Mit scharfer Kritik und feinem Humor schreibt der amerikanische Schrifsteller Jake Lamar Kriminalromane. Dafür wird er in Frankreich verehrt, in den USA ist er fast vergessen. Endlich kann man ihn auf Deutsch lesen
Die Hauptfigur im Roman war einst „Black Panther“ und ist nun erzkonservativer Kapitalist
Foto: Sahak Muradyan/Getty Images
Mitten in der Nacht wird der Schwarze College-Dozent Clay Robinette von seinem Kollegen Reginald T. Brogus aus dem Schlaf geklingelt: In Brogus’ Büro am Afrikamerika-Institut liegt eine weiße Studentin – nackt und erwürgt. Das ist nicht das einzig Schockierende und Brisante an der Situation: Brogus war früher, Ende der 1960er Jahre, bei den Black Panthers aktiv – hochradikal und subversiv, für viele eher ein Terrorist denn ein Revolutionär.
Inzwischen – der Roman spielt im Februar 1992 – ist er allerdings ins andere Extrem verfallen: ein lautstarker Vertreter kapitalistischer Grundsätze, erzkonservativ und ultrapatriotisch, ein entschiedener Unterstützer von Clarence Thomas, der trotz Vorwürfen von sexueller Belä
r Belästigung gerade erst an den Obersten Gerichtshof der USA berufen wurde – eine Position, die Thomas bis heute innehat.Propagierte Brogus früher in seinem berühmt-berüchtigten militanten Manifest eine radikale „Blackness“ als Lebensstil und dass es keine Versöhnung zwischen Schwarz und Weiß gebe, nur erbarmungslose Rache – das Manifest sei eine sexbesessene Gewaltorgie gewesen, erinnert sich der Ich-Erzähler Clay Robinette –, so geht es ihm heute nur noch um eine einzige Farbe: um das Grün des Dollarscheins, darum, Geld zu verdienen um jeden Preis.Die Tote, so vermutet Reggie Brogus, wurde ihm von einer obskuren, hochgeheimen Regierungsorganisation untergeschoben, weil er im Besitz von Beweisen für die tatsächlichen Umstände der Ermordung von Martin Luther King sei. Die junge Studentin, Jennifer Wolfshiem – eine Weiße mit deutschen Wurzeln, die sich selbst Seeräuber-Jenny nannte –, wurde mit Brogus’ Hosenträgern in den Farben der US-Flagge erdrosselt. Bei ihr handelt es sich – das kann Brogus nicht wissen – um die ehemalige Geliebte Clay Robinettes.Es ist Robinette, der uns Leser:innen nun schildert, wie ausgerechnet sein ehemaliges Jugendidol ihn bittet, ihm zur Flucht zu verhelfen und außerdem den Mord an der jungen Frau aufzuklären. Robinette war früher ein mittelmäßiger Journalist, doch weil er für seine Artikel O-Töne fälschte, fiel er in Ungnade. Inzwischen gibt er an einer kleinen Uni in Ohio Kurse, passenderweise in „Creative Non-Fiction“. Das macht den Mittdreißiger nicht gerade zu einem vertrauenswürdigen Erzähler. Nur widerwillig gibt er nach und nach preis, wie er zu Jenny Wolfshiem stand, nie ist klar, ob er tatsächlich die Wahrheit erzählt oder die Geschehnisse nicht doch zu seinem Besten schönt.Das ist die Ausgangssituation für Jake Lamars wendungsreichen Kriminalroman, der innerhalb sehr weniger Tage spielt. In der Grundstruktur handelt es sich um einen Whodunit, gleichzeitig ist es eine bitterböse Gesellschaftssatire – vor dem ernsthaften Hintergrund der sich verschärfenden Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Weißen Anfang der 1990er Jahre: 1989 wurde die Vergewaltigung einer weißen Joggerin im Central Park in New York vier Schwarzen sowie einem lateinamerikanischen Jugendlichen angehängt – Donald Trump, zu jener Zeit noch Immobilienmakler, setzte damals eine äußerst hohe Summe als Kopfgeld auf die fünf aus und warb in ganzseitigen Zeitungsartikeln für die Wiedereinführung der Todesstrafe.In Brooklyn wurde ein Schwarzer Teenager von einem weißen Mob erschossen. Die Stimmung wurde zusätzlich dadurch angeheizt, dass im Jahr 1991 der Afroamerikaner Rodney King in San Francisco bei einer Verkehrskontrolle von Polizisten brutal zusammengeschlagen wurde. Lamars Roman ist wenige Wochen vor der Gerichtsverhandlung gegen diese angesiedelt, als allgemein noch von einer Verurteilung aller Beteiligten ausgegangen wurde. Als die Polizisten jedoch im März 1992 freigesprochen wurden, brachen in San Francisco Unruhen aus.Lamar fängt diese Stimmung des Übergangs ein: Die Aufbruchseuphorie der Bürgerrechtsbewegung Ende der 1960er Jahre ist mit dem Tod von Martin Luther King zerstoben. Anfang der 1990er ist davon nichts mehr zu spüren. Jeglicher Kampfgeist ist unpolitischer Bürgerlichkeit gewichen. Clay Robinette ist ein Beispiel dafür. Ihm geht es nur darum, ein möglichst bequemes Leben zu führen.Der Roman ist nicht nur eine Gesellschaftssatire, sondern auch ein beißender Campus-Roman, der insbesondere die Eitelkeiten und Konkurrenzkämpfe des universitären Mittelbaus sowie eine aufgesetzte und Fassade bleibende „political correctness“ der Studentenschaft überspitzt und äußerst amüsant aufs Korn nimmt. Der Autor weiß, wovon er da schreibt: Aufgewachsen in der Bronx, schrieb er nach einem Studium in Harvard mehrere Jahre für das Magazin Time. Inzwischen lehrt er Kreatives Schreiben in Paris.Das schwarze Chamäleon – im englischen Original If 6 Were 9 nach einem Song von Jimi Hendrix – ist bereits 2001 auf Englisch erschienen. Allerdings ist der Autor in den USA inzwischen fast vergessen, seine Bücher sind auf Englisch kaum noch erhältlich. Nur mit viel Mühe konnte Robert Brack, der Übersetzer des Krimis, den Roman im Original auftreiben, wie er in einem Nachwort schreibt. Auf Französisch hingegen sind fast alle Titel lieferbar. Denn in Frankreich wird Jake Lamar verehrt und in einem Atemzug mit den wichtigsten afroamerikanischen Krimiautoren der Gegenwart genannt: mit Chester Himes und Walter Mosley, mit Paula L. Woods, Barbara Neely und Valerie Wilson Wesley. In Frankreich erhielt er zudem für seinen Roman The Last Integrationist den Grand Prix für den besten ausländischen Thriller. Lamars aktuellster Krimi, Viper’s Dream, erschienen 2023, wurde 2024 mit dem Dagger Award der britischen Crime Writers’ Association für den besten historischen Kriminalroman ausgezeichnet.Das schwarze Chamäleon mag von 2001 sein, der Roman hat jedoch bis heute nichts an Aktualität und Brisanz verloren, greift er doch Themen von race und class so klug wie klarsichtig auf, um bürgerliche Scheinheiligkeit und Saturiertheit mit spitzem Witz zu entlarven.Das schwarze Chamäleon Jake Lamar Robert Brack (Übers.), Edition Nautilus 2024, 328 S., 22 €