Gerne wird behauptet, dass Assads Regime immerhin die Minderheiten in Syrien schützte und für Stabilität sorgte. Warum diese Erzählung ein Märchen ist – und in welcher Situation sich Kurden, Sunniten, Alawiten und Frauen befinden


Ein zerfetztes Porträt von Baschar al-Assad auf dem Boden seines Präsidentenpalasts in Damaskus (10.12.2024)

Foto: Ali Haj Suleiman/Getty Images


Das Assad-Regime ist Vergangenheit. Doch noch immer hält sich die Erzählung hartnäckig, Assad habe zumindest eine laizistische Ordnung gewahrt und Minderheiten geschützt. Dabei gibt es nur wenige vergleichbare, zeitgenössische Regime, die so erbarmungslos mit der eigenen Bevölkerung umgegangen sind, wie es der Assad-Clan in mehr als einem halben Jahrhundert getan hat. Hinter der vermeintlichen Stabilität verbarg sich Unterdrückung – auch von Minderheiten. Jetzt, mit der Machtübernahme der syrischen Opposition, die sich aus gemäßigten Parteien, Menschenrechtsgruppen, Rebellen und Islamisten zusammensetzt, stellt sich die Frage: Wie geht es für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen weiter? Welche Gefahren, welche Chan

lche Chancen ergeben sich für wen in Syrien? Ein kleiner Einblick.Im Mittelpunkt politischer Debatten steht derzeit der Konfessionalismus in Syrien, also die Feindschaft zwischen den vielen religiösen, aber auch ethnischen Gruppen. Mit Blick auf die Geschichte des Landes wäre in dieser Hinsicht allerdings ein anderer Begriff angemessener: Sektarisierung. Angefangen hat das aktive gegeneinander Ausspielen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen im ganzen Nahen Osten mit dem europäischen Kolonialismus, der im fragilen Umfeld des zusammenfallenden osmanischen Reichs an Einfluss gewinnen wollte. Vor allem Frankreich und Großbritannien suchten sich aktiv bestimmte Eliten aus Minderheiten oder Mehrheiten aus und versprachen ihnen das Blaue vom Himmel, wenn sie mit dem Kolonialherr kooperieren würden. Das Assad-Regime, maßgeblich in Großbritannien gewachsen und sozialisiert, kopierte diese Strategie und wendete es über seine Baath-Partei auf das zeitgenössische Syrien an. Sunniten, Schiiten, Alawiten, KurdenMehr als fünfzig Jahre wurde vor allem die sunnitische Mehrheit in Syrien vom Regime unterdrückt. Die Assad-Familie gehört der schiitischen Sekte der Alawiten an, die auch christliche Elemente in ihrer Glaubenspraxis pflegt. Alawiten machen rund ein Zehntel der Bevölkerung aus und leben vor allem im Westen Syriens entlang der Mittelmeerküste und in der Hauptstadt Damaskus. Geprägt war die blutige Regentschaft der Assads von unverhohlener Korruption, die die eigene Bevölkerungsgruppe in allen Bereichen bevorzugte. Trotz dieser autokratisch legitimierten Privilegien wurden vor allem in den vergangenen Jahren immer mehr kritische Stimmen unter den Alawiten laut, dass dieses Modell nicht nachhaltig sei. Die desaströse wirtschaftliche Lage im Bürgerkrieg traf auch die obersten zehn Prozent.Wichtig ist: Über ethnische oder religiöse Definitionen lassen sich keine „guten“ oder „bösen“ Akteure in Syrien ausmachen. Einzelne sunnitische Gruppierungen haben sich seit Ausbruch der Revolution im März 2011 teilweise terroristischen Netzwerken wie al-Qaida oder dem sogenannten Islamischen Staat angeschlossen, der wiederum im Kontext der US-amerikanischen Besatzung des Iraks gedeihen konnte. Viele aus dem sunnitischen Spektrum sind Teil der gemäßigten Opposition. Einige kurdische und christliche Führer haben sich derweil strategisch dem Assad-Regime angeschlossen. Loyalität gegen Schutz hieß hier die Devise.Diese Minderheiten haben teils aus Pragmatismus, teils aus ideologischer Überzeugung in der Diktatur mitgemacht. Damit haben sie sich durchaus verantwortlich gemacht für Folter, völkerrechtswidrige Kriegsführung und Unterdrückung der Menschenrechte. Im Rahmen einer möglichen Aufarbeitung der jüngsten syrischen Geschichte könnte es deswegen zu großen Konflikten kommen, wenn in allen Bevölkerungsgruppen Täterschaften festgestellt und aus allen Bevölkerungsgruppen Rechenschaft verlangt wird. Syrien hat ungewisse und fragile Jahre vor sich. Die internationalen Akteure: Russland, Libanon, Israel, USA, Türkei – Saudi-Arabien und die EUIn Syrien haben sich in den vergangenen zehn Jahren zudem unzählige Akteure breit gemacht und sich in einem internationalisierten Bürgerkrieg bekämpft. Die Konflikte dieser Welt wurden auf Syrien projiziert, das als Labor von Großmächten missbraucht wurde.Die vertrackte Lage zeigt sich in diesem erstaunlichen Auszug einer Auflistung, wer alles die Finger im Spiel hatte: Wladimir Putin, getrieben von seinem expansionistischen Imperialismus; das iranische Mullah-Regime im Rahmen seiner Strategie, den Nahen Osten zu dominieren; die terroristische Hisbollah aus dem Libanon, um den Einfluss im Nachbarland auszubauen; die rechtsextreme Regierung in Israel, mit dem Argument der „Vorwärtsverteidigung“ und der Sicherung der 1967 besetzten und 1981 völkerrechtswidrig annektierten Golanhöhen an der syrisch-israelischen Grenze; die USA über ihre kurdischen Partner im Norden und Osten Syriens, im sogenannten Kampf gegen den Terror; das Regime von Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, das sich vor allem auf die Unterdrückung teils rivalisierender kurdischer Gruppen im eigenen Land und in Syrien und die Abschiebung von rund drei Millionen Geflüchteten Syrer*innen konzentriert.Es kommen noch weitere regionale Player dazu: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar zum Beispiel. Die Europäische Union, darunter auch Deutschland, engagierte sich ebenfalls in Syrien vor allem im Kampf gegen den Dschihadismus. All diese Interessen liegen auf dem befreiten Syrien wie eine Bürde: Wer von diesen Akteuren wird seine eigenen Belange hinten anstellen, um eine Befriedung zu fördern? Mit Blick auf den politischen Egoismus und die ideologische Durchtränkung der internationalen Politik scheint dies aber ein weiterer großer Unsicherheitsfaktor zu sein.An einigen Stellen erscheinen die Projektionen von außen etwas absurd: Für Rechtsextreme in Europa, insbesondere für die AfD in Deutschland, war das Assad-Regime ein natürlicher Verbündeter. AfD-Politiker*innen huldigten in Damaskus mehrfach der Diktatur. Galt der Assad-Clan mit seinen unmenschlichen Methoden doch als Vorbild für die völkischen Rattenfänger Europas, aber vor allem als Inspiration im rassistisch durchtränkten Kampf gegen „den Islam“. In dieser Hinsicht ist es wichtig, in Diskussionen rund um die Zukunft Syriens diese Perspektive als getrübten Blick auf das Land zu entlarven und abzulegen.Warum Frauen auch unter Assad nicht sicher warenEinige Stimmen fragen nun nach den Frauenrechten unter einer neuen Führung in Syrien. Die Sorge besteht darin, dass ein sunnitisch geprägtes Syrien etwa einen Kopftuchzwang einführen könnte. Da dies allerdings eine iranische Spezialität ist und der Iran in Syrien von vielen als Erzfeind betrachtet wird, scheint es nicht ausgeschlossen, dass es eher in die andere, liberalere Richtung gehen könnte. Was viele allerdings bei dieser Debatte verkennen: In den vergangenen fünfzig Jahren wurden Frauenrechte vom Assad-Regime als Propagandamittel missbraucht, während Frauen in Syrien selbst kontinuierlich missbraucht wurden. Menschenrechtsorganisationen haben seit Beginn der syrischen Revolution unzählige Fälle von Unterdrückung, Inhaftierung und Ermordung von Frauenrechtlerinnen dokumentiert. Frauen wurden in den Foltergefängnissen des Landes eingesperrt, vergewaltigt oder sind spurlos verschwunden. Die größte Gefahr für Frauen in Syrien verkörperte bis vor wenigen Tagen ausgerechnet eine Frau, die den Westen in Syrien vertrat: Asma al-Assad, die Ehefrau des gestürzten Langzeitdiktators Baschar al-Assad. Sie ist britische Staatsbürgerin, in London aufgewachsen, hat dort studiert und zeitweise für die Deutsche Bank gearbeitet, mit der deutschen Beratungsfirma Roland Berger kooperiert. Für viele Frauen in Syrien stehen „westliche Werte“ für die Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit, für die Zerschlagung von Menschenrechtsbewegungen und Bombardierung von Zivilist*innen – unter ihnen eben auch Frauen – mit Fassbomben aus der Luft. Asma al-Assad fasziniert(e) mit ihrem Mailänder Chic viele Menschen im Westen, in Syrien steht sie für die femonationalistische Komplizenschaft in Sachen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diaspora in Deutschland: Eine wichtige Rolle für die Zukunft SyriensIn Syrien funktionieren daher vorurteilsgeleitete Schablonen von eurozentrischer Zivilisation und nahöstlich geprägter Diktatur nicht, man kann Minderheiten und Mehrheiten nicht gegeneinander ausspielen: weil sie zugleich Opfer und Täter waren.Hierzulande hat es nach dem Sturz des Assad-Regimes noch nicht mal 24 Stunden gedauert, bis eine erbarmungslose Diskussion rund um Abschiebungen entfacht wurde. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verlieh seinem menschenrechtsverachtenden Image Nachdruck, indem es die Bearbeitung von Asylanträgen von Syrer*innen sofort pausierte. Vor allem die syrische Diaspora wurde somit stark verunsichert.Dabei könnte gerade sie bei der Demokratisierung Syriens eine wichtige Rolle spielen. In dieser vom deutschen Wahlkampf geprägten Gemengelage mischten sich auch Stimmen, die egoistisch Partikularinteressen vertreten, es nicht ausgehalten haben, den Syrer*innen einen Moment die schmerzvoll errungene Befreiung zu gönnen. Dabei würde es sich lohnen, sich mit der Geschichte Syriens und den Realitäten im Land auseinanderzusetzen, die Komplexität und potenziellen Gefahren nicht zu negieren und dem befreiten Syrien unter die Arme zu greifen.



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Von Veritatis

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