Die EU benimmt sich nach dem Vance-Schock auf der Münchner Sicherheitskonferenz wie ein Junkie, der seine Sucht mit immer größeren Dosen desselben Giftes zu befriedigen sucht. Tatsächlich wäre jetzt Umdenken vonnöten
Der US-Präsident Gerald Ford (links) und der russische Staatschef Leonid Breschnew begrüßen sich bei der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975
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Vor den Augen der Welt fällt das Kartenhaus der europäischen Ukraine-Politik gerade in sich zusammen. Deren Architekten, die in Riad nicht einmal mehr am Katzentisch der Gespräche USA/Russland Platz nehmen durften, machen ungerührt weiter und verlangen unbeirrt „more of he same“; noch härtere Sanktionen gegen Russland; und noch mehr Waffen für die Ukraine – was immer es kostet.
In Namen dieser Unbeirrbarkeit wurde Kiew soweit aufgerüstet, dass es der russischen Invasion standhalten konnte. Gleichzeitig wurde damit auch jegliche Diplomatie über Bord geworfen. Einen „Plan B“ zu den herbeiphantasierten Kriegszielen, denen zufolge Russland diesen Krieg verlieren müsse, mindestens aber nicht gewinnen dürfe, gibt es a
halten konnte. Gleichzeitig wurde damit auch jegliche Diplomatie über Bord geworfen. Einen „Plan B“ zu den herbeiphantasierten Kriegszielen, denen zufolge Russland diesen Krieg verlieren müsse, mindestens aber nicht gewinnen dürfe, gibt es auf europäischer Seite bis heute nicht.Noch verstecken die EU-Wortführer ihren Realitätsschock hinter verbaler KraftmeiereiWunschdenken ist in der Außen- und Sicherheitspolitik sehr schnell lebensgefährlich. Werteorientiertes Wunschdenken klingt nur besser, ist aber nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil. Lange haben sich relevante Teile der politischen und medialen Eliten in der EU darin gefallen, den Trumpismus in der amerikanischen Außenpolitik zu bespötteln. Ernsthaft mit ihm konfrontiert, fallen sie jetzt nahezu widerstandslos um. Kein Deal über die Köpfe der Ukrainer hinweg? Keine Gebietsabtretungen an Russland? Ukrainische NATO-Mitgliedschaft? EU-Beitritt? Kiews Noch-Präsident Selenskyj ahnt längst, dass mit diesen Versprechen von gestern künftig kein Staat mehr zu machen sein wird. Noch verstecken die EU-Wortführer ihren Realitätsschock hinter verbaler Kraftmeierei und hohlen Phrasen von geradezu Orwellscher Dimension. So wirbt die deutsche Noch-Außenministerin Annalena Baerbock auf grünen Wahlplakaten mit einem Spruch, der jedem Poesiealbum Ehre antun würde. „In Europa darf nur einer herrschen: der Frieden.“ Und promotet zugleich ein europäisches Aufrüstungsprogramm von über 700 Milliarden Euro, das den sicherheitspolitischen Rückzug der USA kompensieren soll und der US-Rüstungsindustrie volle Auftragsbücher verspricht. So soll Europa in die Lücke springen, die der Trumpismus auf dem alten Kontinent reißt? More of the same? Mit dem feinen Unterschied, dass die Rechnung nicht mehr in Washington, sondern in Berlin, Warschau, London und Paris auf den Tisch flattern wird. Von einem wirklichen Politikwechsel ist in den europäischen Zentralen ausdrücklich keine Rede. Ganz im Gegenteil. Feindbilder und Narrative bleiben intakt: Weil Putins Imperialismus keine Grenzen kenne, verteidige Europa in der Ukraine seine Freiheit. So wie Deutschland einst die seine am Hindukusch verteidigt hat? Verpasste Chancen nach dem Kalten KriegWenn die Europäer in ihrem eigenen Haus mehr Verantwortung übernehmen sollen und müssen, wäre es angebracht, sich bei diesem kostspieligen Paradigmenwechsel auf die eigenen Interessen, Traditionen und Instrumente zu besinnen. Wie anders sollte die EU ihr Gewicht in einer neuen Weltordnung bestimmen und politisch wirksam machen können? Dazu wäre es durchaus dienlich, sich einige Lehren aus verpassten Chancen der letzten Zeitenwende nach dem Kalten Krieg zu vergegenwärtigen. Gemeint ist das Versagen der Europäer, als es galt, eine europäisch geprägte Sicherheitsarchitektur im Geiste der KSZE durchzusetzen. Stattdessen unterwarf man sich einer NATO-Erweiterung unter amerikanischer Hegemonie. Genau genommen rächt sich mit der Lage in der Ukraine die westliche Hybris eines vermeintlichen Sieges im Kalten Krieg. Der endete eben nicht mit einem Sieg der NATO, sondern durch die politisch kontrollierte Implosion des sowjetischen Imperiums und den weitgehend friedlichen Macht- und Systemwechsel in den osteuropäischen Satellitenstaaten des Warschauer Vertrages. Dieser historische Zeitenwechsel begann u. a. mit dem KSZE-Prozess und der legendären Schlussakte von Helsinki 1975, als eine heute geradezu visionär anmutende Sicherheitsarchitektur über Bündnisgrenzen hinweg etabliert wurde. Mit den drei „Körben“ des KSZE-Prozesses verständigten sich Ost und West auf Essentials gemeinsamer Sicherheit. Und das im Angesicht einer systemischen Konkurrenz, die in ihrer nuklearen Dimension mindestens ebenso gefährlich war wie die heutige Bedrohungslage. Wie viele irrsinnige Kriege hätten Europa und der Welt seit 1990 erspart werden könnenMan fragt sich 50 Jahre nach Helsinki, wie und warum es möglich und am Ende auch erfolgreich war, dass man in Westeuropa und in den USA mit einem sowjetischen Führer wie Leonid Breschnew über gemeinsame Sicherheit, unverletzliche Grenzen, Wirtschaftskooperation, Umweltschutz und Menschenrechte verhandeln konnte, der mit der Intervention, 1968 in der ČSSR bewiesen hatte, dass eine nach ihm benannte Doktrin jegliche Insubordination im eigenen Herrschaftsbereich ausschloss? Warum sollte ein solcher Sicherheitsdialog ungeachtet aller Differenzen mit einem postsowjetischen Putin-Regime heute nicht auch möglich sein. Und wenn doch: Unter welchen Voraussetzungen? Fragen darf man aber auch, wie viele irrsinnige Kriege Europa und der Welt seit 1990 erspart geblieben wären und welche Entwicklungsressourcen hätten freigesetzt werden können, wenn das Fenster der Möglichkeiten nach 1990 in eine andere Richtung geöffnet worden wäre. Wenn die sicherheitspolitische Reise nicht zu einer restaurativen und konfrontativen NATO-Expansion nach Osten und/oder„out of area“ geführt hätte, sondern im Sinne der Charta von Paris (1990) in ein neues, kooperatives Sicherheitssystem? Mit der Mitte der 1990er Jahre in die OSZE übergehende KSZE hätte es die weltweit größte regionale Sicherheitsorganisationen gegeben, dies zu verankern. Wenn die Trump-Administration die EU tatsächlich sicherheitspolitisch im Regen stehen lässt, wäre es mehr als fahrlässig, diese Herausforderung nicht als Weckruf zu begreifen und zum gemeinsamen europäischen Vorteil anzunehmen. Das würde dann für eine neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bedeuten, sich von ideologischen Dogmen der jüngsten Vergangenheit zu lösen und neue Pfade nach Moskau zu suchen. Egal wie viel Porzellan in den deutsch-russischen Beziehungen in jüngster Zeit zerschlagen wurde: Es gibt tradierte Kanäle, die zwar beschädigt sind, aber wieder etabliert werden können. Nicht als deutsch-russischer Alleingang, aber sehr wohl im Sinne einer transatlantischen Emanzipation europäischer Außen- und Sicherheitspolitik. Die käme zwar Jahrzehnte zu spät, aber im Augenblick vielleicht gerade noch rechtzeitig.