Wer arm ist, wenig verdient, sich vor Inflation sorgt, wählte zu großen Teilen auch diesmal die AfD. Weder die Linkspartei noch das BSW haben es geschafft, konsequent für die arbeitende Klasse einzutreten. Wie sich das ändern könnte
Unter ihnen vermutlich einige Arbeiter, die Linke und BSW nicht erreicht haben
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Zu den stärksten linksliberalen Glaubenssätzen gehörte jahrelang die Auffassung, die AfD sei keine Arbeiterpartei. Nach dieser Bundestagswahl bleibt davon nichts mehr übrig. Wer aufgrund seiner ökonomischen Situation eigentlich links wählen müsste, hat sich bei dieser Wahl mehr denn je für die extreme Rechte entschieden. Bei Menschen in schlechter finanzieller Lage erhielt die AfD 39 Prozent der Stimmen, bei Arbeiterinnen und Arbeitern 38, bei Menschen mit formal geringer Bildung sind es 29 Prozent.
85 Prozent der AfD-Wähler gaben an, in Deutschland gehe es ungerecht zu, bei den Wählern der Linkspartei sind es 66 Prozent. 75 Prozent derer, die rechts gewählt haben, machen sich Sorgen wegen der Preiserhöhungen und fürchten, das
zent derer, die rechts gewählt haben, machen sich Sorgen wegen der Preiserhöhungen und fürchten, dass sie bald ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können. Bei den Wählern der Linkspartei sind es 60 Prozent – gleich vier Themenkomplexe (Demokratie, Klima, Russland, Trump) bereiten der linken Wählerschaft deutlich mehr Kopfzerbrechen als sozialpolitische Belange. Auch die Angst vor Altersarmut und vor einer Verschlechterung des Lebensstandards ist bei keiner Wählergruppe so ausgeprägt wie bei den AfD-Anhängern.Wird Kaiserslautern einmal der Anfang gewesen sein?Zum ersten Mal hat die AfD auch in westdeutschen Wahlkreisen bei den Zweitstimmen den Spitzenplatz erreicht – in Gelsenkirchen und Kaiserslautern. Zwei Städte, in denen die Pro-Kopf-Verschuldung besonders hoch und die soziale Not außerordentlich groß ist. Das ist ein Epochenbruch, von dem wir im schlimmsten Fall in einigen Jahren sagen werden, es sei erst der Anfang gewesen. Denn dass ein echter Regierungswechsel nicht ansteht, dürfte vor allem den AfD-Wählern klar sein. Friedrich Merz ist in finanz- und sozialpolitischer Hinsicht lediglich eine brutalere Variante von Olaf Scholz. Dass mit der SPD die größte Wahlverliererin einfach in der Regierung bleiben wird, macht es nicht besser. Zumal es zwischen Union und SPD gerade in Fragen der Außenpolitik und der Aufrüstung keine und in Fragen der Sozialpolitik nur geringe Differenzen gibt.Die absurden Mehrausgaben für das Militär wird die neue Bundesregierung durch Sparpolitik im Sozialen gegenfinanzieren. Da interessiert es die baldigen Machthaber auch nicht weiter, dass Studien seit Jahren europaweit einen untrennbaren Zusammenhang feststellen zwischen Sparpolitik und dem Erstarken rechter Parteien. So weit, so erwartbar. Doch die beiden größten Rätsel beim Wahlverhalten betreffen zwei Parteien, die einander zu erbitterten Feinden geworden sind: die Linke und das BSW. Warum zieht nicht die Linkspartei jene Klientel an, die nun AfD gewählt hat? Und weshalb ist das BSW so krachend gescheitert mit seinem Ziel, Wählerstimmen der AfD an sich zu binden?Die Linkspartei zählt zu den Gewinnerinnen dieser Wahl – zumindest gemessen daran, wie katastrophal sie bei den Landtagswahlen im Osten 2024 abgeschmiert ist. Doch ist die Partystimmung, in der sich die Partei gerade befindet, wirklich angemessen? Überdurchschnittlich abgeschnitten hat die Linkspartei bei Frauen, Menschen mit formal hoher Bildung und bei jungen Leuten in Großstädten. Gewonnen hat sie fast gar nicht von der AfD und auch nicht aus dem riesigen Pool der Nichtwähler, sondern von der SPD und vor allem von den Grünen – jener Partei also, die viele Jahre lang fast ausschließlich von wohlhabenden Linksliberalen gewählt wurde. Das deutet darauf hin, dass es die klare Haltung in der Migrationsfrage war, die der Linken zu diesem Triumph verholfen und ihr ein Alleinstellungsmerkmal beschert hat. Merz sei Dank.Die Linkspartei hat gewonnen – aber nicht im Osten und nicht bei den Alten Im Osten hat die AfD fast jeden Wahlkreis gewonnen, die Linke ist dort bei Weitem nicht mehr so stark wie in früheren Jahren. Vor allem ältere Menschen, denen eine hohe Parteibindung nachgesagt wird, haben sich massenweise von der einstigen „Kümmererpartei“ abgewandt. Nun ist nicht nur das Wahlverhalten jüngerer Menschen sehr volatil, diese Stimmen könnten beim nächsten Mal also wieder an eine in der Opposition regenerierte Grüne Partei zurückwandern. Die deutsche Gesellschaft altert auch rasant. Wer die betagten Wählergruppen nicht erreicht, wird es mittelfristig schwer haben, sich in den Parlamenten zu halten.Umso erstaunlicher ist es, dass die Linkspartei in diesem Wahlkampf das Thema „Rente“ kaum beachtet hat. Darüber immerhin sprach Sahra Wagenknecht viel, ehe die Migration alles überlagerte. Doch der Pflegenotstand, von dem Jüngere nichts wissen wollen und von dem wohlhabende Alte nichts wissen müssen, blieb bei beiden Parteien ausgeblendet. Ebenso Fragen wie Wohnen, Mobilität, Steuern, Gesundheitsversorgung, Klima, Preisgestaltung und Bildung. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie betrifft alle Alterskohorten. Doch der Mangel an pädagogischem Fachpersonal in Kitas und Grundschulen, der sich über chronische Unterfinanzierung und katastrophale Arbeitsbedingungen erklärt, ist augenscheinlich für keine Partei ein vorrangiges Problem.Das Beackern dieser Themen hätte ein Alleinstellungsmerkmal des BSW sein können. Im Gegensatz zur Linkspartei, die in ihrer jüngeren Geschichte über Regierungsbeteiligungen in Bundesländern an Sozialabbau aktiv mitgewirkt hat und etwa für die hohen Mieten in Berlin wesentlich mitverantwortlich ist, hätte die neue Partei mit dem prominenten Zugpferd Sahra Wagenknecht in dieser Hinsicht einen harten Anti-Establishment-Kurs fahren und dabei den Schulterschluss mit den Gewerkschaften bei klarer Klassenpolitik für die Beschäftigten suchen können.Linke und BSW haben beide den Klassenkampf kulturalisiertSie verzichtete bewusst darauf und fokussierte sich auf die Sorge um den wirtschaftlichen „Mittelstand“, wobei dieser Begriff eine ideologische Färbung hat, die auch jene längst sehen, die in ihrer Alltagssprache nicht von „ideologischer Färbung“ sprechen. Ist es doch ein nicht mehr besonders gut gehütetes Geheimnis, dass damit in aller Regel weniger die kleine inhabergeführte Bäckerei um die Ecke gemeint ist, sondern millionen- und milliardenschwere Unternehmen, die sich durch ganz legale Tricks vor der Erbschaftssteuer drücken.Linkspartei und BSW eint, dass sie sich auf einen monothematischen Wahlkampf eingelassen haben, der den Klassenkampf kulturalisiert hat. Die Migrationsfrage blieb entkoppelt von der Sozialen Frage, wovon niemand mehr profitieren konnte als die AfD. Dass Heidi Reichinnek in ihrer feurigen Rede im Bundestag zum „Zustrombegrenzungsgesetz“ die Faschisten faschistisch genannt hat, das schloss die Reihen hinter ihr und trieb einige Grüne herüber. Hätte sie mit ihren Genossen die großen Bühnen genutzt, um mehr Therapieplätze für Traumatisierte zu fordern (was sogar kleingedruckt im Linke-Programm steht) oder zu sagen, dass die Angst vieler Menschen vor mehr Migration nicht in jedem Aspekt unbegründet ist, dann hätte das auch vielen eingeleuchtet, die bislang nicht auf die Idee kamen, die Linke zu wählen. Das wäre anstrengender gewesen als das Unterhaken zur Rettung „unserer Demokratie“ vor dem Konrad-Adenauer-Haus in Berlin, es hätte aber im Erfolgsfall definitiv ein deutlich zweistelliges Ergebnis eingebracht.Den Nimbus der Protestpartei dagegen hat das BSW einstweilen verloren, weil es bei erstbester Gelegenheit in zwei Landesregierungen eingetreten ist, anstatt etwa die Tolerierung von Minderheitsregierungen in Erwägung zu ziehen. Mit den „Systemparteien“ CDU und SPD sofort gemeinsame Sache zu machen, das empfanden offenbar viele Menschen in Ostdeutschland als Verrat. So etwas wird der AfD noch auf Jahre hinaus erspart bleiben, weil aus guten Gründen niemand mit ihr koalieren will. Eine Zukunft wird das BSW nur als populistische Kraft haben, die sich nicht zur Steigbügelhalterin der Etablierten degradieren lässt und sich nicht scheut, die direkte Konfrontation mit dem Kapital zu suchen. Eben das, womit Sahra Wagenknecht und vor ihr Oskar Lafontaine über mehrere Jahre hinweg die Linke zu einer Option für die sozial Benachteiligten gemacht hatten.Die Linkspartei ist keine Anti-Establishment-Partei mehrDie Linkspartei hat sich mit dem Abgang des Wagenknecht-Lagers im Herbst 2023 endgültig gegen ein Profil als Anti-Establishment-Partei entschieden. Jan van Aken hat in beinahe jedem Interview betont, dass er sehr gerne im Bund mitregieren würde, wenn die anderen dazu bereit wären. Allein das signalisiert nicht etwa beinharte soziale Opposition, sondern die grundsätzliche Bereitschaft zu Kompromissen mit Parteien, die seit Jahrzehnten die sozialen Sicherungssysteme mit der Abrissbirne bearbeiten und sich davon nicht durch eine Acht-Prozent-Partei in einer Regierungskoalition würden abbringen lassen.Gegen die Staatsräson einer bedingungslosen Unterstützung Israels wird sich die Linkspartei nicht stellen und auch keine geschlossene Haltung gegen die bevorstehende Aufrüstung entwickeln, weil es unter den Großkopferten der Partei nach wie vor einige gibt, die bei solchen Themen den Positionen der Grünen näherstehen als ihrem eigenen Grundsatzprogramm. Dieses alte Dilemma zwischen Reformwillen und Revolutionslust wird die Linke also nicht los. Wähler der AfD wird sie nur erreichen, wenn sie viel mehr Mittel als bislang in das steckt, was auf Sparflamme bereits existiert und sicher auch einen Teil zum Wahlerfolg beigetragen hat: Sozialberatung, Rechtshilfe, Aufklärung, also Hilfe im alltäglichen Kleinklein für Menschen in sozial schwieriger Lage außerhalb der urbanen Zentren.Wird es mehr Ines Schwerdtner oder Jan van Aken geben? Und mehr Wagenknecht oder mehr Mittelstandsfreunde?Die Frage ist nur, ob sich in der Partei jene durchsetzen können, die gern diesen Weg gehen wollen. Wird es also mehr Ines Schwerdtner geben oder mehr Jan van Aken? Ähnlich ist es beim BSW: Wenn Sahra Wagenknecht an Bord bleibt, wird sie dann ihre wirtschaftspolitische Kompetenz einsetzen und sie in ein kompromisslos auf soziale Gleichheit zielendes Programm gießen oder den Freunden des „Mittelstands“ das Feld überlassen? Von der höchsten Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl seit 1990 hat die AfD profitiert – und das BSW. Diese junge Partei hat nur ein Jahr nach ihrer Gründung knapp fünf Prozent erreicht, was sie zu Recht als Erfolg verbucht. Jetzt aufzugeben, würde eine Repräsentationslücke dauerhaft offenlassen, die zu schließen dringend erforderlich wäre.Am Ende, und das ist eine schöne Pointe, könnten die erbittert verfeindeten Gegner BSW und Linkspartei doch noch den Weg zu einer friedlichen Koexistenz finden in einem politischen System, dessen Drift ins Autoritäre und Faschistische beide verhindern wollen. Vielleicht, und das wäre wirklich der bestmögliche Fall, etabliert sich Die Linke als Grünen-Kleinmacherin und das BSW als AfD-Kleinmacher. Dafür müssen beide Parteien jedoch aufhören, in je eigener Weise ein „großes Wir“ für „unsere Demokratie“ einzufordern, sondern die Klassengesellschaft antagonistisch denken. Dort draußen tobt kein Kampf zwischen Gut und Böse, sondern einer zwischen Kapital und Arbeit. Die Menschen machen ihre eigene Geschichte. Im Guten wie im Schlechten.