Die Grünen waren einmal die Hoffung von Naturschützern. Aber heute ordnen sie alles der Energiewende unter. Die Zerstörung der Biodiversität steht nicht mehr in ihrem Fokus
Rotmilane sind für Windkraftbefürworter das Symbol eines überzogenen Naturschutzes
Fotos: Imago Images
Als die Grünen 1983 zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl antraten, habe ich sie gewählt, weil sie die einzige Partei waren, die Umweltschutz zu ihrem Kernthema erklärt hatte. Bei der kommenden Bundestagswahl werde ich sie zum ersten Mal seit über 40 Jahren nicht wählen. Weil Umweltschutz für mich immer noch ein Kernthema ist, für die Grünen jedoch nicht mehr.
Kurze Begriffsklärung: Ich rede von Umweltschutz im umfassenden Sinn des Wortes. Für mich steht „Umwelt“ für die Gesamtheit aller Lebensräume des Planeten, also Luft, Erde, Wasser mit allem, was darin und darauf fliegt, läuft, sprießt, schwimmt.
Wer sich jemals näher für Umwelt interessiert hat, weiß, dass man immer nur einen Teil von ihr
inen Teil von ihr im Blick behalten kann. Ich zum Beispiel beobachte seit vielen Jahren Vögel. Das sind nur ein paar hundert der über 120.000 Tier- und Pflanzenarten, die es allein in Europa gibt. Aber die Kenntnis dieses schmalen Ausschnitts reicht, Grundsätzliches zu begreifen: dass alle Arten in Gemeinschaften leben und dass es in diesen Ökosystemen keine Hierarchien gibt, weil jedes mit jedem verbunden ist und alle aufeinander angewiesen sind.Die moderne Umweltbewegung, aus der auch die Grünen hervorgegangen sind, hatte in ihren Anfängen deutliche Ähnlichkeit mit einem Ökosystem. Sie war ein loses Netz von Initiativen, die sich für verschiedenste Themen einsetzten – gegen Waldsterben und Atomkraft, für saubere Flüsse, die Sanierung von Altlasten und ökologische Landwirtschaft.Die meisten dieser Initiativen konzentrierten sich auf eher technische Aspekte des Umweltschutzes; wir Naturschützer hatten eher eine Randposition – sowohl in der Umweltbewegung als später in der grünen Partei. Aber wir fühlten uns in beiden gut aufgehoben, denn die neue Aufmerksamkeit für das Thema Ökologie gab auch unseren Anliegen Auftrieb.Als die Grünen 1998 mit in die Bundesregierung kamen, hatten wir Naturschützer zunächst die Hoffnung, dass der Verlust an Naturreichtum zumindest gebremst würde. Aber dazu kam es nicht. Die Vielfalt der Arten und Lebensräume ist weiter dahingeschmolzen; Gesetze und Richtlinien zu ihrem Schutz haben ihren Niedergang nur punktuell aufhalten können. Daran sind natürlich nicht allein die Grünen schuld. Die Ausbeutung von Natur ist eine der Triebfedern unseres Wirtschaftssystems, und die Lobbys der Natur-Nutzer sind bis heute ungleich stärker als diejenigen, die sich für ihren Schutz engagieren.Menschliche EingriffeNaturfreund*innen haben jedoch ein weiteres Problem, zu dem die Grünen zumindest beigetragen haben: Der klassische Umweltschutz hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend auf ein einziges Thema fokussiert. „Klimaschutz“ ist praktisch zum Synonym für „Umweltschutz“ geworden. Und der Schutz der Naturvielfalt ist in eine Nische geraten.Ich finde die Priorisierung des Klimaschutzes einerseits absolut nachvollziehbar. Denn die Folgen der Erderhitzung – Temperaturextreme, Ozeananstieg, Flutkatastrophen – sind dramatisch und schon jetzt unübersehbar für alle, die nicht bewusst wegsehen. Doch durch die Konzentration aufs Klima gerät die zweite globale Öko-Krise zunehmend aus dem Blick: die Zerstörung der Biodiversität, die bereits jetzt als sechstes Massensterben der Erdgeschichte gilt. Viele betrachten das Artensterben ausschließlich als Kollateralschaden der Klimakatastrophe. Das stimmt so nicht.Die meisten Arten und Lebensräume verschwinden bis heute durch direkte menschliche Eingriffe: Abholzung, intensive Landwirtschaft, Verschmutzung und Ausbeutung durch Jagd und Überfischung. Auch die Erzeugung erneuerbarer Energien bringt Eingriffe mit sich, die für die Biodiversität fatal sein können. So hat der staatlich geförderte Anbau von Energiepflanzen zu großflächigen Verlusten von artenreichem Grünland geführt. „Saubere“ Wasserkraft verwandelt dynamische Fließgewässer in Ketten ökologisch verarmter Stauseen; die Förderung von Rohstoffen für die Produktion grüner Energie verursacht, wie jede Form von Bergbau, Schäden an Landschaft und Grundwasser. Windräder schließlich sind ein oft tödliches Hindernis für Vögel ebenso wie Fledermäuse.Die Schäden durch die Anlagen sind gravierender, als die vergleichsweise geringen Opferzahlen vermuten lassen. Denn betroffen sind vor allem Arten mit niedrigen Fortpflanzungsraten, deren Populationen Verluste nur über lange Zeiträume ausgleichen können. Windräder haben außerdem starke Verdrängungseffekte; viele Tiere meiden ihre Nähe und verschwinden ganz, wenn sie in der Umgebung keine geeigneten Lebensräume finden.Es gibt durchaus Grüne, denen diese Zusammenhänge bewusst sind. Im Programm zur Bundestagswahl 2021 las ich, es gelte beim Windausbau „Konflikte mit Natur- und Artenschutz zu minimieren“ und durch „naturverträgliche Standortwahl“ den Schutz von Vögeln und Fledermäusen zu stärken. Im Koalitionsvertrag hielten die Ampelparteien fest, die Energiewende „forcieren“ zu wollen, aber nur „mit Rücksicht auf die Biodiversität“.Ich wurde rasch ernüchtert. Ich hätte wissen müssen, dass Wahl- und Koalitionsprogramme meist kurze Halbwertszeiten haben. Wenige Tage nach Amtsantritt forderte Sven Giegold, Staatssekretär im grünen Bundeswirtschaftsministerium, die europäischen Vogel- und Naturschutz-Richtlinien abzuschwächen. Seine Begründung: Der Schutz von Rotmilanen und anderen Arten gefährde den Ausbau der Windkraft und damit den Klimaschutz.Das ist Unsinn, wie jeder weiß, der mit Windkraft-Planung halbwegs vertraut ist; wie natürlich auch Giegold wusste, der sich als Europa-Abgeordneter noch vehement für den Erhalt der europäischen Naturschutzrichtlinien eingesetzt hatte. Dass er als Staatssekretär nun plötzlich einen Frontalangriff gegen ebendiese Richtlinien fuhr, war ein klares Signal, dass auch die grüne Führung eine 180-Grad-Wende vollzogen hatte: Von nun an würde sie den Naturschutz, bislang wesentliches Anliegen grüner Politik (zumindest auf dem Papier) nicht nur als nachrangig, sondern als Bremse der Energiewende betrachten. Und ihn entsprechend zurechtstutzen.Chronisch überlastetDas hat sie seitdem kräftig getan – trotz Protesten in den eigenen Reihen, ohne Rücksicht auf wissenschaftliche Expertise. Die es in puncto naturverträgliche Energiewende durchaus gibt: Seit Jahrzehnten beobachten Experten, wie vor allem Vögel und Fledermäuse auf Windräder reagieren; sie haben die Arten identifiziert, die wegen ihres Flugverhaltens besonders gefährdet sind, haben ermittelt, welche Abstände Anlagen zu Brut- und Rastplätzen einhalten sollten, um Kollisionen auf ein Minimum zu reduzieren. Die Einhaltung dieser Vorgaben in Planungsverfahren kostet natürlich Zeit und Geld. Aber wenn Naturschutz Windkraft „ausbremst“, liegt das vor allem daran, dass die Naturschutzbehörden, die Verfahren beaufsichtigen, chronisch überlastet sind. Gewissenhafte Planung spart dagegen Zeit, weil sie Rechtssicherheit schafft und langwierige Klagen vermeidet.Die grünen Bundespolitiker zogen es seit 2022 vor, die Energiewende durch Demontage des Naturschutzrechts zu beschleunigen. Sie öffneten Landschaftsschutzgebiete für den Windkraftausbau und schafften für Windkraft-Genehmigungsverfahren die Umweltverträglichkeitsprüfung ab, die feststellt, ob gefährdete Arten in der Nähe geplanter Anlagen vorhanden sind. Sie strichen die Liste „planungsrelevanter“ Vogelarten auf 15 zusammen und verkürzten die wissenschaftlich empfohlenen Mindestabstände zu Lebensstätten dieser Arten.Und weil dies alles mit den europäischen Naturschutz-Richtlinien kollidiert, setzten sich die Grünen auf EU-Ebene für eine Notfallverordnung ein, die diese Richtlinien für den Ausbau der Erneuerbaren weitgehend außer Kraft setzte. „Follow the science!“, das Credo der Klimaschutzbewegung – für den Naturschutz wurde es ohne viel Federlesens ad acta gelegt.Wer diese Entrechtung der Natur kritisiert, erntet oft genervte Reaktionen, nach dem Muster: ‚Willst du wirklich wegen ein paar Vögeln die Energiewende aufs Spiel setzen?‘ Mir sind solche Reaktionen nicht nur von Klimaschützern vertraut. Natur finden im Prinzip ja alle toll, aber sobald sie menschlichen Interessen im Weg ist – dem Bau neuer Verkehrswege, der maximalen Nutzung landwirtschaftlicher Flächen oder eben der Erzeugung grüner Energie – ist man als Naturfreund*in schnell in der Defensive. Und muss erklären, weshalb gerade diese Feuchtwiese oder Feldhecke, jener Wald oder Stadtteilpark unbedingt erhaltenswert und auch durch Ausgleichsmaßnahmen andernorts nicht zu ersetzen ist.Angriff auf meine ExistenzDie meisten Naturkundigen argumentieren dann mit dem messbaren Nutzen, den intakte Ökosysteme haben – für Wasserhaushalt, Luftreinheit, Bodenfruchtbarkeit und nicht zuletzt als CO₂-Speicher und Puffer für die Folgen des Klimawandels. Ich finde das alles unbedingt erwähnenswert. Aber wenn mich jemand fragt, weshalb mir, zum Beispiel, die Vögel so wichtig sind, habe ich eine schlichtere Antwort: Weil ich sie liebe. Weil ich sie schön finde. Weil ich mich den Vögeln und der Natur im Allgemeinen so verbunden fühle, dass ich ihre Schädigung auch als Angriff auf meine eigene Existenz empfinde. Und weil ich nach wie vor überzeugt bin, dass man unsere wunderbare Biosphäre nur als Ganzes erhalten kann: Wer nur aufs Klima guckt, wird am Ende auch das Klima nicht retten.Ich weiß, dass es auch unter grünen Politikern immer noch Leute gibt, die das ähnlich sehen. Zum Beispiel die EU-Abgeordnete Jutta Paulus, die sich für die EU-Renaturierungsverordnung eingesetzt hat. Oder Bundesumweltministerin Steffi Lemke, die mit ihren naturkundigen Staatssekretären das milliardenschwere „Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz“ angeschoben hat, das Ökosysteme wie Wälder und Moore stärken sowie Städte mit mehr Grün klimaresilient machen soll.Aber ob diese Programme – die wesentlich auf freiwillige Beteiligung setzen – jemals umgesetzt werden, ist fraglich. Denn mit den grün initiierten „Beschleunigungsgesetzen“ hat die Ampel der künftigen Bundesregierung eine Steilvorlage zur weiteren Entrechtung des Naturschutzes geliefert. Merz & Co. werden diese nutzen, um unter dem Motto „Bürokratieabbau“ nicht so sehr den Ausbau grüner Energie, als vielmehr die generelle Befreiung der Wirtschaft von lästigen Umweltvorschriften voranzutreiben.Wen soll ich nun am 23. Februar wählen? Wenn Umweltschutz mein einziges Anliegen wäre, müsste ich zuhause bleiben; keine der etablierten Parteien zeigt auf dem Gebiet Kompetenz oder auch nur Interesse. Es gibt natürlich noch andere Themen, die mir wichtig sind: Soziale Gerechtigkeit etwa, eine friedensorientierte Außenpolitik und der ökologische Umbau der Wirtschaft. Für all das werden die Grünen noch dringend gebraucht. Aber nicht in dieser Regierung. Eine Autorin des Spiegel, ebenfalls langjährige Grünen-Wählerin, hat kürzlich für mich einleuchtend begründet, weshalb sie die einstige Öko- und Friedenspartei in der kommenden Legislaturperiode lieber in der Opposition sähe. Opposition, schreibt Barbara Supp, sei nicht „Mist“, sondern vielmehr die Gelegenheit, sich auf seine Kernthemen zu besinnen. Wenn Ihr das schafft, liebe Grüne, bekommt Ihr auch meine Stimme wieder.Johanna Romberg hat unter anderem das Buch Federnlesen. Vom Glück, Vögel zu beobachten (Köln 2018) veröffentlicht