Bei der abgesagten Veranstaltung mit der UN-Sonderberichterstatterin für Palästina Francesca Albanese wiederholt sich ein Muster: Berliner Regierung und Medien bauen einen so hohen Druck auf, dass die Autonomie der Hochschule verletzt wird


Wie geht propalästinensischer Aktivismus, der Antisemitismus ausschließt? Die Einschränkung der Debatte an den Universitäten trägt nicht zur Klärung bei

Foto: Markus Schreiber / picture alliance


Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage wurde die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete Francesca Albanese „gecancelt“. Zunächst hatte die Ludwig-Maximilians-Universität München eine geplante Diskussionsveranstaltung mit ihr abgesagt. Als Gründe wurden Sicherheitsbedenken und ein drohender „Meinungskampf“ genannt, wahrscheinlich auch, weil der Veranstalter, die „Decolonial Practices Group“, als zu politisch und zu wenig wissenschaftlich galt.

Diese Flanke wollte eine Gruppe von Professor:innen der Freien Universität schließen. Denn auch sie wollten am 19. Februar mit Francesca Albanese diskutieren. Langfristig vorbereitet, in klar professoral-wissenschaftlichem Setting, in Absprache

Absprache mit der Hochschulleitung. Neben Albanese, die nicht nur international bekannte Anwältin der Rechte der Palästinenser*innen ist, sondern selbst promovierte Juristin und Expertin für Völkerrecht, sollte Eyal Weizman sprechen, Architekt und Leiter der Rechercheagentur „Forensic Architecture“.Doch dann passierte, was inzwischen fast immer passiert, wenn sich Stimmen zu Wort melden, die die israelische Regierung nicht mit Samthandschuhen anfassen und mit Klarheit ihren Krieg in Gaza kritisieren, dessen möglicher genozidaler Charakter derzeit Gegenstand der internationalen Gerichtsbarkeit ist. Ron Prosor spricht vom „Trainingscamp für Hamas-Anhänger“Volker Beck, der Vorsitzende der „Deutsch-Israelischen Gesellschaft“, die konservative „Werteinitiative“ und der israelische Botschafter Ron Prosor griffen die Veranstaltung an. Letzterer fragte Presseberichten zufolge den Präsidenten der Freien Universität in einer E-Mail: „Ist die Freie Universität ein Trainingscamp für Hamas-Anhänger?“ Das greifen Kampagnenjournalist*innen von Springer bis Tagesspiegel auf. Und wie bei jedem Konflikt dieser Art in den letzten Monaten wurde diese Linie von den höchsten Stellen der Berliner Landespolitik unterstützt: Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und die Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) griffen – am Ende erfolgreich – sowohl die Veranstaltung als auch die geplante Rednerin massiv an und übten so immensen politischen Druck auf die Freie Universität aus. Der an Holzschnittartigkeit kaum zu übertreffende Vorwurf dieser Koalition: Antisemitismus und Hamas-Unterstützung. Das Schema ist inzwischen bekannt, aber die Bedeutung des Problems dahinter muss dringend diskutiert werden. Einige (rechts-)konservative Akteure, die zu israelischen Kriegsverbrechen wenig Kritisches anzumerken haben, Medien mit einer jede noch so rechte israelische Regierung unterstützenden Haltung und politische Verantwortungsträger:innen wirken so zusammen, dass der entstehende Druck einen massiven Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit zur Folge hat.Hochschulautonomie – war gesternNach diesen Vorwürfen, bei diesem politischen Druck und noch dazu in Zeiten anstehender massiver Mittelkürzungen, so schien es, konnte FU-Präsident Günter Ziegler kaum mehr anders, als die Veranstaltung mit Francesca Albanese und Eyal Weizman in Präsenz abzusagen – begründet wiederum mit Sicherheitsbedenken weil, wie in München, zu viel aktivistisches Interesse an der Veranstaltung vermutet wurde. Ziegler versuchte seine Ehrenrettung noch durch das halbgare Angebot einer Online-Veranstaltung, die aber dem eigentlich angestrebten Austausch kaum hätte entsprechen können. Hochschulautonomie – war gestern.Wie schon bei der Räumung des Anti-Gazakriegs-Camps an der Humboldt-Universität oder an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Berlin wird ein dermaßen großer öffentlicher Druck aufgebaut, dass sich eine Hochschulleitung offenbar nicht in der Lage sieht, das vorher Verabredete aufrechtzuerhalten (so jetzt an der FU) oder hochschul-angemessene Formen von Diskurs und Streit zu organisieren oder zu verteidigen (bei den Berliner studentischen Protesten an FU, TU, HU, ASH).Nahostkonflikt: Es gibt kein Gut und BöseHier läuft ein autoritärer Anti-Antisemitismus aus dem Ruder. Der kennt und will keine sachliche Kritik mehr, die der widersprüchlichen und komplexen Situation der Proteste im Nahostkonflikt zweiter Ordnung auch nur ansatzweise angemessen wäre. Der politische Gegner wird mit keinen leichteren argumentativen Geschützen als den Vorwürfen des Antisemitismus und der Hamas-Verherrlichung angegriffen, sodass es kaum mehr möglich wird, über Gaza oder Palästina zu sprechen, ohne sich diesen Vorwürfen ausgesetzt zu sehen.Sicherlich gibt es an Albaneses Positionen und Äußerungen einiges zu kritisieren – so wie es auch bei den Uniprotesten zu durchaus problematischen Vorkommnissen gekommen ist. Das Verunmöglichen des Diskurses über Gaza und Palästina durch das Canceln von Versammlungen und Veranstaltungen aber wird eine Differenzierung zwischen pro-palästinensischer Arbeit und antisemitischen Angriffen nicht gerade fördern.Wenn auf der israelischen und „pro-israelischen“ Seite so strenge Maßstäbe angelegt würden wie auf der palästinensischen und „pro-palästinensischen“, wenn also jede zugespitzte Äußerung gegenüber Palästinenser:innen mit Rassismus-Schlagzeilen in den Leitmedien und wütenden Kommentaren aus der Politik gekontert würden, welche:r Vertreter:in des israelischen Staates könnte hierzulande eigentlich noch sprechen? Ron Prosor, der aktuelle Kronzeuge gegen Albanese, vermutlich nicht.Debatten werden so ganz praktisch unmöglich gemacht, und dabei sind gerade sie so wichtig bei diesem Thema und seiner Komplexität. Diese Komplexität erfordert zuerst die eigentlich fast banale Anerkennung, dass der Konflikt, in dem Albanese als Völker- und Menschenrechtlerin urteilt, religiöse, kulturelle, ökonomische, politische, koloniale, nationalistische, rassistische, antisemitische und viele weitere Dimensionen hat. Diese sind nicht mit einfachen Gut-Böse-Unterscheidungen zu erfassen und ebenso wenig mit der Leitunterscheidung antisemitisch/nicht antisemitisch.Wo, wenn nicht an einer UniversitätDer andauernde Versuch, Positionen mit deutlicher Kritik an dem Handeln der israelischen Regierung in diesem Konflikt auf Antisemitismus zu reduzieren, führt dazu, dass die Diskussion auf eine Metaebene ausweicht. Dann geht es nur noch um die Form der Kritik und der Diskurs der deutschen Staatsräson muss sich nicht mit der Sache selbst befassen: der Möglichkeit und Realität von Kriegsverbrechen, Segregation, rassistischer Formierung oder gar Völkermord aufseiten Israels, dem Deutschland – aus nachvollziehbaren historischen Gründen – ein Verbündeter sein möchte.Ein Bündnis aus verschiedenen Organisation, von Amnesty International Deutschland und medico international bis zur Allianz für Kritische und Solidarische Wissenschaft, dem Einstein-Forum und dem Wissenschaftskolleg zu Berlinwehrt sich gemeinsam mit propalästinensischen Initiativenin einem Aufruf gegen diesen symptomatischen Fall von Diskursverengung in der Nahost- und Antisemitismusdebatte in Berlin. Dieser Fall steht, so kritisieren sie, für die um sich greifende Verachtung von internationalem Recht und internationalen Organisationen ebenso wie für die rapide Erosion der Autonomie von Wissenschaft. Berechtigterweise fragen sie: Wo, wenn nicht an einer Universität, kann eine dezidierte und durchaus kontroverse Stimme wie die von Francesca Albanese der fragilen öffentlichen Debatte in Deutschland noch zugemutet werden?



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Von Veritatis

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