Petra Gehring untersucht die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Moral und erzählt in ihrem Buch „Biegsame Expertise“ die spannende und zugleich problematische Geschichte der Bioethik. Im Interview spricht sie über ihre Forschung


Epizentren ethischer Konflikte: Intensivstationen während Corona

Foto: Ilvy Njiokiktjien/VII/Redux/Laif


Knapp zwei Jahrzehnte ist es her, dass die Darmstädter Philosophin Petra Gehring die Frage stellte Was ist Biomacht? (Campus 2006). Nun hat sie eine umfangreiche Fortsetzung vorgestellt, in der sie unter dem Titel Biegsame Expertise die Entstehung der bioethischen Politikberatung in Deutschland untersucht. Bioethik, so zeigt sie, geht einen Weg von der Wissenschaft zur Moral und ist somit problematisch – denn kann Wissenschaft den Anspruch haben, moralisch verbindliche Ratschläge zu geben?

der Freitag: Frau Gehring, in Ihrem Buch „Biegsame Expertise“ geht es um Bioethik und deren Entwicklung in Deutschland. Was ist Bioethik und was macht sie als Expertise brisant?

Bioethik versteht sich als „angewandte“ Ethik. Eben das ist zur Zeit ihrer Entstehung

eht sich als „angewandte“ Ethik. Eben das ist zur Zeit ihrer Entstehung – wir reden von den 1970er und 1980er Jahren – etwas ganz Neues. Sehr verkürzt gesagt, unterschied man bis zu dieser Zeit „Ethik“ – das wissenschaftliche Nachdenken über Moral – von der Moral selbst, also von dem, was wir jeweils im Alltag an Wertungen verbindlich finden. Programme der Ethik-Anwendung laufen nun aber darauf hinaus, in der Wissenschaft entwickelte Konzepte in den Alltag hinein auszurollen, um sie dort mehr oder weniger direkt verbindlich zu machen. Dieser Anwendungs-Anspruch wirft sowohl Fragen nach seiner Begründbarkeit als auch Machtfragen auf. Dies – und natürlich, warum Ethik-Expertise in historisch kurzer Zeit so erfolgreich wurde, hat mich interessiert.Bioethik scheint, so denkt man beim Lesen des Buchs, ein Zwitterwesen zu sein: Sie ist einerseits Philosophie, Reflexion über moralische Normen, andererseits aber Politikberatung. Sie setzt selbst Normen und erarbeitet Empfehlungen für Politik und Rechtsprechung. Tut das der Bioethik gut?Sie lebt davon. Ich variiere aber mal die Frage: Tut die allzu direkte Idee des „Lösens“ insbesondere technologiebedingter Probleme der „Ethik“ in einem klassischen, insbesondere philosophischen oder auch einfach nur wissenschaftlich seriösen Wortsinn gut? Ich denke nein. Wenn Fachleute vorgeben, die volle Objektivierungsschleife der Wissenschaft im Rücken zu haben, um aber dann verkappt eine bestimmte Moral zu predigen, dann ist das schwierig.Was genau macht denn dann das „Biegsame“ der Bioethik aus?Die Etablierungsphase der Bioethik in Deutschland war eine wilde Zeit voller Debatten über Gentechnik, Fortpflanzungsmedizin, Sterbehilfe, den Zusammenhang von Organentnahmen und Hirntod sowie überhaupt über die Rolle von Forschung in der Medizin. Hier entsteht angewandte Ethik aus einer Fülle unterschiedlicher Visionen und Interessen. Auch verschiedene akademische Disziplinen, die Medien und Protestbewegungen waren beteiligt. Das Zauberwort „interdisziplinär“ hatte hier eine wichtige Vermittlerfunktion. Mit dem Stichwort „biegsam“ will ich nicht andeuten, damals habe seriöse Ethik sich quasi ideologisch verbiegen lassen. Ich greife vielmehr den eigenen Anspruch der Bioethik auf: Sie will keine großen Theorien, sie will nur mehr wenigen, faustregelartigen „Prinzipen“ folgen, sie will in den öffentlichen Medien populär auftreten, die Bürgerinnen und Bürger erreichen – und natürlich hält sie sich ihre eigene Flexibilität zugute. Die entstehende „Biegsamkeit“ betrifft die vielen Ambivalenzen der Bioethik als Diskurs. Freilich sind bioethische Auseinandersetzungen auch von Kompromissbildungen geprägt – und darauf sind Bioethikerinnen und Bioethiker durchaus stolz. Das ist ein interessanter Punkt, der unterstreicht, dass wir es mit einem Mischphänomen aus Wissenschaft und Nichtwissenschaft zu tun haben: Kompromissbildung ist keine wissenschaftliche Zielstellung.Das Material, an dem Sie Ihre Argumentation entwickeln, stammt aus den Jahren 1970 bis 2010. Deshalb kommen Begriffe wie Pandemie, Impfung, Corona nicht vor. Aus Ihrer heutigen Sicht: Sind das Themen der „biegsamen Expertise“ der Bioethik?Sicher. Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist angewandte Ethik fest etabliert, und auch in der Pandemie haben sich ja Ethikgremien und bioethische Expertinnen und Experten vielfach zu Wort gemeldet. Der Zeitdruck war damals allerdings enorm. Nach meiner Wahrnehmung hat das zu einer insgesamt dann doch eher politisch-administrativ ausgerichteten Diskussionsdynamik geführt. Zudem war einfach viel Bedarf an naturwissenschaftlicher Grundlagenklärung, auch an Statistik-Know-how und an Fakten-Checks, etwa rund um Impffolgen. Vielleicht hat die Bioethik in dieser Zeit sogar geschwächelt. Ich war zum Beispiel überrascht, dass es zur Rolle der Patientenverfügungen bei der Frage der Beatmung auf Covid-Stationen so wenig selbstkritische Diskussionen gab. Denn ich glaube, nicht alle, die solche Dokumente mit dem Wunsch auf Verzicht bestimmter lebenserhaltender Maßnahmen besitzen, hatten sich klargemacht, dass sie im Falle einer Triage-Situation möglicherweise zu denjenigen gehören werden, die man nicht beatmet.Sie haben ein ganzes Kapitel über die Macht der Bioethik geschrieben. Welche Macht hat sie denn?Sie ist zum einen institutionell fest verankert, durch Regelwerke, Verfahren, Gremien und auch Teil der Professionalität etlicher Berufe. Zum anderen ist sie im Bildungssystem und öffentlich präsent: Kinder lernen in der Schule, was ein ethisches Dilemma ist, wir finden die Bioethik im Feuilleton, in TV und Kino, im Netz. Sie hat eine gewisse wissenschaftliche Relevanz – unter anderem als Taktgeberin für Themen. Und wir finden die Bioethik natürlich im politischen Raum, im Vor- und Umfeld von Gesetzgebung. Aber auch ökonomische Versprechen, die wir mit neuen Technologien verbinden, werden regelmäßig „ethisch“ gerahmt – etwa, wenn es um die „Chancen“ geht, die mit neuen Möglichkeiten verbunden sein könnten. Hier hat Ethik durchaus die Macht, sowohl zu warnen als auch zu beruhigen. Interessanterweise tut sie meist beides zugleich. Dadurch entsteht dann der Effekt, dass wir die Gefahren neuer Technologien nicht zuletzt deshalb für beherrschbar halten.Ist das problematisch?Bioethik ist aus meiner Sicht jedenfalls eher eine biopolitische Ermöglicherin, als dass sie Weichenstellungen verhindern würde.In Deutschland würde den meisten Menschen beim Thema bioethische Expertise und Politikberatung wohl sogleich der Deutsche Ethikrat einfallen und auch in Ihrem Buch kommt er oft vor. Wie beurteilen Sie diese Einrichtung aus der Sicht Ihrer Studie?Der Ethikrat wurde in Deutschland, verglichen mit ähnlichen Gremien in Europa oder den USA, relativ spät aus der Taufe gehoben, 2001. Damals war eine heftige Kontroverse um die Forschung an embryonalen Stammzellen in Gang. Gerhard Schröder stellte als Kanzler das Gremium zusammen und plötzlich war es mandatiert. Eine noch „politischere“ Geburt eines Gremiums ist kaum denkbar – was seinerzeit heftige Kritik auslöste. 2007 wurde er dann umbenannt, aus dem „Nationalen“ wurde der „Deutsche“ Ethikrat, und vor allem kann nun auch das Parlament Mitglieder nominieren. Dennoch lassen sich an der typischen Struktur von Ethikrat-Empfehlungen einige Schwierigkeiten der angewandten Ethik sehr schön zeigen. So geht es in vielen Punkten mehr um juristische Fragen, als sich das die Beteiligten etwa aus Theologie, Medizin und Philosophie eingestehen. Des Weiteren endet eine typische Ethikrat-Position zumeist gespalten. Ähnlich einem Verfassungsgerichtsurteil. Schließlich ist es eine spannende Frage, wie der Ethikrat seine Agenda setzt. Nicht gut ist diese Mischung aus bloßem Reagieren oder aktivem Trendsetting. Und zuweilen gewinnt man den Eindruck, dass dem Ethikrat die Themen ausgehen, weswegen er sich inzwischen ja auch eher „digitalethisch“ betätigt.Sie sind ja auf technikphilosophischem Gebiet seit Langem unterwegs. Was wären denn aus dieser Perspektive wichtige Themen der Digitalethik?Grundsätzlich rate ich zu „harten“ rechtlichen Regeln, „Digitalethik“ ist ein zahnloser Tiger. KI droht an vielen Stellen den Invest in Bildung und berufliches Erfahrungswissen überflüssig zu machen. Man bietet den Leuten eine Art maschinelles Exoskelett. Die Zeit für echte Schulbildung, Erwerb von Schreib- und Lesekompetenz, spart man ein. KI macht Arbeitsplätze entbehrlich oder billiger. Derzeit beruhen die Systeme, urheberrechtlich, vielfach auf Datendiebstahl. Und man wird sich im Bereich Text-KI einfach an schlechte und sinnleere Sprache und einen hohen Prozentsatz an Fehlern gewöhnen. „Fake“ und Imitation individueller Stimmen, Handschriften, künstlerischer Signaturen – da müsste längst das Recht aktiv werden. Und sollten KI-Anbieter anfangen wollen, ihre Nutzer ideologisch zu beeinflussen – was leicht möglich wäre –, würde ich erneut sagen: Kein Fall für Ethik mehr. Sondern ein politischer und rechtlicher Skandal.Placeholder image-1Petra Gehring geboren 1961, ist Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt. Biegsame Expertise. Geschichte der Bioethik in Deutschland (1.343 S., 78 €) ist in der Reihe Suhrkamp Wissenschaft erschienen und gilt als das neue Standardwerk zur Bioethik



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Von Veritatis

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