Nach der offiziellen Gedenkfeier in Hanau sind die Stadtverantwortlichen also über Emis Gürbüz empört. Sie wollen Angehörige, die sich nicht kritisch äußern. Dabei sollten lieber andere am Gedenktag schweigen


Nein, Emis Gürbüz zeigt keinen Dank gegenüber einer Stadt, in der ihr Sohn ermordet wurde

Foto: Tim Wegner/Imago


Vor dem Gedenktag ist nach dem Gedenktag. Das ist die bittere Realität der Überlebenden und Angehörigen der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau seit fünf Jahren. Die Betroffenen und ihre Mitstreiter*innen in der Stadt werden ihr Leben lang mit der Trauer, der Wut, dem Schmerz leben müssen.

Der deutsche Staat dagegen hatte seit dem Anschlag am 19. Februar 2020 genug Zeit, um seine selbstbezogene Inszenierung einer Erinnerung, seine Indifferenz und Mitschuld an der Gewalt ohne Scham zu zelebrieren. Der vorläufige Gipfel dieses staatlich orchestrierten Skandals wurde jetzt, pünktlich zum fünften Jahrestag, erreicht. Die Hanauer Stadtpolitiker von CDU, SPD und FDP wollen also „derlei Gedenkveranstaltungen“ nicht abhalten, weil sie die

l sie die Rede von Emis Gürbüz nicht aushalten. „Das künftige Gedenken“, so schreiben sie, sei „in kleinerem Rahmen durchzuführen“.Frau Gürbüz, Mutter des getöteten Sedat, hatte der Stadt lediglich vorgeworfen, was längst bekannt ist: „Der Mörder hatte Briefe geschrieben, doch die Stadt Hanau ignorierte sie. Die Stadt wusste, dass die Notausgangstür verschlossen war, und unternahm [nichts]. Deutschland und die Stadt Hanau schulden mir ein Leben.“Wann die Stadt Hanau Regeln für wichtig hält, und wann nichtAn dieser Stelle zunächst ein Blick hinter die Kulissen: Vergangene Woche, am 19. Februar 2025, war ich in Hanau als Reporter vor Ort. Morgens wohnte ich einem Gebet auf dem Hanauer Hauptfriedhof bei. Mittags wollte ich die offizielle Gedenkfeier in Anwesenheit deutscher Spitzenpolitiker*innen, darunter auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der Überlebenden und Angehörigen journalistisch begleiten.Zur Wahrheit gehört: Ich habe die Frist für die Akkreditierung um wenige Tage verpasst, das kann in diesen politisch hektischen Zeiten passieren. Beim Versuch, fünf Tage vor der Gedenkfeier eine Nach-Akkreditierung zu beantragen, landete ich bei einem Sprecher der Stadt Hanau. Er sagte am Telefon, dass es Regeln gebe, damit sie eingehalten werden. Er verweigerte stur eine Nach-Akkreditierung, obwohl diese simpel auszuhändigen war. Ich erwiderte spontan, dass es gut gewesen wäre, wenn die Stadt Hanau und der deutsche Staat als Ganzes die Regeln vor fünf Jahren eingehalten hätten. Der Sprecher zeigte sich empört. Ich legte auf. Die Parameter der deutschen ErinnerungskulturWarum erzähle ich diese Anekdote? Beim Wort „Regeln“ fiel mir abermals auf, dass der deutsche Staat Gedenken als bloßen bürokratischen Akt versteht: ohne politische Konsequenzen, selbstbezogen, orchestriert, schlicht als Selbstzweck. Das sind die Parameter der deutschen Erinnerungskultur, die sich nur darum kümmert, dass am Ende „Deutschland“ gut dasteht.Die staatstragenden Worte des Bundespräsidenten im Livestream der Gedenkfeier klangen dementsprechend nicht nur in meinen Ohren bedeutungsleer. Es scheint, dass die Stadt Hanau Gedenkfeiern für eines der dunkelsten Kapitel ihrer Stadtgeschichte wie einen Kindergeburtstag in der Kita organisiert: eine Sache, die über die Bühne muss. Kritische Stimmen sind nicht erwünscht. Anstatt am fünften Jahrestag gemeinsam zu klären, was endlich geändert werden müsste, damit von Rassismus betroffene Menschen mehr Sicherheit in dieser Gesellschaft bekommen, holten Lokalpolitiker in Hanau zum Gegenangriff gegen die trauernden Angehörigen aus. Emis Gürbüz, Mutter des ermordeten Sedat Gürbüz, sagte auf der Gedenkfeier folgende Worte: „Die Fehler, Versäumnisse und Fahrlässigkeiten der Stadt Hanau haben neun jungen Menschen das Leben gekostet.“Lokale Politiker halten Frau Gürbüz nicht aus: Sie wollen den „netten Ausländer“Gürbüz sprach dabei lediglich längst bekannte Fehler und Versäumnisse an – und kratzte damit am infantilen Selbstverständnis und Stolz lokaler Politiker einer Koalition der Dreistigkeit aus SPD, CDU und FDP. Als wäre das alles nicht genug, greifen die Verantwortlichen in Hanau nun eine trauernde, nachvollziehbar wütende Emis Gürbüz an. In einer Pressemitteilung der FDP Hanau vom 21. Februar forderte die Hanauer Koalition „Achtung und Respekt“, wenn man dasselbige wolle.Die Rede von Frau Gürbüz sei „wahrheitswidrig“ und werde zur „politischen Agitation“ genutzt. Sie verbreiten zudem die Behauptung, Gürbüz habe gesagt, dass sie Hanau und Deutschland hasse. Was laut Recherchen mehrerer Medien nicht stimmt. Dabei stellt sich die Frage: Warum hassen Vertreter dieses Staates eigentlich alle, die nicht ihrem Verständnis des netten Ausländers entsprechen? Placeholder image-1Die Liste der unterlassenen Hilfeleistung und Komplizenschaft ist lang und reicht von einem mutmaßlich polizeilich verrammeltem Fluchtweg an einem der Tatorte über den unzureichend besetzten Notruf am Tatabend bis hin zu einem Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag, der kaum Erhellendes zutage brachte. Die bezeichnenden Worte des ehemaligen hessischen CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier waren anschließend: „Beim nächsten Mal machen wir es besser.“Warum ist dieser rassistische Hass so stark, dass dieser Staat dafür sorgt, die Morde am Ende kleingeredet, sogar vertuscht werden? Morde ist hier bewusst im Plural gehalten, denn die Kontinuitäten der rechtsextremen Gewalt liegen auf der Hand: die Brandanschläge von Solingen und Mölln, der Terroranschlag am OEZ in München, der antisemitische und rassistische Terror von Halle, die NSU-Mordserie, die ohne das Zutun des deutschen Staates so nie hätte stattfinden können. Und das sind nur die bekannten braunen Flecken in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zurück nach Hanau: Lokalpolitiker stellen Emis Gürbüz’ Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft infrage. Die Information darüber war nicht öffentlich. Ein klarer Machtmissbrauch, ein Versuch der Einschüchterung gegenüber kritischen Stimmen: Deutsch kann nur jener werden, der diesem Staat huldigt. Dieser staatliche Widerstand gegen jede Kritik ist nicht neu, er hält konstant seit fünf Jahren an: SPD, CDU und FDP in Hanau, ein Großteil des politischen Establishments in Deutschland sind beleidigt. Warum? Die Überlebenden eines der schlimmsten Attentate der jüngsten Geschichte sind nicht dankbar. Danke sagen sollen sie für ein paar bedeutungslose Blumenkränze und für Gedenkfeiern, die ihre Namen nicht verdienen. Dieses Land tötet dein Kind und will, dass du dafür Applaus spendierst Nein, dieses Land hat Menschen wie Emis Gürbüz nicht verdient. Ich habe sie in den vergangenen fünf Jahren als einen liebevollen, melancholischen, nachdenklichen Menschen kennengelernt. Oft trägt sie ein T-Shirt mit den neun Gesichtern der Opfer von Hanau. Sie ist eine gebrochene Mutter, die nicht nur den Verlust ihres Sohnes Sedat verarbeitet, sondern laut vielen Mitstreiter*innen jeden Tag auf dem Friedhof an die Namen erinnert: Said Nesar, Hamza Kenan, Ferhat, Sedat, Fatih, Gökhan, Vili Viorel, Mercedes und Kaloyan. Beim Gebet am Morgen des fünften Jahrestags blieb Emis Gürbüz an jedem Grab, an jeder Gedenktafel der Opfer stehen, vergoss ehrliche Tränen des Schmerzes – so wie sie seit vielen Jahren jeden Tag. Währenddessen posierten Beamte des Polizeipräsidiums Südosthessen und Hanauer Lokalpolitiker vor den Kameras.Für sie ist das Gedenken, so erschien es mir, eine Show, ein lästiger Programmpunkt. Aus Respekt vor den Opfern und Angehörigen sollten sie aus dem Bild treten, ihre Posten räumen, um das nötige, integre und politisch effektive Gedenken in Hanau nicht mehr zu stören.



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Von Veritatis

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