend der Niederlage in Nordrhein-Westfalen die Bereitschaft zu erkennen, die Vertrauensfrage nach Artikel 68 zu stellen. Bei der Abstimmung am 1. Juli 2005 votierten 151 Abgeordnete mit „Ja“. 296 mit „Nein“. Es gab 148 Enthaltungen. Der Bundestag wurde aufgelöst.Rot-Rot-Grün war tabuVor der Neuwahl am 18. September 2005 gelang der SPD eine Aufholjagd. Mit 34,2 Prozent der Stimmen landete sie nur um einen Punkt hinter der Union. Die rot-grüne Mehrheit freilich ging verloren. Ihre Erweiterung durch die Einbeziehung eines Linksbündnisses aus PDS und WASG, das 8,7 Prozent erreichte, war tabu.Aber auch Union und FDP hatten keine Mehrheit, und die CDU-Vorsitzende Angela Merkel verfehlte ihr Ziel. Das Wahlergebnis war für sie eine halbe Niederlage. Auf einem Parteitag 2003 hatte sie einen marktradikalen Kurs, der noch schärfer war als Schröders „Agenda 2010“, durchgesetzt. Im Wahlkampf erklärte sie, zusammen mit der FDP „durchregieren“ zu wollen. Stattdessen musste sie jetzt eine schwarz-rote Koalition eingehen. Die SPD erhielt das Arbeitsministerium. Sie brach nicht mit der „Agenda 2010“, nutzte aber einige sozialpolitische Spielräume, die von der Kanzlerin zugestanden wurden. Letztere hörte später aus den Reihen der eigenen Partei den Vorwurf eine „Sozialdemokratisierung“ betrieben zu haben.Von den 16 Merkel-Jahren war die SPD zwölf in der Regierung. Insofern hatte sich Schröders Manöver von 2005 – eine absichtlich verlorene Vertrauensfrage plus Aufholjagd – rentiert. Die von Rot-Grün angerichteten Schäden am Sozialstaat und der außenpolitische Dammbruch mit zwei Kriegen allerdings waren damit nicht behoben.