Viele halten Sexismus und Misogynie im Literaturbetrieb für überwunden. Nicole Seifert zieht am Ende dieses Jahres eine ernüchternde Bilanz: Der Backlash hat längst begonnen


Wer hat Angst vor Ruth-Maria Thomas, Virginia Woolf, Han Kang, Ingeborg Bachmann, Martina Hefter und Luise Büchner?

Fotos: dpa, Imago Images, Getty Images, Ullstein


In den fünf Jahren, die ich jetzt mit dem Thema Literatur von Frauen unterwegs bin, habe ich in vielen Interviews und bei zahlreichen Veranstaltungen darüber gesprochen, wie es kommt, dass Autorinnen dem Vergessen überlassen wurden und werden, warum so viele ihrer Werke unbekannt sind, darüber, dass das mit der viel beschworenen Qualität ihrer Texte nichts zu tun hat, sondern mit Vorannahmen und Geschlechterklischees.

Dabei habe ich sehr viele positive Erfahrungen gemacht. Studierende haben mir erzählt, dass sie sich nach Lektüre von Frauen Literatur ein neues Thema für ihre Abschlussarbeit gesucht haben, Lehrende, dass sie ihre Seminarpläne geändert haben, um Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, Schüler*innen und Eltern, dass sie an

Eltern, dass sie an ihren Schulen die Pflichtlektüren problematisieren und Alternativen von Frauen und Queers vorschlagen, ich habe Dank und Zuspruch von Leser*innen und Autorinnen bekommen.Aber ich habe auch andere Erfahrungen gemacht, sehr ähnliche, wie sie die vielen Schriftstellerinnen machten, über die ich schreibe: dass meine Arbeit belächelt und abgetan wird, dass diese unliebsamen und schmerzhaften Themen abgewehrt werden, ohne dass inhaltlich näher auf sie eingegangen würde. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Wunsch besteht, Interviews und Veranstaltungen zum Thema auf einer positiven Note zu beenden, damit, dass heute ja nun alles besser ist, dass es diesen Sexismus, diese Misogynie nicht mehr gibt.Ich sage dann meistens drei Dinge:1. Autorinnen von heute erzählen mir immer wieder, dass sie die Abwertungsmechanismen sehr gut kennen, von denen beispielsweise die Autorinnen der Gruppe 47 berichtet haben. Dass sie heute noch dasselbe erleben.2. Ja, Autorinnen sind heute präsenter als noch vor einigen Jahren. Aber das wird als Mode wahrgenommen, als Trend, und Trends gehen vorbei. Wie die Zeiten, in denen es mit dem Feminismus voranging, historisch immer von einem Backlash abgelöst wurden.3. Dieser Backlash ist weltweit im vollen Gange. Gewalt an Frauen und Femizide nehmen in beängstigendem Ausmaß zu, Frauenrechte, die Menschenrechte sind, werden beschnitten. Und der Literaturbetrieb ist aufs Ganze gesehen nicht progressiver als der Rest der Gesellschaft, er ist Teil von ihr.Heute möchte ich etwas darüber hinausgehen und genauer hinsehen, weil mir dieses Feld viel darüber auszusagen scheint, wo wir gerade stehen als Gesellschaft, zwischen Fortschritt und Backlash. Und darüber, wie wichtig die Arbeit derjenigen ist, die immer noch und gerade heute für Geschlechtergerechtigkeit kämpfen.Irritierte Männer in den Verlagen und Chefetagen: Sitzen etwa überall Frauen hinter den Türen?Herbst 2024. Zur Frankfurter Buchmesse macht die Literaturbeilage der Süddeutschen Zeitung mit einem Artikel auf, in dem behauptet wird, Männer kämen „in den Büchern erfolgreicher Autorinnen“ „fast gar nicht mehr vor“. Auch würden neuerdings viel mehr Frauen als Männer Bücher kaufen. In einem – Zitat – „von Frauen dominierten Literaturbetrieb sprechen die Autorinnen als Frauen zu Frauen und werden dafür großzügig mit dem Lorbeer bedacht, den dieser Betrieb zu vergeben hat: mit Preisen, Bestenlisten-Platzierungen, Aufenthaltsstipendien in Rom und Paris“.Als Mann hätte man in Verlagen und Chefetagen „bisweilen das Gefühl, sich in der Tür geirrt zu haben“, weil dahinter überall Frauen säßen. – Eine interessante Implikation, dass man sich als Mann wohl in der Tür geirrt hat, wenn dahinter nicht auch ein Mann sitzt. Das sind im Jahr 2024 nicht nur höchst irritierende Prämissen, es stimmt, wie meine Recherche ergibt, tatsächlich kaum etwas an dem Artikel.Bücher werden schon seit sehr langer Zeit überwiegend von Frauen gekauft, das ist überhaupt nichts Neues. Männer kommen sehr wohl vor in den Büchern der derzeit erfolgreichen Autorinnen, von Martina Hefter über Ruth Maria Thomas bis Han Kang, und die Reihe wäre beliebig erweiterbar. Auch in den Chefetagen, Verlagsvorschauen und bei Literaturpreisen ist es keineswegs so, dass die Männer „fast gar nicht mehr vorkommen“. Die bekanntesten Belletristikverlage werden derzeit zu gleichen Teilen von Männern und Frauen geführt. Auch das Geschlechterverhältnis in den literarischen Programmen dieser Verlage ist aktuell unterm Strich ausgeglichen. Hier scheinen für den Moment gleiche Chancen zu herrschen. Und im Bereich der Literaturpreise, dort, wo Wert zugeschrieben wird, also in dem Bereich, der langfristig am relevantesten ist? Ich habe mir die aktuellen Preisträger*innen der zwölf größten bei uns wahrgenommen Literaturpreise angesehen, national wie international. Das Ergebnis in diesem Jahr: genau ausgeglichen.Frauen sind also keineswegs im Vorteil, sie haben nicht übernommen, die Männer drohen nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Der SZ-Artikel beruft sich nicht auf Zahlen und Fakten, weil die etwas anderes sagen würden als die gefühlte Wahrheit des Redakteurs. Nur ist die falsch und hat eben mehr mit Gefühlen als mit Wahrheit zu tun. Sie kennen vielleicht die Studie der Universität Cambridge, die gezeigt hat, dass Männer in Gesprächsgruppen schon das Gefühl haben, Frauen würden mehr reden als sie, wenn die tatsächlich ein Drittel der Redezeit hatten – die Männer also doppelt so viel geredet haben wie sie. Das hat damit zu tun, was wir gewöhnt sind und was wir für richtig halten, mit den unterschiedlichen Erwartungen an Männer und Frauen und Vorannahmen darüber, wer was „darf“ und wer nicht – und das ist die Definition von Sexismus.Es scheint in den genannten Bereichen für den Moment, rein numerisch, Gleichberechtigung zu herrschen. Aber da diese Gleichberechtigung von federführenden Männern als Ungerechtigkeit wahrgenommen wird, greift sofort das, was ich in meinem Buch Frauen Literatur historisch aufgezeigt habe: die Abwertung weiblichen Schreibens. Zum Beispiel die Behauptung, Frauen bekämen die Preise nur, weil sie Frauen sind. Als Han Kang in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur erhielt, war zu lesen von einem „Nobelpreis zweiter Klasse“. Dass sie den Preis bekommen habe, hätte „außerliterarische Gründe“, denn das Komitee versuche immer noch, die Quote zu verbessern. Han Kang ist in über 120 Jahren Nobelpreis die 18. Frau, die ihn erhält. In den letzten Jahren ging der Preis abwechselnd an Männer und Frauen, nicht ein einziges Mal an zwei Frauen hintereinander. Aber erst, wenn das genauso normal wäre, wäre in diesem Bereich wirklich Gleichberechtigung erreicht.Virginia Woolf wusste: Noch interessanter als die Emanzipation ist die Geschichte des männlichen Widerstands dagegenAls Martina Hefter in diesem Jahr der Deutsche Buchpreis zugesprochen wurde, stürmte ein anderer Shortlist-Autor unter wüsten Beschimpfungen der Jury aus dem Saal. Er war der Meinung, der Preis hätte ihm zugestanden, in ein paar Jahren werde man sich wundern, was da passiert sei. Eine große Zahl von Feuilletonisten sprang ihm bei. Die Argumente, die von ihnen bemüht wurden, lassen tief blicken: Der Roman des Autors sei viel länger. Er brauche das Geld. Sein Roman blicke „ins Herz der Finsternis“, während es in Martina Hefters Roman um Privates gehe.Keins dieser Argumente ist literarisch. Und es sind original dieselben misogynen Zuschreibungen zur Aufwertung männlicher und zur Abwertung weiblicher Literatur wie in den vorherigen Jahrhunderten. An der Stelle hat sich tatsächlich gar nichts geändert. Virginia Woolf hat in ihrem Essay A Room of One’s Own schon vor über hundert Jahren festgestellt, dass Kriege von der (männlichen) Literaturkritik als wichtiges Thema eingeordnet werden, während weibliche Erfahrungen als irrelevant betrachtet würden. Woolf war es übrigens auch, die gesagt hat, dass die Geschichte des männlichen Widerstands gegen die Emanzipation der Frauen noch interessanter sei als die Geschichte der Emanzipation selbst. Das ist es, was wir gerade erleben: Widerstand gegen Bestrebungen zur Gleichberechtigung, die eben alles andere als verankert ist. Deshalb stehen wir gerade an einem so entscheidenden Punkt.In welche Richtung es weltpolitisch geht, ist klar: International, auch bei uns, sind die Rechts-Außen-Parteien auf dem Vormarsch. Ihr erklärtes Ziel ist, das steht seit jeher ganz oben auf der rechten Agenda, die Beschneidung von Frauenrechten. Und wem der Zusammenhang zwischen der Behandlung von Künstlerinnen und ihrem Werk mit grundlegenden Menschenrechten etwas weit hergeholt scheint, dem möchte ich noch mal die Gewaltpyramide in Erinnerung rufen, die zeigt, wie eins auf dem anderen aufbaut, wie misogyne Überzeugungen, Lächerlichmachen und verbale Abwertung die Basis bilden für gewaltsame Übergriffe und Femizide, für die breite gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt an Frauen. Es hängt alles zusammen. Das ist der Kontext, das ist die Dimension.Luise Büchner bezeichnete „die Frauenfrage“ im 19. Jahrhundert als „eine der höchsten Culturfragen unserer Zeit“Schon Luise Büchner (1821 – 1877) hat „die Frauenfrage“ als „eine der höchsten Culturfragen unserer Zeit“ bezeichnet, die „mit allen Bestrebungen und Anstrengungen aufs innigste zusammenhängt, die zu einer Besserung des Volkswohles […] angestellt werden“. Was die Frauenfrage genau ist, das hat sich seit dem 19. Jahrhundert verschoben, heute geht es nicht mehr um das Recht auf Berufstätigkeit, auch nicht um das Wahlrecht, heute ist es vordringlich die Gewalt, der Frauen und Queers ausgesetzt sind. Daran, dass die Frauen- und Geschlechterfrage im Zentrum des gesellschaftlichen Wohls steht, hat sich nichts geändert. Deshalb kann ich nicht einstimmen in den Optimismus, der so gern möchte, dass jetzt alles gut ist. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass diese Arbeit, die der Luise-Büchner-Gesellschaft wie die aller Feminist*innen, immer noch nötig ist.Luise Büchner interessierte sich für Literatur und Politik und für das Feld, in dem sich beides trifft. Das verbindet mich mit ihr. Sie war Schriftstellerin und Journalistin, Pädagogin und Dozentin, Organisatorin und Verwalterin und hatte damit ein Berufsbild, das dem heutiger Schreibender in Deutschland durchaus ähnelt, in der Vielfältigkeit, in den Anforderungen, in den Notwendigkeiten. Sie war interessiert an Analyse und Aufklärung und wollte erziehend, bildend tätig sein, nicht umstürzend, wie Margarete Dierks in ihrem biografischen Essay behauptet. Bildung und Aufklärung, Sachlichkeit, das ist auch mein Ansatz – ich bin mir allerdings im aktuellen gesellschaftlich-politischen Klima nicht mehr so sicher, wie weit man auf diese Weise kommt.Und selbst Luise Büchner imaginierte gleichzeitig einen internationalen Frauenstreik – damals schien ihr das utopisch, inzwischen haben uns die Schweizerinnen vorgemacht, dass so etwas durchaus möglich ist. Eine von Luise Büchners Überzeugungen war es jedenfalls, dass Frauen sich zusammenschließen müssen, und auch darin stimme ich ihr zu. Allerdings braucht es auch die Männer. Viele haben längst angefangen zuzuhören, statt sich angegriffen zu fühlen, erkennen die historischen und aktuellen Gegebenheiten an und sind solidarisch, aber die Antifeministen werden gerade wieder lauter, nicht nur in der Politik.Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin, Herausgeberin der Reihe rororo Entdeckungen sowie Autorin der Bücher Frauen Literatur, Abgewertet. Vergessen, Wiederentdeckt sowie „Einige Herren sagten etwas dazu“, Die Autorinnen der Gruppe 47 (KiWi). 2024 erhielt sie den Luise-Büchner-Preis für Publizistik. Dieser Text ist die gekürzte Fassung ihrer Preisrede



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert