Die Hayat-Tahrir-al-Scham-Milizen und ihr Anführer Mohammed al-Dscholani haben dem maroden Assad-System den Todesstoß versetzt, doch ist der Jubel vorschnell: Abhängen wird die Ausrichtung des neuen Systems nicht nur von der Türkei
Die Fahne der syrischen Opposition
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Wenn die Falschen das Richtige tun, handeln sie im Namen des Guten, lernen wir dieser Tage. Während die Hisbollah und die Hamas hierzulande als „brutale Terrororganisationen“ gelten und mit den Taliban in Afghanistan gar nicht erst verkehrt wird, um vielleicht die durch 20 Jahre NATO-Präsenz hinterlassenen Kriegsschäden zu lindern, sind die dschihadistischen Rebellen in Damaskus nun Befreier und Wundertäter. Was gerade an verdruckstem Geraune bei Politikern, Analysten, Journalisten und Nahost-Experten zu vernehmen ist, spottet jeder Beschreibung. Die hübsch angemalten, exakt beschrifteten Klötzchen im ideologischen Baukasten sind offenbar ordentlich durcheinandergeraten.
Die Hayat-Tahrir-al-Scham-Milizen (HTS) und ihr Anführer Mohammed al-Dscho
d al-Dscholani haben einem maroden System den Todesstoß versetzt. Folglich wird ihnen verziehen, Wurzeln im Islamischen Staat (IS) und bei al-Qaida zu haben. Der Westen war stets Partei im syrischen Konflikt, der seit 2011 als Bürgerkrieg von einer Vielzahl an Parteien ausgefochten wurde. Aber trotz steter Einmischung, partieller Militärinterventionen und drakonischer Sanktionen blieb der finale Erfolg verwehrt. Es mussten erst dschihadistische Freischärler antreten, einen säkularen Staat zu überrennen. Tatsache ist, dass der als regionales Unikat lange schon, spätestens seit der US-Aggression gegen den Irak 2003, zur Disposition stand.2003: US-Außenminister Colin Powell will Assad disziplinierenDa es sich heutzutage nicht mehr gehört, nach der Vorgeschichte von Konflikten zu fragen, sei hier erst recht daran erinnert. US-Außenminister Colin Powell wurde am 3. Mai 2003 in Damaskus vorstellig. Keine 72 Stunden zuvor hatte Präsident George W. Bush auf dem Flugzeugträger „USS Abraham Lincoln“ sein „Mission Accomplished“ zelebriert, womit der Sieg über Saddam Hussein und den Irak gemeint war. Powell bedeutete der syrischen Regierung, sie solle in Demut eine neue, von den USA intendierte Regionalordnung respektieren und sich nicht dazu hinreißen lassen, im Verein mit schiitischen Glaubensbrüdern im Iran dagegen zu opponieren.Damaskus müsse sich aus der Solidarität mit den Palästinensern ebenso zurückziehen wie aus dem Libanon, wo die syrische Armee seit dem dortigen Bürgerkrieg einen Außenposten bezogen hatte. Powell verließ Damaskus in der Überzeugung, Präsident Assad werde sich um seiner Macht willen disziplinieren lassen. Er sollte sich täuschen, und das hatte Konsequenzen.2005 zog die syrische Armee zwar aus dem Libanon ab, aber als 2011 der Arabische Frühling Teile Syriens erfasste, fand Assad im Westen so wenig Gnade wie Muammar al-Gaddafi in Libyen. Was sie für ihre Länder an eigenwilliger Souveränität beanspruchten, ging zu weit. Dass in Syrien nicht so massiv eingegriffen wurde wie in Libyen, war der Einsicht geschuldet, zwei gescheiterte Staaten („failed states“) besser zu vermeiden, wenn einer davon über eine gemeinsame Grenze und einen offenen Territorialkonflikt mit Israel verfügt.2024: Wie wird HTS mit den Golanhöhen in Israel umgehen?Was nunmehr die Frage aufwirft, wie die islamistische Allianz um die HTS mit Israel umgehen wird. Immerhin sind die Golanhöhen seit fast sechs Jahrzehnten – seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 – besetzt und mittlerweile annektiert. Unter Präsident Assad galt im israelisch-syrischen Verhältnis der Modus Vivendi einer eingefrorenen Konfrontation, womöglich eines gestundeten Krieges. Doch war nie von der Hand zu weisen: Solange der Golan von Israel okkupiert bleibt, muss Syrien einen durch nichts zu kompensierenden Gebietsverlust hinnehmen.Placeholder image-1Der Regime Change in Syrien setzt die künftigen Machthaber jener offenen Flanke ebenso aus wie ihre Vorgänger. Was ist von einer islamistischen Exekutive in Damaskus zu erwarten, die von ihrem Selbstverständnis her gar nicht anders kann, als sich durch erklärte Feindschaft gegenüber Israel zu legitimieren?Eine vorwiegend von sunnitischen Radikalen gebildete Regierung könnte eine Rückgabe des Golan entschlossen angehen und die Türkei um Beistand bitten, zumal alle von der HTS bis zu der im Norden stehenden nicht-islamistischen Syrischen Nationalarmee als Protegés von Recep Tayyip Erdoğan gesiegt haben.Dessen Parteinahme im Gaza-Krieg zugunsten der Palästinenser wie das Sponsoring für den Regimewechsel in Syrien bedienen regionalmächtige Ambitionen, für die Gegnerschaft zu Israel ein relevantes Motiv ist. Man denke an die Erdoğan-Rede auf der diesjährigen UN-Generalversammlung, als der Satz fiel: „So wie Hitler vor 70 Jahren durch die Allianz der Menschheit gestoppt wurde, so müssen auch Netanjahu und seine Mörderbande durch die Allianz der Menschheit gestoppt werden.“Assads Sturz ist voller Gelegenheiten für die TürkeiDer russische Präsident Wladimir Putin dürfte sich des türkischen Geltungswillens sehr wohl bewusst sein. Der ließ ihn im Blick auf Syrien die Prioritäten anders setzen, verglichen mit dem Jahr 2015, als Russland dort militärisch einzugreifen begann. Wenn dem Ukrainekrieg Vorrang gebührt – und wie sollte es anders sein? –, dann gilt dies gleichermaßen für das taktische Kalkül, wegen dieses Krieges Erdoğan als Vermittler zwischen Kiew und Moskau nicht zu brüskieren, sprich: Assads Leben, nicht aber dessen Macht zu retten.Erdoğans Ziele in Syrien sind von solch gravierender Bedeutung, dass es der Führung in Moskau vermutlich schlecht bekommen wäre, ihm in die Parade zu fahren. Ankara will seinem sunnitischen Regime ein ebensolches in Damaskus an die Seite stellen. Konfessionelle Homogenität werde regionale Hegemonie stützen, so die Erwartung.Zugleich bietet der Assad-Sturz die Gelegenheit, Anti-Assad-Kräfte gegen die kurdische Selbstbestimmung im Nordosten Syriens (Rojava) zu schicken. Für sie stand ein Burgfriede mit Damaskus in Aussicht, bis die Regierungsarmee kapitulierte und die Syrische Nationalarmee aufmarschierte, um zu Wochenbeginn die kurdische Stadt Manbij unter ihre Kontrolle zu bringen. Schließlich verheißt Assads Abtritt einen Abbau gegen Syrien gerichteter Sanktionen. Es würden ökonomische Barrieren für die Rückkehr eines Teils der drei Millionen syrischen Flüchtlinge aus der Türkei fallen. Sie zurückzuführen, war ein Wahlversprechen Erdoğans, als er sich 2023 zum dritten Mal um das höchste Staatsamt bewarb.Ende des einzigen laizistischen Systems im arabischen RaumVieles spricht dafür, dass Baschar al-Assads Machtbonus schlagartig aufgezehrt war, als ihn mit Russland und dem Iran die wichtigsten Alliierten nicht mehr halten konnten – oder wollten. Die Kriege in der Ukraine wie im Libanon verhinderten, dass ihm Ressourcen zugutekamen, die seine Streitkräfte hätten schützen können. Nicht auszuschließen, dass ihn die Armeeführung und das Regierungslager um Premier Mohammed al-Dschalali zur Demission nötigten, weil sie in seiner Person das größte Hindernis sahen, um die innere Selbstzerfleischung zu beenden und mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Solange Assad Staatschef blieb, war kaum damit zu rechnen, den Sanktionen zu entkommen.Nichts davon ist erwiesen, aber die übergangslose Selbstaufgabe einer nach 14 Bürgerkriegsjahren gewiss zermürbten Armee musste erstaunen. Keine Frage, mit dem Ende des Assad-Regimes gerät die Geschäftsordnung eines multikonfessionellen und multiethnischen Staates in Gefahr. Unbestritten ließen die Jahre des Sterbens und der Zerstörung seit 2011 nicht viel davon übrig.Placeholder image-2Doch die Verfassung schreibt weiter ein laizistisches System fest, eine Ausnahme im arabischen Raum. Die islamistischen Eroberer werden das zu korrigieren suchen und auf den Widerstand von Alawiten, Kurden, Drusen und Christen stoßen, die ein existenzielles Interesse daran haben, dass Dschihadisten kein syrisches Kalifat errichten, wie das der IS 2014 versucht hat.Russland, Trump und die Post-Assad-ÄraRussland wird sich mit der Post-Assad-Ära arrangieren wollen. Gelten geschlossene Verträge für den Marinestützpunkt Tartus am Mittelmeer und die Luftwaffenbasis Hmeimim bei Latakia? Was wird mit dort stationierten Militäreinheiten? Es war ja vor allem die russische Luftwaffe, die ab 2015 einen Durchmarsch des Westens und der teilweise mit ihm verbündeten Dschihadisten verhinderte, weshalb der Konflikt auch als „Stellvertreterkrieg“ zwischen dem Westen und Russland oder den USA und Russland gesehen wurde.Nehmen wir an, dass die Präsidentschaft von Donald Trump in dieser Hinsicht ihre Schatten vorauswirft, so erscheint die Annahme plausibel, dass es mit Moskau einen Deal gegeben haben könnte: Ihr überlasst uns Syrien, und wir verzichten im Gegenzug auf das bisherige Ausmaß unseres Ukraine-Beistands und unterstützen eine politische Lösung, die eure strategischen und territorialen Interessen respektiert. Gab es ein informelles Agreement dieser Art, dann nicht ohne die Türkei, schon gar nicht ohne Israel, das in der gewaltsamen Neuordnung der Region seit dem 7. Oktober 2023 weit vorangekommen ist.Erinnerungen an Bagdad 2003: Eine WarnungWie sich die Bilder und Botschaften gleichen. Als US-Truppen am 9. April 2003 in Bagdad einrückten, wurde ein überlebensgroßes Monument von Diktator Saddam Hussein geschleift, Iraker jubelten und schwenkten Fahnen, das Nationalmuseum wurde geplündert. Als am 8. Dezember 2024 die HTS-Milizen in Damaskus stehen, wird ein Denkmal für Hafiz al-Assad, den Vater des bisherigen Präsidenten, niedergerissen. Syrer jubeln und schwenken Fahnen, die Nationalbank wird geplündert, der Präsidentenpalast gestürmt. Einstürzende Altbauten einst wie jetzt. Symbolik vermag vieles, aber sie schafft nicht alles.Der Irak verfiel noch 2003 dem Horror eines Besatzungskrieges. Die schiitische Mehrheit und die zuvor privilegierte sunnitische Minderheit standen sich vielerorts unversöhnlich gegenüber. Das amerikanische Militär wirkte überfordert. Wohin wird es Syrien treiben? Was sich angestaut hat über die Jahrzehnte an Hass, Wut und gegenseitiger Verachtung lässt sich nicht mit Versöhnungsappellen, von wem auch immer, auffangen. Damit wird weiterhin Politik gemacht.