Auf Tiktok trendet ein Lied, in dem zwei junge Mädchen den „Sigma Boy“ besingen, eine maskulinistische Fantasie, die bisher vor allem neurechte Incels verbreiteten. Der Song kommt ausgerechnet aus Russland. Zufall?
„Sigma Male“-Vorbild Patrick Bateman (Christian Bale) beim Workout in „American Psycho“
Foto: United Archive/Imago Images
Wo Popmusik richtig wirkt, ist immer ein Ohrwurm am Werk. Das wäre die wohlwollende Erklärung für das neue Tanz-und-Song-Wunder, das binnen weniger Tage die ForYouPages von Millionen von Tiktok-Nutzern geflutet hat: der Sigma Boy Song. Performt wird er von der gerade einmal elfjährigen Betsy und der zwölfjährigen Marija Jankowskaja.
Das Besondere: Der Song, der seit wenigen Tagen auch in Deutschland Platz 1 der „Viral Charts“ auf Spotify belegt, stammt aus Putins Russland. Und das, obwohl sich viele Streaminganbieter nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vom russischen Markt zurückgezogen haben. Ein Novum also – wie konnte das geschehen?
Die Antwort ist schnell gefunden, zugespitzt gesagt: Tiktoks Algorithmus liebt tanz
in Novum also – wie konnte das geschehen?Die Antwort ist schnell gefunden, zugespitzt gesagt: Tiktoks Algorithmus liebt tanzende Teenager-Mädchen, er liebt griffige Songzeilen, die zum Nachsingen geeignet sind. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die ganze liegt im Gegenstand des Songs verborgen: dem Sigma Boy.Den besingen die beiden minderjährigen Mädchen als Jungen, „mit dem alle Mädchen tanzen wollen“, den aber nur sie zu lieben, das heißt zu bekommen und zu zähmen, wissen. Denn der Sigma Boy ist ein besonderer Boy. Er ist die jugendliche Variante des sogenannten Sigma Male, der seit circa 2021 vor allem in maskulinistischer Internetkultur und unter neurechten Incels als Meme kursiert.„Sigma Male“ war eigentlich ein Begriff für SchimpansenDort wird er oft als einsamer, muskulöser Wolf dargestellt. Als starker, selbstbewusster, aber introvertierter Mann, der bei Frauen beliebt ist, weil er ihnen die kalte Schulter zeigt. Und auch sonst dadurch auffällt, außer sich selbst kaum jemandem Beachtung zu schenken. Als Vorbild gilt in Memes oft der fiktive Serienmörder Patrick Bateman aus dem Roman und Film American Psycho. Der Begriff Sigma Male geht zurück auf eine sozialdarwinistischen Ordnung, die vom holländischen Primatologen Frans de Waal in den 1980er-Jahren bei Schimpansen festgestellt wurde.Für neurechte Männerhelden, wie den Influencer und mutmaßlichen Sexualstraftäter Andrew Tate oder den Psychologen und Incel-Papst Jordan B. Peterson, gilt die Typologie von Alpha-, Beta-, Gamma-, Omega- und Sigma-Männern aber vor allem als Grundmodell ihrer biologistischen Gesellschafshierarchie, an deren Spitze von Natur aus Alpha- und Sigma-Männer residieren.Das Feld neurechter Träumereien und Trends war also schon bestellt, als die beiden russischen Mädchen mit ihrem Ohrwurm darin zu graben begannen. Dementsprechend fallen auch die Tiktoks aus, die dem Song zur Verbreitung verhelfen. Zu sehen sind dort männliche Teenager, die in Innenstädten, U-Bahnen oder ihrem Klassenzimmer tun, was so ein Sigma eben tut: Sie nerven ihr Umfeld mit dröhnend lauter Musik (dem Sigma Boy Song), bleiben dabei betont cool und stellen sich vermeintlich über den sozialen Standard.Deutsche TikToker pushten „Sigma Boy“ in den hiesigen MarktDabei ist es insbesondere der deutsche Tiktoker Streichbruder, der dem Song mit seinen kurzen Clips zum viralen Durchbruch verhalf. So gelang es dem Lied aus dem eigentlich ausgesperrten russischen Markt, hierzulande viral zu gehen. Aber auch die Berliner Sängerin Lavina und ihr Produzent Ely Oaks verhelfen dem Song derzeit zu seinem Momentum. In ihrer Cover-Version, die Lavina gerade mit dutzenden Videos auf Tiktok pusht, versucht die Sängerin sich an einer feministischen Subversion. Auf Englisch singt sie: „Sigma Boy, I just wanna play with you, ‘cause you’re my favorite toy“.Die Stärke des ursprünglichen Songs aber, sein eingängiger Refrain, zusammen mit dem Eurodance-Beat, bleibt unverändert – der Ohrwurm bleibt der gleiche. Jetzt könnte man sagen: Wo so ein Ohrwurm gräbt, entsteht auch ein Tunnel, der befüllt werden kann. Im Fall des Sylter Skandal-Videos war es Gigi D’Agostinos L’Amour toujours, das den Weg in die Gehirne freischaufelte, damit Rechtsextreme dort ihre Agenda platzieren konnten. Welche Botschaft die beiden russischen Mädchen womöglich in Umlauf bringen wollen, zeigt ein Blick auf den Medienapparat, der sie hervorgebracht hat.Sängerin Betsy heißt eigentlich Swetlana Tschertischtschew und ist die Tochter des russischen Komponisten Michail Wiktorowitsch Tschertischtschew. Der wiederrum produzierte Sigma Boy zusammen mit dem Soft-Rocker Mukka. Preisgekrönt wurde der Song in der Musiksendung Superlikeshow des russischen Kindersenders CTC Kids. Der ist Teil der Mediengruppe CTC Media und damit der Nationalen Mediengruppe. Geleitet wird die von Alina Kabajewa, ehemalige Olympiasiegerin, frühere Duma-Abgeordnete für Putins Partei Einiges Russland und laut Medienberichten seit einigen Jahren auch die Geliebte des russischen Terrorherrschers.„Sigma Boy“ ist eine Produktion des russischen PropagandaapparatsZu politischen Botschafterinnen des Kremls macht das die beiden Mädchen noch nicht. Aber zum Vehikel russischer Softpower, einer weniger direkten Meta- und Kulturpolitik. Die zeichnet sich eben nicht durch militaristische Parolen wie im Fall des Krieges gegen die Ukraine aus, sondern durch den globalen Support autoritärer Bewegungen und ihrer Weltbilder. Oder anders gesagt: Auch Putin wird in Memes oft zum ultimativen Sigma Male stilisiert. Eine Entsprechung, die dem Paria des Westens durchaus gefallen dürfte.Betsy und Marija bedienen somit als lasziv auftretende Kinderstars auf der Schwelle zum Erwachsenwerden nicht nur die Perversionen von Plattformaffekten und neurechten Maskulinisten. Sie sind Ausdruck eines russischen Propagandasystems, das vor allem Kinder und Jugendliche indoktriniert.Als Teenie-Idole wirken sie fast wie zeitgenössische Wiedergängerinnen des 2000er-Pop-Duos t.A.T.u. Nach internationalem Erfolg wurden auch die zu Instrumenten der Kreml-Propaganda. Das Provokationspotential von „Sigma Boy“ aber steckt nicht mehr in lesbischen Küssen, sondern in Retro-Beats und der Transgressionslust pubertärer Jungs – oder von Männern, die für immer welche bleiben, ob in Russland oder dem Westen.